Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Eierspeisen, der Hase, die als Ragout bereiteten Hühner schmeckten der zahlreichen, muntern Gesellschaft vortrefflich. Leidenfrost, der Ackermann's und Selma's Bekanntschaft mit Vergnügen erneuerte und viel über deren Knabentracht scherzte, brachte seine Begleiter Alberti und Heusrück mit, die am Tische, wie die Andern, Antheil nehmen sollten und es auch ihres Betragens wegen verdienten.
Erinnern Sie sich noch des Hünen Danebrand? sagte Leidenfrost zu Ackermann. Wie er der Louise Eisold zu Gefallen auf dem Fortunaball eine kleine Schlacht lieferte, deren Folgen glücklicherweise damals mit dem liebevollen Mantel der »Anarchie« zugedeckt wurden?
Fränzchen erröthete und wagte nicht die entfernteste Frage nach Louise Eisold.
Was ist aus dem Hackert geworden? fragte Ackermann, der sich des Vorfalls wohl entsann und auch der Begleitung jenes ihm damals nicht willkommenen Gesellschafters vom Heidekruge her.
Polizeiagent vorläufig! sagte Leidenfrost. Die rechte Hand des unternehmenden Pax, der in Entdeckung von Demagogen und Jesuiten seines Gleichen sucht. Nur hör' ich, daß die Entdeckung der Erstern vom Hofe gern gesehen, die der Letztern aber für übereilten Amtseifer erklärt wird.
Jener Hackert erschien mir damals weit mehr ein Gegenstand, als ein Werkzeug der Polizei, bemerkte Ackermann.
Jetzt nachtwandelt er durch die Clubs, fiel Leidenfrost ein. Pax hat ihn zum Aufseher aller Vereine gemacht. Ich fürchte, daß ihn einmal vor den Schlägen, die er da ernten kann, weder Louise Eisold noch Danebrand rettet.
Man kam von diesen Gesprächen ab und nahm Veranlassung, über die politische Lage des Augenblicks im Allgemeinen zu sprechen.
Leidenfrost hatte kein Hehl, daß die Revolution ihm jetzt erst in ihre rechte Entwickelung zu treten schiene.
Wenn wir so forttaumeln, wie jetzt, sagte er, kommt ein tolleres Hagelwetter, als wir's schon hatten. Wir befinden uns hier leider auf Fürstlich Hohenbergischem Boden, sonst würd' ich offen meine Meinung sagen.
Ackermann forderte den Gast auf, sich keinen Zwang anzulegen. Wenn er in seinen Ansichten zu weit ginge, würde er an diesem Tische nicht nur ein Centrum, sondern sogar – er warf einen lächelnden Blick auf Oleander – eine äußerste Rechte finden.
Leidenfrost schoß einen prüfenden Blick auf den Vikar, der die Antwort nicht schuldig blieb, sondern entgegnete:
Ich halte mich für unfähig über Politik zu streiten, da ich zu wenig von ihr verstehe. Dennoch glaub' ich, daß jeder Staatsmann, der jetzt an's Ruder kommt, die Verpflichtung hat, die Devise: Eile mit Weile! zu seinem Motto zu wählen.
Von Seiner Durchlaucht, begann Leidenfrost mit sichtbarer Ironie, von Seiner Durchlaucht einen so praktischen, bescheidenen, aber doch zu gewöhnlichen Gemeinplatz vorauszusetzen, heißt den hohen Genius verkennen. Dieser Staatsmann, den zwar einige Caricaturen mit einer Ruthe, die Fibel in der Hand, als gewöhnlichen Schulmeister darstellen, ist vielmehr ein neuer Johannes, der uns auffordert, in die Wüste zu ziehen und von Heuschrecken zu leben. Ich will nicht sagen, daß er uns selbst das Beispiel der Enthaltsamkeit gibt. Seiner Durchlaucht lieben die Welt und ihre Freuden. Aber dem Volke gönnt er nicht mehr oder weniger als eine Art Fastenkost, besonders in geistigen Dingen. Es ist der Prießnitz unsres Staates. Er muthet uns eine Wasserkur zu, Enthaltsamkeit und geistige Diät. Die neuen Wahlen haben aber gezeigt, wie entzündlich noch unsre Zustände sind. Wir werden neue Douchen bekommen, kalte Übergüsse, oktroyirte Gesetze. Ich sehe unsren Staat schon so frisch und gesund wie einen Hecht im Wasser zappeln.
Können Sie bestreiten, fiel Oleander ein, daß es ein Glück wäre, wenn die Sucht, Politik zu treiben, auf ein gewisses Maß zurückgeführt würde und man die Politik Denen überließe, die die nächste Veranlassung dazu haben?
Aha! war Alles, was Leidenfrost unartig genug darauf erwiderte. Er sprach dies Wort mit großer Bitterkeit und verletzte fast die gemüthliche Stimmung der kleinen Tafel.
Einer Aufforderung, weiter vom Zustande der Dinge in der Residenz zu sprechen, genügte er nicht, sondern verwies auf die Zukunft, die Vieles zur Reife bringen würde.
Siegbert erstaunte, den alten kaustischen Freund so überreizt zu finden. Er schloß daraus, wie es wol in der Residenz aussehen mochte und hatte nicht den Muth, nach seinem Bruder zu forschen, fast aus Besorgniß, Leidenfrost möchte mit ihm zu vertraut geworden sein. Überhaupt brachte er bei Ackermann nie die Rede auf seinen Bruder. Er hatte die Rolle, die er diesen Sommer auf dem Schlosse spielte, nie gebilligt und mochte die Abneigung, die Selma gegen seinen sittlichen Werth verrieth, nicht vermehren. Es wurde ihm nie von Herzen wohl im Ullagrunde.
Ackermann, besonnen und gewiegt wie immer, löste die Spannung mit den Worten:
Stoßen Sie an auf das schöne Prinzip, das Egon ausgesprochen hat und in dem wir uns, wenn auch mit sonst abweichenden Meinungen, gewiß Alle vereinigen werden: Auf die heiligen, den Menschen wahrhaft freimachenden, seinen Geist wahrhaft läuternden Pflichten und Rechte der Arbeit!
Alberti und Heusrück waren es besonders, denen Ackermann sein Glas entgegenhielt. Sie standen auf und stießen bescheiden an. Auch Leidenfrost beherrschte sich, zumal da er sah, daß die liebliche Selma bei des Vaters, ihr selbst überraschend klingenden Worten aufstand, ein Wasserglas ergriff, sich von dem neben ihr sitzenden Siegbert Wein ausbat und mit anstieß. Sie sagte in fröhlicher Laune:
Das gilt auch uns! Auch wir wollen Rechte im Staat, erobert durch unsre Wirksamkeit in der Küche! Wenn Ihnen aber diese Omelettes ganz besonders schmecken und ein noch später im dritten Akte unsres Dramas auftretendes Hühnerragout Ihren Beifall finden wird, so gebührt die Anerkennung für diese Leistungen in der Kochkunst der List und Verschlagenheit unsres Fränzchens, die heute Eier und Hühner vom Nachbar nicht ohne Mühe gewonnen hat!
Selma erzählte hierauf zum Ergötzen der Tafel, wie der Onkel Heunisch und Franziska vom alten Sandrart diese Vorräthe eroberten...
Bei Erwähnung des Majors von Werdeck warf Leidenfrost einen bedeutungsvollen Blick zu Siegbert hinüber. Dieser errieth sogleich, worauf dieser Wink zielte und fragte Leidenfrost, was es denn sonst für Neuigkeiten über die gemeinschaftlichen Bekannten gäbe?
Unter diesen, antwortete Leidenfrost etwas zurückhaltend, hat sich gar Vielerlei ereignet. Frau von Trompetta, unsre Gönnerin, hat sich entschlossen, gegen den Hof in eine gewisse, aus unerhörter grenzenloser Liebe schmollende Opposition zu treten und die Lotterie, in der das Gethsemane ausgespielt werden soll –
Siegbert erklärte Ackermann und Oleandern, was sie unter dem Gethsemane zu verstehen hätten –
Soweit auszudehnen, fuhr Leidenfrost fort, daß auch noch andre Gegenstände dabei zur Verloosung kämen und sich eine Einnahme beschaffen ließe, groß genug, um ein Kanonenboot für die deutsche Flotte zu kaufen. Sie ist von der Landesfarbe zu der des gemeinsamen Vaterlandes übergegangen und trägt schwarz, roth, gold. Dies hat einen Bruch mit Fräulein Wilhelmine von Flottwitz veranlaßt. Ihre Farben, ihre Gesinnungen harmoniren nicht mehr, zur großen Freude der meisten Gesellschaften, die dadurch vor gewissen makkabäischen Duetten bewahrt bleiben. Die Flottwitz, die leider täglich blonder wird, setzt ihre Bekehrungsversuche mit Ihrem Bruder Dankmar fort, der jedoch bei seinen Studien über römisches und germanisches Erbrecht zu wenig Zeit hat, sich in die Separatgeschichte der einzelnen Truppentheile unsrer Armeen und die tiefe Bedeutung der Achselklappen und der Patrontaschen zu verlieren. Der Reubund hat sich in zwei Fraktionen gespalten. Die eine mit der Bundeskasse, die andre ohne Bundeskasse. Äußerlich heißt es: Der Eine will die neue Verfassung beschwören, weil es der König und das Vaterland verlangten, der Andre will aber dem König noch eine größre Reue zeigen und den Schwur auf dieses »Blatt Papier« als unverbindlich darstellen, worüber natürlich in den »kleinen Cirkeln« viel Thränen der Rührung und Verlegenheit vergossen werden, zumal da sich so viele Gelehrte, fromme Offiziere und mystische Beamte bereit erklärt haben, zu beweisen, daß Eide für die Fürsten doch immer nur unter Umständen heilig sind; aber wie gesagt, die Spaltung beruht auf Kassendefizits und einer, wie wenigstens Freund Werdeck versichert, tief eingerissenen Differenz über die zweckmäßigere Einrichtung einer Brautpaar-Aussteuerkasse verbunden mit einem stillschweigenden Heirathsbureau. Der Bruch wurde unheilbar, als die eine Frau Meisterin vom Stuhl für ein neues gelbseidnes, die andre für ein violettes die Aufmerksamkeit der Loge ausschließlich in Anspruch nahm. Seitdem hat man neben dem alten einfachen Reubund nun noch einen Bund der doppelt Bereuenden. Vom Propst Gelbsattel, lieber Wildungen, soll ich Sie grüßen. Er ist entzückt, daß Sie die Schönauer so entzückt haben. Er verfällt immer mehr mit dem Staate der Gegenwart, auch mit dem Staate des Fürsten Egon. Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staate und die Abhängigkeit der Schule von der Kirche ist in dem Grade jetzt sein Steckenpferd, daß es eine ganz harmlos hingeworfene und unschuldige Phrase geworden ist, von ihm zu sagen, er hielte es mit den Jesuiten. Der General Voland von der Hahnenfeder, der im Stillen doch die wahre äußere und innere Politik unsres Staates leitet, und wie Viele behaupten, vom Papste die Mission hätte, ihn durch Überanstrengung seiner Kräfte zu ruiniren, wofür man ihm, da er ohnehin dunklen Ursprungs ist, einen Platz unter den Heiligen des Kalenders zugesichert hat, ist sehr mit Gelbsattel intim, doch sollen sie in dem Verhältnisse zu einander stehen, wie Hegel zu seinem besten Schüler. Gelbsattel, hat General Voland gesagt, Gelbsattel ist der Einzige, der mich verstanden hat, aber auch Gelbsattel hat mich misverstanden... Otto von Dystra, bei dem ich die Ehre hatte, den gelehrten General kennen zu lernen...
Otto von Dystra? horchte Ackermann auf.
Ein amerikanischer Republikaner, der über Sibirien zur Freiheit kam, bemerkte Leidenfrost.
Ganz recht, sagte Ackermann, Republikaner, Monarchist, je nachdem er geschlafen hat...
Eine sonderbare Charakteristik! bemerkte Siegbert, Olga's gedenkend und mit Spannung...
Otto von Dystra, fuhr Leidenfrost zu Siegbert gewandt fort, ist sehr begierig, Ihre Bekanntschaft zu machen...
Meine Bekanntschaft? fragte Siegbert. Woher kennen Sie ihn denn?
Ich ihn? Er mich? sagte Leidenfrost, sich komisch verwundert stellend. Wissen Sie nicht, daß Otto von Dystra Alles aufsucht, was berühmt ist? Bin ich nicht der berühmte Leidenfrost? Der Techniker? Der Mathematiker? Der Maler? Der Michel Angelo in Taschenformat? Oder vergessen Sie, Freund, daß ich einst seine Kleider und Schuhe putzte und ihn in phrenologischen Studien unterstützte?
Ackermann erinnerte sich der Gespräche in jener Nacht auf der Willing'schen Maschinenfabrik...
Er suchte ja auch Sie sogleich auf, fuhr Leidenfrost zu Siegbert gewandt fort, und nicht etwa weil die Fürstin Wäsämskoi von Ihnen an den Rand des Grabes gebracht wird –
Leidenfrost! drohte Siegbert empfindlich.
Selma blickte erstaunt zur Seite und hatte unwillkürlich das Gefühl, als müßte sie von Siegbert abrücken. Sie konnte es, da die etwas plumpe Bedienung der Mägde mit den Saucen nicht besonders vorsichtig umging.
Nein, deswegen nicht, fuhr Leidenfrost einlenkend fort, sondern aus Interesse für den Maler des Jakob Molay –
Ackermann bemerkte, daß er Otto von Dystra als einen Freund jedes Talentes kenne und erzählte Manches von seinen seltsamen Neigungen, um von der Höhe seines Reichthums und seiner exclusiven Stellung zur wahren Menschlichkeit herabzusteigen. Er führte auch an, daß er ihn bei einer Fußwanderung am Missouri, in Begleitung eines talentvollen Kupferstechers, Namens Morton, hätte kennen lernen.
Wie sehr er Siegbert Wildungen schätzt, ergänzte Leidenfrost mit einem eigenthümlichen sarkastischen Ausdrucke, beweist, daß er Ihnen hier durch mich schon einige Zeilen übersendet...
Leidenfrost zog einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn Siegbert, der fassungslos vor Erstaunen den Brief betrachtete, die französische Aufschrift las und ihn erbrechen wollte.
Bitte, sagte Leidenfrost hastig, lesen Sie ihn für sich! Er ist zu lang! Es liegt eine dicke Schreibübung aus Rom darin! Wenigstens sagte mir Otto von Dystra, daß Ihnen Olga Wäsämskoi wahrscheinlich zeigen wolle, welche Fortschritte sie zu Rom in der Kalligraphie mache...
Siegbert saß auf glühenden Kohlen. Ein Brief aus Rom! Ein Brief von Olga! Übersandt durch ihren gezwungenen Verlobten, den seltsamgeschilderten Baron von Dystra! Er steckte den Brief uneröffnet ein, trug aber durch die gewaltige Aufregung, die sich in seinen Mienen aussprach, viel dazu bei, die ängstliche Beklemmung, die Selma vor einem so fortwährend mit Frauen in zweideutiger Verbindung genannten Manne empfand, noch zu vermehren. Es liegt einmal in reinen und stolzen Mädchenseelen die Abneigung vor Männern, die ihr Geschlecht zu tief erkannt haben, begründet. Sie wußte nicht, wie unrecht sie dem guten Siegbert that, der im Grunde wenig dafür konnte, daß er, wie Dankmar sagte, eine Art Meister Frauenlob war.
Leidenfrost blieb im Zuge seiner Mittheilungen...
Heinrichson, sagte er, ist in Rom und malt Grotten und Nymphen. Reichmeyer portraitirt und spekulirte auf ein Tableau unsrer Deputirtenkammer, kurz ehe sie aufgelöst wurde. Der Zorn darüber hat ihn fast demokratisch gemacht. Sein Onkel, der Banquier, hofft durch Egon zu einer Staatsanleihe befördert zu werden. Frau von Reichmeyer, Reichmeyer's Schwester (in diesen Familien heirathet sich immer die Verwandtschaft überzwerg) hat sich deshalb auch entschlossen, mit einer philanthropischen Idee dem Hofe zu Gefallen zu leben und die innere Mission zu befördern, so wenig es ihrem Patschoulicharakter zusagt, sich an die Betten der Aussätzigen zu begeben und in die fünften Etagen zu den Armen steigen zu müssen. Doch hat sie nun einmal damit angefangen und sich vorläufig die Branche der Kindergärten erwählt, die sie protegirt. Ich sah Frau von Reichmeyer bereits durch die Thürritze eines solchen Kindergartens (im Zimmer) die kleinen Kinder spielen lehren. Beneiden Sie mich um diesen idyllischen Anblick, Wildungen! Die Blasirtheit jetzt unter Kinderwindeln! Sie wissen gar nicht, was Ihnen Alles seither entgangen ist.
Die Frau Pfarrerin wagte sich mit einigen Vertheidigungsworten der Kindergärten hervor, wollte aber eigentlich die Rede nur auf ihren Mann bringen, den sie auch für ihre gute Meinung von den Kindergärten als Autorität anführte.
Es lebe Jean Paul! sagte Leidenfrost einsilbig.
Was soll Jean Paul? fragte man erstaunt.
Ich denke mir, meinte Oleander, daß Herr Leidenfrost sagen will, Jean Paul wäre die Veranlassung einer zu großen Verhimmelung der Kinderseelen? Wäre dies der Fall, dann hätte Jean Paul auch zuviel für die Blumen gethan.
Für die Redeblumen gewiß! bestätigte Leidenfrost und gab die Beziehung auf Guido Stromer zu erkennen. Herrlicher, göttlicher Jean Paul! Du durftest aus deinem Füllhorn die Blumen frühlingsweise werfen, du wußtest sie zu binden und zu ordnen und was daneben fiel, als überflüssig, du hattest es doch selbst gezogen, was du schenktest! Aber was soll uns die wuchernde Überfülle des Geistes, die nur der Form, nicht dem Inhalte der Wahrheit dient! Seht diese Geistreichen! Wie sie sich recken und dehnen, um wunderbare Figuren zu Stande zu bringen und der grade, schlanke Wuchs der Überzeugung fehlt! Diese Menschen sind unser Unglück. All' ihr Geist befruchtet nichts, schafft nichts, gestaltet nichts. Nicht einmal ein Gedicht kommt zu Stande mit ihren an Alles und Jedes sich anpinselnden Wahrnehmungen. Nein, ich lobe mir die Einfältigen eher, die wissen, was sie wollen, als die Geistreichen, die im Grunde nur afterreden und wenn's hoch kommt, der Lüge dienend jede Meinung vertheidigen, wie zuletzt Burke, Gentz und Friedrich Schlegel thaten.
Die Frau Pfarrerin konnte natürlich nicht ahnen, daß dieser Angriff ihrem Manne galt, der, wie Leidenfrost flüsterte, den Titel als Hofrath zu erhaschen strebte; Ackermann, Oleander und Siegbert verstanden ihn sehr wohl und Siegbert winkte Leidenfrost, sich zu mäßigen.
Warum? sagte dieser. Von den Einfältigen zu reden, wissen Sie denn, Wildungen, was aus Sr. Excellenz dem Herrn Geheimrath von Harder geworden ist?
Ich las es in den Zeitungen mit Erstaunen, bemerkte Siegbert. Intendant des königlichen Theaters!
Nicht wahr, mein Freund! sagte Leidenfrost scharf betonend. Auch ein Ritter vom Geiste! Und die Ritter vom Geiste müssen ohne Zweifel ihre Don Quixotes haben!
Ackermann fragte mit forschender Miene:
Welcher Herr von Harder ist das?
Der weiland Intendant der königlichen Gärten, Kurt Henning Detlev von Harder zu Harderstein. Er verlor die königliche Gnade, sintemalen er allzu dienstbeflissen das Mobiliar der Fürstin Amanda von Hohenberg zu Staatszwecken verwandte, um, wie man nun allgemein weiß, gewisse Denkwürdigkeiten der Fürstin, die sich in ihm vorfanden, zu unterdrücken, zu vernichten, zu ecrasiren, zu annulliren, was weiß ich –
Weiß man Das? fragte Siegbert erstaunt.
Welche Denkwürdigkeiten? bemerkte Ackermann aufhorchend.
Dieselben Denkwürdigkeiten, sagte Leidenfrost, die die eigenthümliche Wirkung gehabt haben sollen, den Fürsten Egon mit der schlimmsten Feindin seiner Mutter, Pauline von Harder, zu ewigem Trutz und Schutz auszusöhnen.
Ackermann hörte mit einem Interesse zu, das nur bei der heitren Stimmung, in die Leidenfrosten's weitre Erzählung die Gesellschaft versetzte, unbemerkt bleiben konnte.
Dieser übertriebene Diensteifer, sagte der humoristische Berichterstatter, verjagte den Geheimenrath aus dem Paradiese der königlichen Gärten und nicht eher ruhte das Flammenschwert des Erzengels der Etikette und Courtoisie, bis der Geheimrath sich hinter eine vom Prinzen Ottokar protegirte Tänzerin flüchtete, auf dem Theater ihr ein Armband überreichen wollte, dabei in eine Versenkung fiel und – für das Armband – als bestallter Mäcen der dramatischen Kunst und Literatur wieder herausgezogen wurde. Frau von Harder, die mit Egon und Melanie Schlurck Politik im großen Style treibt, dankt Apoll und den neun Musen, daß ihr Gemahl eine so angemessene Beschäftigung gefunden hat und nun nur noch die Künste und die Literatur verwüstet. Die Schauspieler und Sänger jubeln wohl, denn sie haben einen Chef, der nichts von ihrem Berufe versteht und wie unsre Kunstzustände sind, ist den Hofkomödianten dieses Regiment grade das allerwillkommenste. Die Dichter verzweifeln wohl, allein die freien Entrées sind so zweckmäßig an einige kritische Tonangeber vertheilt, daß auch die Literatur in den Jubel der Kunst mit einstimmt und vor einigen Wochen die neue Ära der Bühne unter den Ausspizien des Herrn von Harder begonnen hat. Und wissen Sie denn, Wildungen, daß ich an diesem Aufschwunge betheiligt bin?
Man horchte auf.
Se. Excellenz haben mich, auf Rath der Maler, die sonst die Salons seiner Frau besuchten, auf Rath der Frau von Werdeck sogar – sie bat mich später unter Thränen um Verzeihung wegen dieser Erinnerung – auf Berichte über das Wäsämskoische Feuerwerk als malereigewandten Mechaniker und Techniker sogleich beschieden, mit ihm über eine neue Struktur der Versenkungen zu philosophiren und ich gestehe Ihnen, Wildungen, daß ich bereits einen solchen Schatz von Anekdoten über die dramaturgischen Kenntnisse Sr. Excellenz des Herrn von Harder gesammelt habe, daß ich im Stande bin, jede stille Pause unsrer künftigen Lebenslaufbahn mit ihnen zu würzen. Aber nun schweig' ich, meine Herrschaften! Ein fortgesetztes Rechthaben verspottet sich selbst. Ich fühle, daß ich zu sehr den Schein bekomme, mehr Vernunft haben zu wollen als Andre und ich weiß, daß man dann erst recht ein Narr ist, wenn man die Weisheit selbst sein will.
Leidenfrost wollte nun aufhören. Aber Alle drängten um Anekdoten über Herrn von Harder. Leidenfrost verweigerte sie und erklärte jetzt zu schweigen.
Ackermann fand ein Interesse daran, wenigstens bei Melanie zu verweilen, grade als sollte Selma hören, wie wenig Egon ihre Liebe verdiene...
Wirklich? knüpfte er an, hat die Tochter des Justizraths so glänzende Hoffnungen, die Liebe eines Fürsten zu besitzen?
Leidenfrost zuckte die Achseln und sagte nur:
Ich weiß nichts. Man erzählt zwei Äußerungen, die jedoch nicht stenographisch niedergeschrieben und durch körperliche Eide nicht bewiesen sind. Egon soll gesagt haben: Fahrt wohl, ihr Melusinen! Ich habe die Frauen erkannt, die erst Göttinnen schienen und zuletzt nur Fische sind! Die zweite...
Leidenfrost stockte. Er war zartfühlend genug, zu beobachten, daß der Einblick in die große Welt und ihre wilde, tolle, zügellose Philosophie hierher nicht gehörte.
Allein Ackermann schien fast beflissen, diesen Gegenstand, in dem er selbst tiefbewandert war, nicht fallen zu lassen und bemerkte mit Schärfe:
Nur heraus! Jene erste Äußerung kam wahrscheinlich damals vom Fürsten, als er hörte, daß Helene d'Azimont in Rom sich bald durch Vergnügungen und neue Wildheiten getröstet hat...
Wissen Sie?
Man hört dergleichen. Hab' ich nicht Recht?
In der That äußerte sich der Fürst mit diesen Worten, als er die Verleumdung vernahm, Helene d'Azimont hätte in dem Maler Heinrichson für ihn Ersatz gefunden –
Ja! sagte Siegbert. Die Welt lügt! Das ist Verleumdung!
Ganz recht, antwortete Leidenfrost, ich glaube es selbst nicht; denn Andre behaupten: Olga Wäsämskoi liebe Heinrichson...
Siegbert wollte aufspringen. Das Messer zitterte in seiner Hand. Er ließ es fallen, er konnte sich selbst nicht halten. So gab er das Zeichen zum Aufbruch und erlöste Selma, deren Herz wallte und wogte, wie ein dem Sturme naher See, von der peinlichen Dunkelheit aller dieser persönlichen Anspielungen.
Ohne daß irgend Jemand Anderes als der Vater ihre Unruhe bemerkte, stellte sie die Stühle zurück wie in einem Zustande völliger Besinnungslosigkeit.
Aber der Vater, der ihre Neigung ersticken wollte, ließ nicht nach...
Die zweite Äußerung! drängte er, als es zum Kaffee ging und man sich die Hände reichte.
Ist die der schönen Melanie, bemerkte Leidenfrost mehr zu Siegbert hingewandt. Sie sagte zu Ihrem Bruder Dankmar, als sie ihm in einer Gesellschaft begegnete: Was Sie auch von mir hören werden, Dankmar Wildungen, beurtheilen Sie mich nicht früher, ehe ich nicht wenigstens einen einzigen Augenblick mit Ihnen hatte, wie sonst Stunden!
O das sagt ja Alles! fiel Ackermann lachend ein. Da müssen wir uns tummeln, des Fürsten Vertrauen zu verdienen und die Felder und Gärten zum Frühling und zur Hochzeit schmücken. Warum auch nicht? Diese Welt der Adligen, wie bunt geht sie durcheinander! Wo ist da viel Sitte, viel Gesetz? Dann und wann eine Ausnahme, dann und wann ein treues Leben. Aber im Übrigen ein Chaos von gebrochenen Herzen, gebrochenen Schwüren, wilden Leidenschaften! Da werden Frauen verkauft, Gattinnen erkauft, Scheidungen kommen und gehen, Kinder aus dreierlei Verhältnissen nennen sich Geschwister, jede Grille wird durch den Besitz ausgeführt, Verschwendung, Leidenschaft – o ich sage Ihnen, wer einmal in diese Sphäre gerieth und von ihren Schwingungen selbst hin- und hergeschleudert wurde, den erfüllt ein solcher Zorn über dies Gewühl, daß er wie Simson die Säulen dieser Paläste fassen und sich sammt den Tänzern und Musikanten unter den Trümmern begraben möchte!
Selma verließ das Zimmer. Oleander fragte Leidenfrost nach des Propstes Familie, die er aber zu wenig kannte. Ackermann bestellte bei Fränzchen mit aufgeregten Worten den Kaffee und bot den Maschinenarbeitern, mit denen er sich, wol um sich zu dämpfen, in technologische Unterhaltung einließ, Cigarren an. Siegbert aber suchte einen einsamen Winkel zu gewinnen, eröffnete Otto von Dystra's Brief und las mit Erstaunen:
»Geehrter Herr!
Ein unbekannter Verehrer erlaubt sich, Ihnen den einliegenden, aus Rom an Jemanden gerichteten Brief mitzutheilen, mit der Bitte, ihn zu prüfen und bei Ihrer Rückkehr das desfalls Nothwendige genauer zu berathen. Ich bemerke vorläufig nur, daß ich zu den Menschen gehöre, die das Herz für einen leicht zerbrechlichen Krystall, nicht für einen Gummiball halten. Mit Hochachtung Otto von Dystra.«
Erstaunt über diese Zuschrift fand Siegbert dann den Brief von Olga, der nicht an ihn, sondern an Rudhard gerichtet war. Etwas abgekühlt von seinem heißen Drang steckte er ihn wieder ein, wenn auch die Spannung und Neugier dieselbe blieb.
Selma kehrte zurück und mußte, da sie der Vater heute mit Gewalt tyrannisirte, Musik machen. Leidenfrost flüsterte Siegbert zu, daß er morgen hier noch zu thun hätte, aber schon den Abend kommen wollte, um sich über Vieles, was sie näher beträfe, zu unterhalten. Übermorgen früh wollten sie dann die Reise gemeinschaftlich mit den Arbeitern zurück antreten. Siegbert war einverstanden und versprach mit ihnen zu gehen.
Die Frau Pfarrerin beeilte die Rückfahrt ihrer Kinder wegen. Diesmal blieb wieder Hedwig zurück. Das Jüngste hatte sie nicht mitgenommen. Siegbert und Oleander mußten sich zur Trennung entschließen.
Ackermann versprach, noch morgen mit Selma Leidenfrost und die Arbeiter bis Plessen zu begleiten, wodurch denn der Abschied von Siegbert verschoben wurde.
Als Leidenfrost Diesen an den Wagen begleitete, flüsterte er auf den Vikar deutend:
Auf Den werden Sie doch nicht für unser vierblättriges Kleeblatt rechnen?
Doch! sagte Siegbert ernst und fest. Es sähe gefahrvoll aus um die Ritterschaft des Geistes, wenn solche Gesinnungen nicht gewonnen würden! Leidenfrost, Sie waren heute ein Kaktus! Lassen Sie auch die Sinnpflanze gelten.
Und wirkt denn mein Bruder? fragte Siegbert dann noch beim Einsteigen.
Vieles und Großes! antwortete Leidenfrost.
Fast erschreckend war diese Antwort. Siegbert erkannte eine Gefahr. Es war ihm, als schlüge plötzlich ein elektrischer Strahl aus den Wolken. Er brannte vor Verlangen, daß der nächste Tag vorüber, zwei Nächte vergangen wären und sie Alle auf den ernsteren Schauplatz ihrer Lebensprüfungen zurückkehrten.
Zwei Tage darauf verließen Siegbert und Leidenfrost mit den beiden Arbeitern die Gegend. Man gab ihnen noch das Geleite bis zum Gelben Hirsch und schied dort voll Herzlichkeit und Hoffnung auf eine sie Alle wieder vereinende Zukunft.