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Sechstes Capitel.

Waldeinsamkeit im Winter.

Regnerische Herbsttage enden oft mit einem Abend, wo sich der Himmel aufklärt und ein rother Streifen am westlichen Horizont die scharfe, gereinigte Luft verkündet, die nun bald den ganzen Winter bringen wird.

Ein solcher rother Streifen lag weit über die Ebene hin, die sich vom Ullagrunde immer mehr niedersenkte und nur noch bei Plessen und Hohenberg einmal in die Höhe stieg.

Louis konnte dem Drange nicht Einhalt thun, sich über diesen Empfang und diese beiden Wesen, Vater und Tochter, mit voller Theilnahme auszusprechen. Er sagte, wenn Selma in dem Geiste ihres Vaters reife, müßte sie ein weibliches Ideal werden.

Es war nicht ganz der Widerschein des Abendhimmels, daß Oleander's Wange bei diesen Worten dunkel erglühte.

Da Sie Dichter sind, sagte Louis, haben Sie in Ihrer Schülerin eine Muse, die Sie zu manchem Verse begeistern wird. Darf ich Sie nicht bitten, mir einmal einige Mittheilungen Ihres Talentes zu machen?

Besuchen Sie mich in einer Abendstunde, sagte Oleander. Am Tage hab' ich oft in der Frühe die Plessener Schule zu besuchen, an zwei Wochentagen ist Religionsunterricht, dann fahr' ich auf den Ullagrund, finde Abends heimgekehrt noch manche amtliche Pflicht, Samstags bereit' ich mich auf meine Predigt vor, so kann ich nur des späten Abends mich mit dem Niederschreiben der Verse beschäftigen, die mir freilich schon den ganzen Tag wie mouches volantes vor den Augen tanzen.

Suchen oder finden Sie Ihre Ideen? fragte Louis, dem es lehrreich war, in die Werkstatt einer Kunst zu blicken, die er mehr als Naturalist und nur des Tendenzzweckes wegen trieb. Man hatte ihm auch schon den Unsinn beweisen wollen, daß die Tendenz mit der Poesie unvereinbar wäre oder die Schwingen des Talentes nicht in reine Sphären tragen könne.

Ich suche die Ausführung, antwortete Oleander, aber ich finde die Veranlassung. Beim Ausführen muß der Verstand helfen. Das Finden ist zufällige Anregung. Ich möchte diesen Zustand mit dem Blick in den Nachthimmel vergleichen, wo plötzlich von den Sternen uns ein Lichtglanz abzufallen scheint. Die besten Gedichte müssen solche Sternschnuppen sein.

Aber im August und November, sagte Louis nicht ohne Feinheit, fallen die Sternschnuppen mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Dann muß es Gedichte geben, man mag wollen oder nicht. Ist nicht die Liebe eine solche ewige August- und Novembernacht des Dichters?

Oleander, der eine tiefe Neigung für Selma gefaßt zu haben schien, schwieg fast verlegen.

Nach einer Weile wiederholte er seine frühere Aufforderung:

Wenn Sie noch eine Weile bei uns bleiben, kommen Sie einmal des Abends auf mein Stübchen. Ich will Ihnen dann etwas von meinen Versen lesen. Das Beste wird wol vorläufig daran sein, daß ich sie alle sehr zierlich in ein Buch eintrage, das ich früher für gelehrte Zwecke bestimmte. Da steht immer eine lateinische Phrase auf dem Anfang des Blattes und hinterher folgen meine deutschen Reimereien.

Das erinnert mich, sagte Louis, an jenen jungen Mönch, den die Brüder seines Klosters zum Vorsteher der Bücherei gemacht hatten. Er saß unter all' den heiligen Werken und sollte sie durch Abschriften noch vermehren. Am Fenster vor den bunten Scheiben stand ein Lindenbaum, dessen Zweige schattig und kühlend in die Bücherei fielen. Da stand sein Tisch, da am Fenster sollte er schreiben. Nun aber kamen die jungen, hübschen Mädchen am Kloster vorüber und Alle grüßten den jungen Schreiber. Wie gern hätt' er sie aufgehalten! Wie gern mit ihnen geplaudert! Von seiner Liebe durfte der Arme ja nicht sprechen und doch plauderte er so gern mit der Jugend und der Schönheit. So suchte er sie anfangs mit dem Lindenbaum zu fesseln und pries ihn als so kühl und schattig. Setzt Euch doch! Aber sie gingen bald wieder fort, die jungen Mädchen. Dann pries er den Gesang der Vögel in dem Baume. Aber sie zwitscherten nicht gerade dann immer, wenn die hübschen Mädchen kamen. Da nahm er die alten Legendenbücher mit den bunten kostbaren Buchstaben und den herrlichen Heiligen auf Pergament gemalt. Jede, die nun kam und vorüber wollte, fragte er: wer ihr Schutzpatron wäre und Jeder schenkte er, wenn sie mit ihm geplaudert hatte und auch wol an einer Bank unter dem Fenster hinaufgestiegen war und ihm einen Kuß gegeben hatte, ein schönes Bild ihres Schutzpatrons. Bald hatte der Glückliche einen solchen Zulauf von allen Schönen der Umgegend, daß er die ganze Bücherei zerschnitt, bis die Klosterbrüder dahinter kamen und er seine Liebe zu den schönen Mädchen und seine Misachtung der Wissenschaft durch lange, lange Leiden theuer bezahlen mußte.

Die Geschichte kenn' ich, sagte Oleander. Sie endet besonders gut mit dem naiven Geständnisse des verliebten Bibliothekars, daß ja in der Bibel alle Bücher der Welt enthalten wären. Ja, ja, um die Poesie möchte der Dichter auch alle Weisheit der Welt hingeben, alle Sprachen und alle andern Künste.

Nach einem längern Gespräch, in welchem sich Louis Armand wohlweislich hütete, seine eigenen Verse zu erwähnen, fragte er Oleander, wo er herstamme, ob nicht seine Geburt auf das südliche Deutschland verweise.

Wohl! sagte Oleander. Ich bin auf der schwäbischen Alb geboren...

Louis war nicht Geograph genug, um die schwäbische Alb sogleich im Königreich Württemberg unterzubringen. Er ließ also nur so obenhin die Bemerkung fallen, daß auch er von einer Deutschen herstamme, Namens Anna Oleander...

Und nun hatte er die Freude zu vernehmen, daß Oleander sogleich mit der Frage einfiel, ob er jene Oleander meine, die den flüchtigen Polen Thaddäus Kaminski heirathete und mit ihm nach Frankreich zog?

Dieselbe! sagte Louis Armand. Es sind meine Großeltern...

Diese Entdeckung brachte die Gefährten inniger zusammen. Zwar war die Verwandtschaft sehr entfernt, aber sie bot doch Gelegenheit zum Austausch mancher Frage, mancher wohlthuenden Antwort. Louis Armand fühlte sich heimischer und Oleandern bot diese seltsame überraschende Begegnung einen solchen Fernblick in fremdes Leben, fremde Sitte, daß er sich bei seinem naiven Sinne kaum fassen, kaum beruhigen konnte.

Als Louis endlich den Wunsch äußerte, ob man nicht hier auf kürzerem Wege nach dem Forsthause einlenken könnte, wollte Oleander, da es nur einen Fußsteig dorthin gab, aussteigen und ihn begleiten. Louis lehnte diese Gefälligkeit ab und begnügte sich mit des Vikars genauerer Beschreibung. Es hieß, dieser Weg führe an der Sägemühle vorüber, dann an das sogenannte schwarze Kreuz und von da in wenig Hundert Schritten auf das Jägerhaus.

Louis stieg aus. Oleander gab ihm herzlich, noch immer überrascht von der entfernten Verwandtschaft, die Hand. Der Knecht schlug anfangs eine Erkenntlichkeit, die ihm Louis anbot, aus, dann nahm er sie, gab aber Louis dafür noch den Rath, sich von der Sägemühle an, immer oben auf dem Felsenwege, nicht unten an dem Waldbach zu halten. Nur gerade auf das schwarze Kreuz zu! sagte er und dann bergab. Da wird's trockner sein bis zum Jägerhaus.

Louis hörte, wie er schon auf dem Seitenwege wandelte, noch in der Ferne das Knallen der Peitsche und den Widerhall des rasch dahinrollenden kleinen Wagens.

Es war schon dunkel, als er sich der Bergwand näherte. Es trieb ihn mit einer unerklärlichen Sehnsucht zu Franziska. Mit Gewalt drängte er die neugeweckte Theilnahme für Heinrich Sandrart zurück.

Warum soll ich es nicht wagen, sprach er zu sich, endlich das entscheidende Wort zu sprechen, das schon so oft auf meinen Lippen lag! Kann ich es länger vor ihr und dem Onkel verbergen! Ich werde in Deutschland bleiben, diesem Boden, der meine mütterliche Heimat ist. Wie fühl' ich mich in dies neue Leben so wunderbar schnell hinein! Wie traulich sprechen mich alle diese Menschen an! Wie wecken sie in mir das Tiefste und mildern meine Leidenschaften, statt sie aufzuregen!

Wohl mahnte den jungen Mann der Ruf seiner sozialen Bestrebungen. Doch seit dem Abend, wo Dankmar den Bund der Ritter vom Geiste begründet und die Aufgabe jedes gesinnungsvollen Menschen als nicht zu unmittelbar, nicht zu dringend herausfordernd dargestellt hatte, war eine große Beruhigung über ihn gekommen. Er fühlte, wie sonst, lebhaft für die Sache des Volkes, aber es trieb ihn nicht mehr so gewaltsam, gleichsam den ersten besten Stein, der ihm nahe lag, zu heben und auf die Feinde des Erdenglückes zu schleudern. Wie sehnte er sich nach Siegbert und Dankmar, denen jetzt sein Herz mehr gehörte, als Egon, der so Vieles that, sich seine Freunde zu entfremden! In der Ausmalung seiner nächsten Aufgabe, für Murray bei Zeck oder der Ursula Nachforschungen anzustellen nach dem Kinde jener kalten vornehmen Dame und dann nach einem offnen Bekenntnisse seiner Liebe von Franziska für den Winter Abschied zu nehmen und in die Residenz zurückzukehren, schritt er rüstig vorwärts und achtete des Dunkels nicht, das sich inzwischen ganz über die stille, trauernde Gegend herabgesenkt hatte.

Er war im Wald. Das Grün der Tannen verscheuchte hier die Vorstellung vom herangenahten Winter. Am Fuße der entlaubten Bäume, die hier und da noch zwischen den Tannen standen, grünte unbekümmert vor dem Herbste das immergrüne Moos. Der Weg war viel fester als im Felde. Wo man dort einsank, wurde man hier durch die weitgestreckten, aus dem Boden hervorstehenden Wurzeln der Bäume oder durch das zusammengeballte Laub im Gehen erleichtert. Fröhlich pfiff Louis leichte Liedchen vor sich hin und suchte mit seinem spähenden Auge in der Ferne irgend ein Licht, oder mit dem scharfen Ohre irgend einen Schall, wenigstens von den Rädern der Sägemühle.

Bald hörte er das Bellen eines Hundes, bald auch das Rauschen des Waldbaches, der die Sägemühle trieb. Es war so finster geworden, daß er diese einsame Niederlassung erst erblickte, als er dicht an ihr vorüberging. Sie lag tief. Die Dächer waren breit und gedrückt. Ohne Zweifel wurden geschnittene Dielen unter ihnen aufbewahrt. Da lagen Blöcke vom Regen durchfeuchtet, die frischgesägten Breter schimmerten durch die Dämmerung. Doch schwieg die Mühle. Alles schien hier wie ausgestorben. Nur weniges kaum hörbares Leben deutete auf Bewohner.

Louis fand hier die beiden Wege, von denen Ackermann's Knecht gesprochen hatte. Der eine ging an dem Waldbache entlang, der andre stieg aufwärts und folgte immer dem bald höheren, bald sich senkenden Felsufer dieses Baches.

Louis ging den letzteren. Er war trockner, aber beschwerlich und nicht ganz ohne Gefahr. Steine lagen links und rechts im Wege und leicht konnte man bei einem Fehltritt ausgleiten und in den Waldbach stürzen. Sich in die Verspätung ergebend, schritt er langsam vorwärts und suchte das schwarze Kreuz auf, von dem Oleander und der Knecht gesprochen hatten.

Er fand es endlich. Eine Inschrift, die darauf zu lesen war, konnte er nicht mehr erkennen. Er rieth auf einen Unglücksfall, der sich hier einst ereignet haben mußte und nahm das Kreuz umsomehr für eine Warnung vorsichtig zu sein, als gerade hier unter dem Vorsprunge, auf dem das Zeichen errichtet war, der Waldbach ein tieferes Bett gewonnen zu haben schien und wild im Strudel rauschte und schäumte.

Wie er noch so stand und dem Winde lauschte, der die Bäume schüttelte, war ihm, als hörte er einen Schrei aus weitester Ferne von der Luft herübergetragen. Im ersten Augenblick bebte er zusammen. Es war ein einziger schreckhaft hervorgestoßener Ton, den er nicht von den krachenden Zweigen, nicht von einem Vogel herleiten konnte. Es war ein Ton aus menschlicher Brust.

Wie er entsetzt lauschte, ob sich der Ruf wiederholen würde, und nichts hörte als nur den Wind, nur das Rauschen des Waldbaches, glaubte er doch, daß er sich geirrt hätte und setzte beruhigter seine Wanderung fort.

Sie war jetzt nicht mehr so schwierig. Von dem Kreuze führte ein gepflegterer Weg abwärts. Rüstig schritt er vorwärts und hatte die Freude, deutlich von Plessen herüber die Kirchthurmuhr fünf schlagen zu hören. Nun wußte er, daß er in der Nähe des Jägerhauses war. Schon glaubte er sich zurecht zu finden. Die jenseitige Wand des Waldbaches war eine schroffe mit Bäumen besetzte Anhöhe, das diesseitige Ufer führte zuweilen schon durch Weideplätze, grüne Moos- und Grasstellen. Zuletzt stand er an einer kleinen Brücke von Erlenholz. Der Waldbach schweifte links ab nach Plessen zu. Er kannte diese Biegung und nahm keinen Anstand über die kleine Brücke hinüber zu schreiten und sich von dem Flüßchen ganz zu trennen.

Ein bestimmter fester Glaube führte ihn den Weg, den er für den richtigen und den zum Forsthause leitenden erkannte. Um so entsetzlicher mußte es für ihn sein, als er nach einigen Minuten raschen Fortwanderns wieder jenen Ton hörte, der ihn schon oben an dem schwarzen Kreuze erschreckt hatte. Jetzt war es sicher kein sich biegender Ast, kein Vogel mehr. Es war eine menschliche Stimme, die einen erstickten Entsetzensschrei hören ließ. Es ist Franziska! sagte sich seine aufgeregte Phantasie. Sie ruft um Hülfe! Und ohne die Gefahr zu achten, daß er in der Dunkelheit gegen einen Baum anrennen konnte, stürzte er in die Nacht hinaus, vertrauend, er würde zum Ziele kommen. Er rannte gegen Gesträuche und hielt einen Ast in der Hand. Er brach ihn, so stark er war, mit gewaltiger Kraft von seinem Stamme los, um eine Waffe zu haben. So stürmte er fort und rief mit einer Löwenstimme: Franchette! Franchette! daß es im Walde schauerlich widerhallte.

Endlich lichtete sich der Weg. Da lag die Wiese! Da lag das Jägerhaus! Ein Lichtchen brannte an Franziska's Fenster. Quer über das sumpfige Grün hinweg! Franchette! Franchette! Die Hunde bellten im Forsthause. Fränzchen lebte. Sie öffnete das Fenster.

Louis! Ach, Gott! Sind Sie's!

In demselben Augenblicke fiel in der Ferne ein Schuß.

Das ist der Onkel! sagte sie, als sie todtenbleich draußen schon an der Thür in Louis' Armen lag.

Was ist geschehen?

Kommen Sie! Kommen Sie! sagte Franziska und zog Louis in das Jägerhaus, einen entsetzten Blick auf die Treppe hinwerfend, an der sie vorüberhuschte.

Wie sie mit Louis im Zimmer war, wo ein Lämpchen brannte, riegelte sie die Thür zu und fiel erschöpft auf einen Lehnstuhl, der in der Nähe des Fensters stand. Das Fenster war noch offen und wurde von Louis sogleich geschlossen.

Ich kann in dem Hause nicht bleiben, begann Fränzchen, als sie sich gesammelt hatte. Alle Gespenster aus der frühern Zeit, daß ich hier war, stehen wieder vor mir. Ich muß fort.

Was war Das nur, Franziska? Sie riefen um Hülfe? War hier ein Überfall?

Rief ich um Hülfe? Ich weiß es nicht.

Wer war hier? Ich bitte Sie! Und jener Schuß?

Fränzchen antwortete nicht, sondern blickte sich nur scheu um und horchte nach oben hinauf.

Als sie Louis inständiger um Aufklärung bat, lächelte Fränzchen und fragte: Hab' ich so laut gerufen?

In der Stille des Waldes hört' ich es über tausend Schritte weit.

Das tröstet mich etwas und beruhigt mich für die Zukunft – nein, nein, ich kann nicht bleiben! Ich fürchte mich zu Tode. Und doch geschah hier eigentlich gar nichts.

Was haben Sie, liebe Franziska! Was war Ihnen?

Franziska erzählte nun mit gedämpfter Stimme, immer nach oben blickend, daß sie seit ihrer Anwesenheit im Forsthause die alte Ursula nicht erblickt hätte. Wie sie aber vorhin allein gewesen, verlassen von dem Onkel, der auf der Jagd pirsche, wäre die Alte, die sie im Bette geglaubt hätte, herabgeschritten feierlich mit einem Lichte in der Hand, lang und hager, wie ein Gespenst. Mit hohlen Augen wäre sie eingetreten, an jenen Schrank gegangen, hätte den aufschließen wollen, dann aber wäre sie herangetreten, das Licht gegen sie haltend. Ohne zu sprechen, ohne sie zu begrüßen, wäre sie dicht an sie herangeschlichen, daß sie im ersten Schreck hätte glauben müssen, sie beabsichtige ihr, und wenn nur durch Anhauchen, ein Leids zuzufügen. Da hätte sie, wie sie dicht an ihrem Munde gewesen wäre, aufschreien müssen, wie in Todesgefahr. Die Alte wäre nun zurückgegangen, hätte sich an die Thür gestellt und ein lautes Lachen aufgeschlagen. So hätte sie während einiger fürchterlichen Minuten gestanden, dann wäre sie noch einmal gekommen, in derselben geraden Linie auf sie zu, mit derselben starren Miene, wieder das Licht gegen sie hinhaltend, um sie zu erkennen. In der Angst ihres Herzens hätte sie Hülfe rufen müssen, da wäre in der Ferne ihr Name von Louis gerufen worden, die Alte hätte wieder wie eine Irre gelacht und dann sie verlassen, um nach oben auf ihre Kammer zurückzukehren.

Franziska verstärkte den ängstlichen Eindruck, den auch Louis von diesem Vorfalle empfing, durch die Erinnerungen an ihre Jugend, die sie ihm erzählte. Sie behauptete, daß sie glaube, die Alte möge in diesem Hause Niemand dulden und hätte trotz ihrer Jahre eine Art Eifersucht auf Jeden, der ihr die alleinige Herrschaft über den bequemen Onkel, der sie einst hätte heirathen sollen, streitig machen würde.

Louis fand es gerathener, daß Franziska wol in der Nähe, aber nun nicht selbst im Jägerhause länger bliebe. Er schlug ihr vor, morgen mit Ackermann zu sprechen und diesen einsichtsvollen, freundlichen Mann zu bewegen, sie in sein Haus zu nehmen. Freilich, setzte er, als Franziska freudig einstimmte, hinzu:

Sie werden, liebe Freundin, dort in der Nähe des alten Sandrart sein, der nicht Ihr Gönner ist!

Und ich bin nicht seine Gönnerin, sagte Franziska, die von ihrer beklommenen Stimmung aufzuathmen begann. Erwähnen Sie doch diesen Namen nicht!

Franziska, Sie wissen, daß Heinrich vermögend ist und Ihnen eine glänzende Zukunft bieten kann!

Ich mag ihn nicht! Es ist schlimm, wenn ein Mann zu wenig Herz hat, aber noch schlimmer läßt's ihm, hat er zu viel.

Wie beschämt steh' ich vor Ihnen da, Franziska! Sie kennen die Freundschaft –

Der Onkel kommt! sprach Franziska und sprang zur Thür hinaus.

Louis verwünschte die Störung. Er hatte sich erklären wollen. Er hatte endlich das entscheidende Wort der Liebe auf den Lippen. Die Reflexionen waren von ihm gewichen. Die Einsamkeit des Waldes, die Nähe des blühenden Mädchens, ihre Freude, ihn zu sehen, von ihm aus einer peinlichen Lage befreit zu werden, die sanfte Hand, die, kalt geworden von dem nach dem Herzen gedrängten Blute, sich in der seinen erwärmte... Das Alles sprach ihm so viel Muth und Ermunterung zu, daß er endlich ein festes und sicheres Verständniß zwischen sich und dem Mädchen begründen wollte. Wieder vergebens! Jeder Andere hätte kühn mit einer einzigen Umarmung diesem peinlichen Zustande ein Ende gemacht. Das konnte Louis Armand nicht. Dafür war er zu sehr ein Hamlet des Herzens, die Blässe des Gedankens kränkelte seine Empfindungen an. Er konnte in Dingen, die eine so große Lebensänderung würden nach sich gezogen haben, wie diese Erklärung seiner Liebe für Fränzchen Heunisch, nicht aus einer gewissen Pedanterei, einer zaghaften Scheu heraus, wie im Grunde so viele junge Männer, die, wie uns die Leserinnen bestätigen werden, schon lange nicht mehr den »Muth der Erklärung« haben.

Heunisch hatte, da der Wind nicht nach seiner Richtung stand, von dem Schrei nichts gehört und war nicht wenig erstaunt, als ihm Louis den Vorfall erzählte und daran die nothwendige Überzeugung knüpfte, daß der Förster seine Nichte aus dem Hause geben sollte. Der Vorschlag mit Ackermann gefiel ihm, der Nähe Sandrart's wegen, sehr wohl, obgleich er diesen Grund nicht aussprach.

Die Ursula, dacht' ich mir gleich, sagte unser alter Freund in seinem sorglosen bequemen Tone, die Ursula hat nur eine verstellte Krankheit. Sie ist tückisch, weil sie Niemanden im Hause leiden mag. Das ist nun ein Kreuz, das man tragen muß. Glücklicherweise ist Liebe damit verbunden. Sie meint es gut.

Louis zweifelte.

Gegen mich gewiß! fuhr der Jäger fort. Sie hat mich ordentlich in Pacht genommen. Ich bin ihr Herzblatt, ihre Augenweide. Es ist wahr, sie hat oft einen Blick, als wollte sie damit die Ratten vergiften, aber mich blinzelt sie an wie eine verliebte Katze. Urschel, Urschel, ich muß doch noch ein Ende machen und dich in die Kirche führen!

Wissen Sie nichts vom frühern Leben dieser Frau? forschte Louis und gedachte seines im Schlosse harrenden Murray...

Heunisch plauderte was wir wissen, vom Doktor Lehmann, vom blinden Schmied, ja sogar von der Erbschaft und schloß:

Sie kurirt jede Rose und jeden steifen Hals renkt sie ein.

Louis sah wohl, daß von diesem Virtuosen im Vertrauen, diesem starken Geiste der Denkmüdigkeit nichts über die frühern Verhältnisse der Ursula für seinen guten Murray zu gewinnen war. Heunisch stopfte sich eine Pfeife, hing sein Gewehr an die Wand, legte die Jagdtasche ab und sagte nur immer vor sich hin:

Ja, ja, Fränzchen! Ich habe nichts dawider. Sie nehmen dich auch! Das Fräulein nimmt dich auch! Der Ackermann ist ein guter Herr! Es ist mir auch so recht. Da sprech' ich im Ullagrund vor und gehe nicht so oft auf den gelben Hirsch. Und wenn Sandrart, der Alte, grob bleibt wie heute, so stopf' ich mir immer bei Ackermann die Pfeife und rauche ihm hinter seinem Zaun gerade auf die Nase.

Dabei lachte Heunisch und machte sich's bequem und sah sich nach seiner Suppe um, die ihm Fränzchen lange nicht so gut zubereitete wie die Ursula, die sich nicht mehr wollte sehen lassen und eigentlich so trotzte, daß Heunisch's Bequemlichkeit darunter litt.

Louis warf Fränzchen beim Gehen einen liebevollen Blick zu und flüsterte:

Morgen Nachmittag komm' ich in Wind und Wetter und bringe den Bescheid von Herrn Ackermann. Rüsten Sie sich, daß Sie mir dann gleich folgen können!

Fränzchen dankte mit innigem Blick.

Als Louis dem Förster die Hand gegeben hatte, rief ihm dieser nach:

Nehmen Sie den Weg rechts an der Wiese herum und dann links, von der Eiche abwärts. Sie sollten auch einen Stock bei sich tragen. Ich halte Herrn Ackermann's neue Geschichten sehr hoch, aber sie ziehen allerhand Gesindel in die Gegend. Der Justizdirektor hat mir von einem Brief gesprochen, den er aus der Residenz bekommen. Es soll nicht recht geheuer sein. Die beiden Gesellen, die die Zeck's angenommen haben, gefallen mir nicht. Da! In der Ecke steht ein alter Ziegenhainer! Oder wollen Sie einen Hirschfänger?

Louis dankte und meinte, der Baumstamm, den er draußen hätte liegen lassen, thäte Dienste genug, wenn's Noth am Mann wäre.

Fränzchen, zitternd und aufgeregt, bat den Hirschfänger zu nehmen.

Nein, nein, sagte Louis. Der Ast draußen genügt.

Damit verließ er das unheimliche Haus mit dem tiefsten Mitgefühl für die in ihm zurückbleibende Franziska, die bei aller Bangigkeit ihres Herzens nicht aufhörte, zu ihm aufzublicken wie zu einem verklärten Heiligen, der über den gemeinen und geringen Bedingungen dieses Lebens stand.

Louis kam unangefochten im Schlosse an. Nichts hatte ihn im Walde gestört. Fast seiner selbstspottend warf er am Fuße des Hohenberges den schützenden Ast von sich.

Das gemeinschaftliche Wohnzimmer sah Louis, den Berg emporsteigend, hell durch die Nacht schimmern. Es schlug sieben Uhr, als er bei Murray eintrat.

Unwillkürlich mußte er die Thür auflassen, die er in der Hand hielt.

Himmel, rief er, was machen Sie, Murray? Hier ist ja eine Hitze zum Ersticken.

Ich habe so stark geheizt, sagte Murray, um mir einen alten Schlüssel, den mir Brigitte gab, so zu feilen und zu schmelzen, daß ich ihn zum Umdrehen der Wirbel des Klaviers brauchen kann. Es will nicht gehen und ich möchte doch Wohllaut im Ohre haben.

Kommen Sie heraus, ich beschwöre Sie, sagte Louis, das ist von dem glühenden Ofen eine Hitze, die Ihnen für den ganzen Winter einen Katarrh zuzieht!

Murray öffnete die Fenster und kam, da Louis wirklich nicht eintreten mochte, in's Vorzimmer.

Sie müssen Ihrer Liebe zur Musik und der Nothwendigkeit, sich in Ihrer Einsamkeit zu unterhalten, ein Opfer bringen und mir erlauben, diese Arbeit unten in der Schmiede verrichten zu lassen. Umsomehr, als ich nach meinen heutigen Entdeckungen auch kein andres Mittel weiß, Ihre Nachforschung anzustellen, als zuvörderst bei den Zeck's im Dorfe.

Louis gab einen Bericht über seine reichen Erlebnisse...

Murray folgte mit Theilnahme und verweilte mit großer Rührung bei Dem, was Louis über Ackermann erzählte.

Ja, ja, sagte er. Das ist Ackermann selbst, der in Amerika einen andern Namen führte und nicht weiß, was mich zu ihm zog und wen ich in ihm, was er in mir wiederfand!

Zu hören, daß Otto von Dystra in Europa war, machte ihm keine Besorgniß, eher Freude...

Ackermann hat Recht, sagte er, wenn er diesen Sonderling einen Epikuräer des Geistes nennt. Ich kenne keinen Gerichtshof der Welt, wo man leichteren Stand hätte als vor diesem Äsop. Er kommt mir wie eines jener Asyle vor, in welchen die Verbrecher vor der Hand der Gerechtigkeit gesichert waren.

Erschreckend wirkte auf Murray, was Louis aus dem Jägerhause erzählte.

Ich erkenne, sagte er, die dämonische Natur meiner Schwester. Sie war die Älteste von uns. Was sie gab, drückte mehr als es erfreute. Sie hatte schwarze Augen, ganz beschattet von dichten Brauen und hielt mit Niemanden Freundschaft, da Alles schon vor ihrem Blicke floh. Dennoch besaß sie gute Eigenschaften. Sie war gefällig, dienstergeben, treu bis zur Last. Sollten alle diese Keime besserer Regung in kalte Versteinerung übergegangen sein? Jetzt scheint sie geistesschwach zu sein. Wenn sie das Gedächtniß verloren hätte!

Indem kam Brigitte mit dem Thee. Sie hatte vom Justizdirektor hundert Empfehlungen auszurichten und auf's neue zu mahnen, daß die Herren die morgende Einladung nicht vergessen möchten. Nachdem sie die Fenster mit Erlaubniß geschlossen und sich wegen des Nichtabholens des Geschirrs entschuldigt hatte, ging sie und ließ nur noch die neuesten Zeitungen zurück.

Louis hatte wenig Appetit. Er war zu aufgeregt und bewegt dafür. Murray genoß ein geringes Maß und nahm sich vor, seinen jungen Freund zu veranlassen, früh das Bett zu suchen. Während Murray in den Zeitungen blätterte, schrieb sich Louis das Gedicht auf, das ihm unterwegs eingefallen war.

Als Murray ein Licht ergriff und sich zur Ruhe begab, deutete er auf eine Stelle der Zeitungen und ging mit dem Bemerken, daß sie Louis interessiren würde, für heute zur Ruhe.

Es war freilich eine Mittheilung, die insofern recht zur Unzeit kam, als sie Louis, der ohnehin schon von so vielen Dingen erfüllt war, noch vollends erschütterte und in der That nicht schlafen ließ.

Sie lautete am Ende der Zeitung mit großen Buchstaben:

»Heut' Mittag um zwei Uhr ist die bisherige Volksvertretung vom Ministerium aufgelöst worden. Die neuen Wahlen sind auf den ersten November angeordnet. Die Stadt ist unruhig. Einige Volksaufläufe sind mit dem Bajonnet auseinandergetrieben. Man fürchtet für den Abend. Das Militair ist in den Kasernen consignirt. Eben werden über den Schloßplatz Kanonen gefahren.«


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