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Ich dachte gleich, sagte Siegbert auf der Wanderung durch das Dorf nach dem Walde zu, daß Sie noch in Plessen sind, lieber Louis! Hier also weilte mein Bruder und erlebte Dinge, die so verhängnißvoll für uns Alle wurden! Ist das also da das Schloß?
Bleiben Sie länger hier! Genießen Sie die Gegend, die viele Schönheiten bietet!
Ich denke in acht bis zehn Tagen drüben fertig zu werden und lasse mich oft hier sehen. Wie lange bleiben Sie noch?
Louis gedachte des einsamen verlassenen Murray und ihrer gemeinsamen so schwierigen Forschungen. Der Blick nach dem Eckfenster that ihm um so mehr leid, als er nicht wagen konnte, Siegbert mit Murray bekannt zu machen, der Fragen und Erörterungen wegen, die davon die Folge gewesen wären.
Ich denke freilich schon in einigen Tagen zurückzukehren. Was sagen Sie zu den neuesten politischen Nachrichten?
Seit wir so plötzlich auseinander kamen, hat jeder Tag eine neue Überraschung gebracht. Egon tritt wie ein Dictator auf. Wenn ich auch die Kraft liebe, so ist es doch bedenklich, daß sich nur die conservative Partei über diese Auflösung der Volksvertretung gefreut hat.
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich vor Begier brenne, ihn zu sehen und zu sprechen.
Ich will wünschen, daß Sie ihm gelegen kommen. Als ich einen Tag nach Ihnen reiste, konnt' ich ihn nicht sprechen. Er trägt wie ein Atlas so schwer auf seinen Schultern.
Ich wünschte, er hätte unserm Abende im Rathshause beigewohnt; ich glaube, an dieser Verwirrung der Interessen hätte ihn ein Überdruß ergriffen, wie uns.
Glauben Sie? Egon ist ein Mensch der Thatsachen. Er würde uns Ideologen nennen und unsre Chimären verspottet haben.
Und doch schleicht sich die Erinnerung an jenen Abend in jede freie Lücke des Nachdenkens und füllt sie sogleich ganz. Ich denke immer daran und hefte im Geiste schon jedem Menschen, der mir gefällt, das Kreuz unsres Bundes auf die Schulter.
Auch mir geht es so, sagte Siegbert überrascht von der gleichen Erfahrung. Ich riß mich von der Residenz mit einem heroischen Entschlusse los. Ich mußte es thun, aus Gründen, die ich wol verschweigen soll...
Louis bat, ohne Sorge zu sein. Und wenn er auch vor ihm Geheimnisse hätte, er wäre darum von seiner Freundschaft nicht weniger überzeugt.
Ich kam nach Schönau, fuhr Siegbert fort, besuchte dort die Männer, an die mich der plötzlich so auffallend entgegenkommende Propst empfohlen hatte. Man bot mir in der That eine ansehnliche Summe für ein Frescobild in einer neu ausgebauten freundlichen Kirche und billigte meine Pläne für den zu behandelnden Gegenstand. Nachdem fing ich für die Einweihung der Kirche an, einige alte Gemälde von achtbarem Werthe wiederherzustellen und lernte in dieser Zeit manche tüchtige Persönlichkeit kennen. Sonderbar, daß ich Alle in einer gleichen Stimmung fand wie wir. Alle waren auf's lebhafteste an der Zeit und ihren Entwickelungen betheiligt, Wenige aber konnten sich mit dem Parteigeiste, wie er nun einmal geworden, ganz befreunden. Fast Alle warten auf einen politischen Messias, die Einen in Gestalt eines Napoleon, die Andern in Gestalt eines Washington. Ich gestehe, daß das Vertrauen auf Egon nicht gering ist. Man hat ihn schon so oft die Verachtung vor dem bisherigen Laufe der Dinge auf der Tribüne aussprechen hören, daß Jedermann glaubt, er würde einen völlig neuen Staat aufbauen. Mit Ungeduld erwartet man das Wahlgesetz, das er, wie man vermuthet, oktroyiren wird. Und doch bemitleidet man ihn, da er mit denselben Steinen, die er eben abgetragen, doch wieder wird bauen müssen. Mir nun, dem Maler, glaubt Jedermann sagen zu müssen, daß die Künste in solcher Zeit keine Freistatt mehr genössen und ergeht sich in Anklagen gegen die Welt, die unwillkürlich mir doch den Plan meines Bruders als eine große, in der Zeit schlummernde Idee darstellen.
O gewiß, sagte Louis. Ich gestehe Ihnen, bin ich zerstreut durch Manches, was mir seitdem begegnete, oder ist es die Folge jenes Abends, meine Gesichtskreise haben sich erweitert. Ich fühle mich höher gestellt in dem Standpunkt, von dem aus ich die Schwierigkeiten des Augenblicks beurtheile. Und ich wiederhole Ihnen, ich habe eine Neigung, Genossen für die Ritterschaft des Geistes zu gewinnen, die unwiderstehlich ist.
Das ist auch mein Fall. Und ich sollte meinen, der Drang, Proselyten zu finden, ist das beste Kennzeichen einer in uns lebendig gewordenen Wahrheit.
Ich sehe, fuhr Louis fort, so viele Menschen, die außerhalb der Tagesdebatte stehen. Warum sollen sie nur stumm reflectiren? Warum soll ihr Geist, ihre Gesinnung daliegen wie das todte Pfund in der Erde? Sie brauchen ja nicht Hand anzulegen, irgend in den Gang der Geschichte einzugreifen... nein! Es genügt schon, daß Gesinnung an Gesinnung sich kette und der Geist selbst aneinander sich entzünde. Unter den Gästen, die Sie heute sahen, würd' ich wenige für würdig halten, zu Rittern vom Geiste geschlagen zu werden, aber die, die ich meine, würde das vierblättrige Kleeblatt, das Symbol des seltenen Fundes, wohl zieren.
Hat Ihnen das Symbol gefallen? fragte Siegbert, der sich erinnerte, daß auf dem Heimwege vom Rathskeller davon gesprochen wurde.
Ich dachte mir, sagte Louis, als Ihr Bruder von dem Kreuze und seinen Enden sprach, wie meine Schwester mit ihren Freundinnen spazieren ging. Man wandelt fröhlich und an der Abendsonne sich ergötzend über den grünen Wiesenplan und das Auge sucht unter den Tausend Dreiblättern nach einem Vierblatt. Man findet es, man jubelt, man ruft die Genossen. Ein Vierblatt! Jeder will es sehen, Jeder bewundert das Spiel der Natur und Jeder wünscht Dem, der das Vierblatt gefunden, Glück; denn ein vierblättriges Kleeblatt bedeutet Glück.
Und wem möchten Sie die vier Punkte auf die Schultern drücken von Denen, die dort heute zusammengewürfelt waren?
Zuerst dem edlen Vater des schönen Mädchens –
Ackermann! Entsinn' ich mich doch vergebens, in meiner Kindheit je von einem Manne dieses Namens gehört zu haben!
Ich fand, daß er gestern, als ich Ihrer erwähnte, mit größerer Herzlichkeit der Ihrigen gedachte, als heute, wo er sich Zwang anzulegen schien –
Er wies meine Freundlichkeit eben fast zurück –
Auch dafür muß er irgend einen Grund haben; denn dies ist ein Charakter, der niemals eine Laune über sich Herr werden läßt –
Entsinnen Sie sich, daß ich schon an jenem Abende äußerte, wie wenig wahren Antheil wir Brüder für unsern Prozeß voraussetzen dürfen...
Grübeln Sie darüber nicht! Wüßte er, welche Gedanken Ihr Bruder mit dieser Erbschaft verbindet, wie groß er die an ihn gestellte Mahnung der Zeit auffaßt, wie er mit diesen Hülfsmitteln den in Trümmer zerfallnen Tempel der Menschheit wieder aufbauen will –
Er würde uns Phantasten nennen! Ihn erinnert das vierblättrige Kleeblatt vielleicht nur an die Ökonomie –
Den Vater eines solchen Mädchens?
Selma! Ein Kopf, den ich wol lieber malte, als die Stierphysiognomie drüben in Randhartingen...
Auch auf den Pfarrvikar Oleander möcht' ich rechnen und vielleicht den Arzt Reinick, der so wenig und so milde und so klar sprach.
Auch mir prägten sich in Schönau, einem kleinen aber sehr wohlhabenden Orte, viel ernste und ein inneres Leben verrathende Physiognomieen ein. Nur schade, daß man sie aus der Masse solcher Köpfe, wie jener Drossel, erst ausscheiden muß.
Es ist erstaunlich, sagte Louis, daß ich einen Republikaner, wie diesen exaltirten Mann, noch vor kurzer Zeit als eine große Stütze meiner Vorstellungen über die umzuändernde Gesellschaft angesehen hätte, und doch glaub' ich gewiß zu sein, daß man mit ihm zwar das Alte zerstören, aber Neues nicht aufbauen könnte. Er würde vor allen Dingen darnach trachten, in der allgemeinen Verwirrung erst seiner Verbindlichkeiten, von denen ich höre, daß deren viele auf ihm lasten, ledig zu werden und nachher ein ebenso gewaltsamer Despot werden, wie die Despoten waren, die er stürzte. Mein Vaterland gibt ja für diese traurige Thatsache täglich die Beweise. Die eine Partei verdrängt die andere und bedient sich, um sich zu behaupten, derselben gewaltsamen Mittel, die die frühere Partei so gehässig machte. Und Alle berufen sich, mich überglüht es vor Zorn, wenn ich daran denke, Alle berufen sich auf die Nothwendigkeit der Ordnung, die Herrschaft der Gesetze, den Zwang der Disciplin. Diese Elenden! Nur deshalb wollen sie Gehorsam, um den Staat für sich ausbeuten zu können und Mittel zu sammeln, ihren vorauszusehenden Sturz auf die Länge minder schmerzlich zu ertragen.
Bei diesen Worten lenkten Louis und Siegbert in den Wald ein und gingen denselben Weg, auf welchem im Sommer, an einem Vormittage, als das goldne Sonnenlicht durch die grünen Zweige schimmerte, vom Jägerhause zurückkehrend, durch Ackermann angeregt, Dankmar so lebhaft von der Nothwendigkeit eines Erkennungszeichens Gleichgesinnter überzeugt war und über seinen Bund der Ritter vom Geiste nachdachte.
Es ging ein scharfer, kalter Wind. Das welke Laub wurde wirbelweise erfaßt und fortgeschleudert. Geknickte Zweige lagen am Wege oder hingen noch halb, oft gefährlich, an den Stämmen.
Louis erzählte nochmals ausführlicher sein Vorhaben mit Franziska Heunisch, die Siegbert dem Namen nach schon kannte. Hatte er doch das ihr bestimmte Gedicht: Des Volkes Tochter, arme Bettlerin! übersetzt. Er fragte Louis, ob er von ihr wie von seiner Geliebten sprechen dürfe?
Louis schüttelte den Kopf.
Dies verlegene Schweigen erinnerte Siegbert so lebhaft an Das, was in seiner eignen Brust verschlossen lebte, daß er trüben Blickes über die welken Blätter hinausschaute und nach einer Weile, wie für sich selber, sagte:
Die erschlossene Knospe ist das Geständniß der Liebe! Nicht zu spät komm' es, aber auch nicht zu früh!
Und wieder nach einer Weile sagte er:
Wissen Sie, daß Helene d'Azimont nach Italien ist?
Ich erfuhr es.
Aber erstaunen werden Sie, wer sie begleitet... Die junge Tochter der Fürstin Wäsämskoi... Olga...
Louis schwieg. Er hatte von Egon gehört, daß Siegbert Wildungen im Hause der Schwester Helenen's geliebt wurde...
Was denken Sie von einer solchen Schule des jungen Mädchens? sagte Siegbert bewegt. Ich läugne nicht, daß Olga, von den ersten Regungen ihres jungen Herzens irre geführt, mir Beweise mehr kindlicher, als denkend empfindender Liebe gegeben hat...
Die Eifersucht auf die Mutter hatte die Flamme genährt... sagte Louis zurückhaltend.
Auch Das ist der Welt bekannt? rief Siegbert mit schmerzlicher Erregung. Alle, Alle sahen es. Nur ich Thor war verblendet und wiegte mich, dem trägen, schlummernden Goldkäfer gleich, in dem Kelche der Blumen. Wie bereu' ich diese glücklichen Tage! Wie viel qualvolle Stunden werden ihnen folgen!
Unerklärlich ist, wie Olga entfliehen konnte!
Doch nicht! sagte Siegbert. Rudhard hatte mit Gewalt beschlossen, mit ihr und den andern Kindern zu reisen. Noch hör' ich, daß ein von ihrem Vater ihr bestimmter Verlobter eingetroffen sein soll. Es blieb ihr nur die Wahl, entweder mit Rudhard zu reisen oder sich mit Otto von Dystra zu verloben.
Otto von Dystra? sagte Louis überrascht. Ein russischer Diplomat? Aus Amerika?
Ganz recht.
Ein Freund Ackermann's, ein Bekannter...
Fast hätte Louis Murray's Namen, den er doch verschweigen wollte, ausgesprochen.
Wie sie Alle bestätigen werden, fuhr Siegbert fort, ein Mann, der nicht ohne Bedeutung sein soll.
Ein Sonderling! Unstät-Reisender! Überdies häßlich...
Menschen von Geist sind nicht häßlich.
Einer solchen Verbindung könnten Sie das Wort reden?
Rudhard verschwieg mir nichts von den Wunderlichkeiten dieses Mannes; doch mußte er ihn einen Philosophen nennen und gestand mir, daß grade eine solche Natur im Stande sein würde, Olga's Erziehung zu vollenden.
Nein! Nein! Abscheuliche Sklaverei! Erziehung in der Ehe! Philosophie, wo das Herz glücklich sein will! Wie lob' ich das entschlossene Mädchen, daß es den Muth hatte, zu entfliehen und das Herz zu retten, in dem Siegbert Wildungen's Bild lebt!
Sie brauchen fast dieselben Worte, lieber Louis, sagte Siegbert lächelnd, wie sie selbst...
Sie schreibt Ihnen?
Aus der ersten Stadt, wo sie rastete. Es sind die lyrischen Ergüsse eines schwärmerischen Mädchens, das durch die Welt reist, um sie mit ihren Idealen zu vergleichen. Ich würde diese Wendung mit Freuden verfolgen, wenn nicht auch Helene von Olga mit leidenschaftlicher Liebe angebetet würde. O nur Helene weiß zu lieben, schreibt sie mir. Helene ist die Liebe selbst. Die himmlische, die in diese abscheuliche Erde nicht paßt! Egon ist einer von diesen herzlosen Göttern der Erde, die Menschenopfer verlangen. Er ist kein Teufel und kein überirdischer Gott, er ist nicht ganz böse und nicht ganz gut, nur er selbst ist er, der Schatten seines Schattens, das Echo seines Echos, einer der herzlosen Dämonen, die Alles wegzuspötteln, wegzulächeln wissen und an Wahrheit erst glauben, wenn einmal ein betrogenes Weib den Dolch erhebt und sie für die Lüge ihres Geistes den Stahl einer wirklichen Rache empfinden läßt!
Ums Himmelswillen, rief Louis lachend, Das ist ja ein Plagiat! Das sind Worte, die Olga Helenen nachschreibt und Helene hat sie von der Phädra oder sonst einer wilden Heroine aus dem Théâtre Français!
Ich würde lachen, wie Sie, Louis, bemerkte Siegbert, wenn nicht diese Stylübungen eine neue Wendung erhielten durch den Trost, den Helene d'Azimont finden wird, suchen muß. Leidenfrost schreibt mir, daß der Maler Heinrichson, Sie kennen den schönen, allen Frauen gefährlichen Mann, nach Rom ginge, wie man sagte, um sich dort mit Gräfin Helene d'Azimont ein Zusammentreffen zu geben.
Verläumdung! rief Louis. Befürchten Sie Das nicht! Die Gräfin war leichtsinnig, als sie keinen Mann gefunden, der der Liebe einer Frau würdig war. Sie fand aber Egon. Trotz der Schmerzen, die mit diesem ihrem Glücke andern Menschen bereitet wurden, versichre ich Sie, daß nach der Liebe eines solchen Mannes Helene nicht im Stande ist, Gefallen zu finden an einem so glatten Dandy, einer solchen geleckten Eleganz.
Sie irren sich, Louis! Heinrichson besitzt Esprit. Er weiß mit den Worten Fangball zu spielen und besitzt jene blasirte Kälte, die, mit Geist und schöner Figur verbunden, allen Weibern gefällt. Dazu ist er Maler. Ich erkenne an mir selbst, wieviel wir bei dem Glücke, das wir in der Welt machen – abscheulich; ich spreche wie ein Don Juan –
Fahren Sie fort! Ich kenne die Maler. Ich war in Paris täglich mit ihnen in Verbindung. Ich weiß, was sie ihrer Kunst zu verdanken haben.
Nun gut. Auch diesem Heinrichson fließen alle Vortheile seines Talentes zu. Dabei kann man nicht umhin, sein Talent anzuerkennen. Er führt einen geschmeidigen, anmuthigen, farbengrellen Pinsel. Es ist Lust und Leben in Dem, was er auf die Leinwand wirft. Was er auch malt, blenden, fesseln wird es immer. Befriedigen freilich kann es nur Die, die von Effekten gepackt sein wollen. Ich weiß nicht, ob Heinrichson in Rom bei den Kunstgenossen Glück machen wird. In Paris würde er's. Für Rom fürcht' ich, daß man ihn oberflächlich und frivol nennt. Er wird sich aber Anerkennung verschaffen durch Witz, Satyre. Man wird Angst vor ihm haben, weil er treffende Urtheile schleudern kann. Genug, mein Freund, nehmen Sie noch ein seltnes Sprachtalent, Conversationston im Salon, vortreffliche Toilette, vornehme Empfehlungen hinzu und ich versichre Sie, er wird Helenen fesseln, für Egon entschädigen, eine Verbindung mit der Gräfin anknüpfen und Olga, dies junge, noch reine Gemüth, Olga, dieser Engel, soll jetzt schon Zeuge solcher elenden modernen Verirrungen werden, soll...
Sie sehen zu weit! unterbrach Louis den trostbedürftigen Siegbert, der seine lebendigste Liebe für Olga nicht verbergen konnte. Ich kann nicht glauben, daß ein Weib, das einen Egon liebte und von ihm wieder geliebt wurde, so sehr das Bedürfniß eines zärtlichen Verhältnisses verrathen könnte, um diesen Tausch einzugehen.
O, rief Siegbert, in mir erhebt sich Alles, Alles, um diesen Verdacht zu bekämpfen. Jede Fiber meines Herzens spricht für die Unmöglichkeit solcher Gesinnungslosigkeit des Herzens am Weibe überhaupt, und doch klingen mir die Worte im Ohre, die Dankmar einmal zu mir sprach: O Das sind die Frauen, die mit ihrem Herzen Alles möglich machen können, wie mit Handschuhen, die man wäscht, färbt, umkehrt, wie mit Polypen, die man aufschneidet, herumwendet und die dennoch leben, auch wenn der Bauch ihr Rücken, der Rücken ihr Bauch geworden!
Bitter, sehr bitter und gewiß oft wahr! rief Louis erschreckend. Aber geben Sie diese trübe Vorstellung auf! Hoffen Sie auf eine schönre Entwickelung des jungen Mädchens, das Ihnen so theuer ist! Oder treten Sie mit Entschiedenheit bei der Fürstin auf...
Bei der Fürstin? wiederholte Siegbert in einem Tone, der Louis bestimmte, fragender, als er sich sonst erlaubt hätte, auf seinen Freund zu blicken.
Weshalb hab' ich mich wol entschlossen, sagte Siegbert, das geistlose Gesicht jenes reichen Gutsbesitzers in Randhartingen zu malen? Wissen Sie, daß ich von Schönau geflohen bin! Die Fürstin ließ mich einen Besuch in dem kleinen Orte erwarten.
Himmel! rief Louis erschreckend.
Wohl wußte sie über diesen Entschluß, fuhr Siegbert fort, den Mantel einer glaublichen Entschuldigung zu werfen. Sie sprach von einer Verwandten ihrer Mutter, die in der Nähe wohne, von Otto von Dystra's Verlangen, mich kennen zu lernen, doch mit den Vorwürfen, die sie mir über meine Flucht machte, verglichen, glaub' ich fast, sie will sich selbst überzeugen, ob ich wirklich in Schönau bin oder nicht gar mit Olga und Helenen irgendwo schwärme...
So wünsch' ich, sagte Louis lachend, sie kommt nach Schönau, findet Sie nicht und reist, wie es sich gebührt, ihrer Tochter nach Italien nach, einem Aufenthalt, an den sie nicht glauben will.
Das Seltsamste, schreibt mir über diese Dinge mein Bruder Dankmar, das Seltsamste ist dabei, daß in diesen Frauenköpfen von den Lebenspflichten des Mannes so gut wie gar keine Vorstellung existirt. Der Weltbau kann in Trümmer gehen, wenn nur noch Platz zu ihrem Glücke übrig bleibt. So unersättlich sind diese Leidenschaften in der großen Welt, daß man zuletzt wirklich mit Wonne vor einem beschränkten Mädchen stehen bleibt, das noch Sternblümchen zerzupft und dabei fragt: Liebt er mich, liebt er mich nicht?
Mit diesen Worten schwenkten die beiden Freunde an der Eiche rechts zur Wiese hin, an deren Rande das Forsthaus vor ihnen lag. Es war schon dunkel geworden. Doch sah man unten kein Licht. Die Hunde bellten der Annäherung der Fremden entgegen.
Heunisch wird zu Hause sein! sagte Louis und beschleunigte die Schritte.
Ich bin begierig, diese stille Liebe kennen zu lernen, sprach Siegbert erwartungsvoll und verschob seine Mittheilungen aus Dankmar's und Leidenfrost's Briefen auf den Abend, wo er mit Louis im Schlosse allein zu sein hoffte.
Wir sind allein! bestätigte Louis, nicht ohne Verlegenheit, wie er es mit Murray halten würde.
Fränzchen hatte die Ankommenden trotz der Dämmerung erkannt und kam ihnen unter der Hausthür fragend entgegen.
Siegbert freute sich an dem zarten, blühenden Mädchen und dem romantischen Aufenthalte. Der Wald, die Wiese, das Jägerhaus, die liebliche Bewohnerin schienen ihm zusammenzupassen wie ein Märchen von Grimm.
Für ein Bild sehr romantisch, sagte Louis. In der Wirklichkeit ist es aber besser, daß Fränzchen in den Ullagrund zieht. Herr Ackermann ist einverstanden und erwartet Sie schon jetzt, schon für heute. Er ist in Plessen und nimmt Sie sogleich mit.
Franziska sprach so laut ihre Freude aus, daß Heunisch, der eben mit der Pfeife aus der Hausthür trat, schon unter der Thür hörte, daß der neue Pächter eingewilligt hatte. Er dachte dabei mit Spekulation an den alten Sandrart und hatte seine vollkommenste Freude an diesem Ausgang.
Jetzt aber rasch! sagte Louis. Das Nöthigste trag' ich selbst und das Übrige schaffen Sie nach, Herr Heunisch!
Da liegt schon vorläufig ein Bündel, warten Sie, ich lege meine Pfeife weg –
Bleiben Sie nur, bedeutete ihn Louis, Das trag' ich selbst, da ist keine Hülfe nöthig.
Damit hob er den Bündel auf, der mit der nöthigen Wäsche versehen war.
Franziska sagte:
Wir wechseln ab. Nur fort! Adieu Onkel! Behüte Sie Gott und kommen Sie gleich morgen!
Heunisch hatte nicht das geringste Mistrauen in dies Verhältniß zwischen Franziska und dem jungen Fremdling, der sich ihrer Angelegenheiten so theilnehmend annahm. Er sagte:
Die Katze kriegt doch noch ein Pfötchen? Sieh, wie sie sich anschmiegt! Komm, Mutz, gib dein Patschchen! Der fremde Herr macht sie confus. Ja, Herr, so wohnen wir hier im Walde... sehen Sie sich um! Schießen Sie gern? Aber Fränzchen, doch noch ein Licht! Ei, willst mich im Dunkeln lassen? Ein Licht, daß der Herr da sieht, wie's bei einem alten Jägersmann sich wohnen läßt. Den Eilf-Ender da an der Wand schoß ich selbsten...
Louis machte Licht mit einem Streichfeuerzeuge, das er nach seinen praktischen Gewohnheiten immer bei sich führte.
Ich gehe nicht mehr in die Küche, flüsterte ihm Fränzchen zu, kommen Sie nur!
Siegbert sprach einiges romantische Durcheinander vom freien Jägerleben und vom lust'gen Waldrevier. Er betrachtete die Bilder, die Vogelkäfige, den Eilf-Ender und die Rehbockhörner über der Thür, die Büchsen an der Wand, Fränzchen, das mit ihrem Bündel stand, wie er sich Goethe's Dorothea gedacht haben würde, nur war sie kleiner, aber lieblicher und wohl frischer, wie jene Emigrantin gewesen sein mag.
Es gelang Heunischen nicht, den Auszug noch länger hinzuhalten. Man verließ das Haus. Er begleitete die Scheidenden noch die Wiese entlang. Er hatte so ein dringendes Verlangen, so eine Freude über die Nachricht der Erlaubniß des Generalpächters, Fränzchen in die Nähe des alten Sandrart zu bringen, daß er über diesen Abschied ordentlichen Jubel empfand und versicherte, ihr morgen alle ihre andern Habseligkeiten nachzubringen.
Was ist Das für ein Vogel? fragte Siegbert, sich plötzlich umdrehend.
Der so lacht? meinte Heunisch und lachte selbst. Eine Lachtaube ist es nicht, Herr.
Fränzchen zog Louis, der den Bündel trug, mit Gewalt weg.
Louis hatte aber auch ein grelles, thierisches Auflachen gehört und blieb stehen.
Das ist die Urschel! meinte Heunisch und konnte nicht anders, als selbst über die Alte lachen, die ihrer Rivalin, ihrem Störenfried, der nun abzog, einen Spott nach ihrer Art nachsandte.
Meine alte Haushälterin, setzte er für Siegbert, der über diese Bosheit hier in Gottes stiller Natur erstarrt war, hinzu. Meine alte Ursula Marzahn! So wie ich sagte: Fränzchen kommt! kroch sie oben auf ihre Kammer und legte sich in's Bett. Nun sie hört: Fränzchen geht! kichert sie hinter uns her. Alte! schweig! rief Heunisch jetzt hinauf und klatschte, wie man etwa einem Thier thut, das man verscheuchen will, einige Male in die Hände. Da hörte das boshafte Lachen auf...
An der Eiche, unter der einst Dankmar von dem Bunde der Guten und Denkenden zuerst geträumt hatte, nahm Heunisch Abschied, nach der Art dieser Leute umständlich, ohne fertig werden zu können und die Rührung durch tausend Kleinigkeiten verdeckend. Fränzchen erhielt darauf von Siegbert den Arm angeboten. Warum sollte sie ihn nicht annehmen! War sie doch in einer Stimmung, als hätte sie sich jetzt allen Menschen an den Hals werfen und rufen sollen: Ich lebe wieder! Ich bin gerettet!
Louis regte eine Aufklärung Siegbert's an. Man erzählte ihm, was diese Freude begründete. Da sah er wohl, ein wie glückliches Wesen er am Arme führte. Fränzchen trat behend wie ein Reh und hing ihm wie im Tanz so leicht am Arme. Sie hatte, da es kalt war, ein Mäntelchen über und einen Strohhut mit rothem Bande, der die Blässe ihres Gesichts noch zarter hervorhob. Sie erzählte, wie sie die Nacht in Ängsten zugebracht hätte und heute früh, während Heunisch aus war, hätte sie jeden Augenblick erwarten können, die böse Frau würde die Treppe heruntergeschlorrt kommen und sie wieder so durchbohrend und hexenartig ansehen wie gestern.
So und ähnlich plaudernd und dabei überrasch vorwärtsschreitend kamen sie mit dem fünften Glockenschlage in Plessen richtig an. Es war die höchste Zeit, denn vor dem Pfarrhause sahen sie schon den kleinen Wagen Ackermann's und bei dem Licht in der Stube harrende Figuren am Fenster. Näher kommend unterschied Louis Ackermann, Oleander und Selma. Am Amthause war schon Alles still.
Eintretend in das Pfarrhaus und in die Wohnstube gleich linker Hand übergab Louis, der den Bündel auf die Hausflur geworfen hatte, Ackermann und Selma die neue Schutzbefohlne. Ackermann verrieth durch einen flüchtig musternden Blick, daß ihm das Mädchen gefalle und Selma bot ihr freundlichst die Hand.
Da hab' ich ja, sagte sie, was ich wünschte! Wir wollen fröhlich zusammenleben und uns schon gut vertragen.
O Fräulein... stammelte Franziska.
Und so prächtigen Putz machen Sie! Wie schön ist das Band am Hute aufgesteckt! Ich verstehe gar nichts von diesen Dingen, auf die die Leute so streng sehen. Heute am Tisch bin ich so gemustert worden, daß ich immer dachte: Wartet, das nächste Mal sollt Ihr sehen, daß ich die neueste Mode trage. Ich dachte an Sie, liebe Franziska.
Wie sind Sie gütig!
Ich gestatte Euch, Eure Toilettengespräche im Wagen fortzusetzen, während ich vielleicht schlafe, bemerkte Ackermann. Es wird zu finster. Gute Nacht, Frau Pfarrerin.
Großer Stromer! Dein Weib wischte sich erst die Hand ab, ehe sie die ihr von Ackermann gebotene annehmen konnte. Die Küche, die Mägde, die Hühner, die Eier, das Füttern, das Waschen, das Putzen... und die Kinder! Die Kinder! Die Kinder!
Oleander sagte, daß morgen zeitig eingeholt werden müßte, was heute versäumt wäre.
Selma antwortete nichts darauf. Sie schien zerstreut und noch nicht frei von den beklemmenden Gefühlen, die sie heute in Louis' Nähe drückten. Siegberten, der einige freundliche Worte mit Ackermann gewechselt und von diesem eine herzliche Einladung zum Besuche im Ullagrunde erhalten hatte, verneigte sie sich flüchtig, aber mit einem jener wohlwollenden Blicke, die nur so im Vorüberstreifen hingeworfen an Frauen immer bezaubern müssen. Leidenfrost hatte einmal zu Siegbert diese Blicke, die auch Melanie sehr in der Gewalt hatte, wenn sie durch das Berg'sche Atelier schwebte, pantheistische genannt und seine Bezeichnung so erklärt: Die Frauen wollen gewissermaßen mit diesen Blicken sagen: Freund, auch du bist liebenswürdig und ich würde dich gern nehmen, wenn ich nicht schon schwärmerisch liebte und bei unsern düstern monotheistischen Ideen nur Einen Gott und keinen Andern neben ihm haben dürfte!
Louis reichte dem Knecht das Päckchen hinauf, das er neben sich legte. Im Wagen war es ziemlich eng; denn statt der kleinen Hedwig, die Ackermann zurückgebracht hatte, ging heute der mittelste Knabe mit, Waldemar, dessen Pathe der alte Fürst Waldemar von Hohenberg gewesen war. Alle zwei, drei Tage wechselte Selma unter den Kindern der Frau Pfarrerin ab, die noch an dem Wagenschlage stand und für die Liebe dieser guten Menschen dankte. Ackermann, der noch immer in einer gedrückten, nachdenklichen Stimmung blieb, schien froh, als sich endlich sein Gaul in Bewegung setzte. Fränzchen reichte voll Innigkeit und freudigen Dankes Louis noch die Hand, während der Wagen schon rollte.
Louis und Siegbert mußten, da sie ihre Hüte in dem Pfarrhause gelassen, wieder zurück eintreten und Oleander mochte sie nun nicht weglassen.
Sie wissen, was Sie mir gestern versprochen haben, sagte er zu Louis.
Louis, dem es peinlich war, Murray aus seiner einsamen Ruhe aufzuschrecken, dachte sehr lebhaft daran, ob nicht Siegbert, er und Oleander den Abend zusammen zubringen könnten.
Herr Oleander wollte die Güte haben, mir von seinen Gedichten vorzulesen... bemerkte er mit fragendem Blicke nach Siegbert hin.
Dieser erwiderte sogleich:
Ein Dichter dem andern! Wissen Sie, Herr Oleander, daß Louis die artigsten französischen Verse macht und ich sie zu übersetzen versuche?
Diese Nachricht erfreute den schwäbischen Vikar so, daß er nicht ruhte und die Freunde durchaus bei sich zu behalten erklärte.
Frau Pfarrerin, Sie schicken uns einen Thee auf mein Zimmer, heizen ein und das gleich! Erst hab' ich noch einen kleinen Gang. Dann kommen Sie hinauf oder gehen Sie sogleich selbst und machen Sie sich's oben bequem!
Louis sagte, er zöge vor, erst auf das Schloß zu gehen und Sorge zu tragen für das Nachtlager seines Freundes. Siegbert bat, keine Umstände zu machen. Louis, der nur gern ein Wort mit Murray sprechen, den armen Verlassenen, Einsamen begrüßen wollte, hielt Siegberten zurück und ging mit Oleander, der eine Kranke, die Müllerin in der Mühle, besuchen wollte, hinaus in die inzwischen vollständig herabgesunkene Nacht.
Wie trieb es Louis hinauf zu Murray! Es lastete auf ihm wie eine Schuld der Lieblosigkeit. Er hatte ein Fest genossen, einen Freund gefunden, das Glück gehabt, Franziska glücklich zu machen und da oben sitzt in stiller Verlassenheit der freudlose, nur in sein Inneres blickende, wehmüthige, gewissenskranke Alte, der dies Erdenleben nur noch für eine letzte Prüfung ansah und alles Trauerbringende für seine Bestimmung! Es trieb Louis, als hätte er ihm um den Hals fallen und diesen ganzen reichen, glücklichen Tag abbitten müssen.
Auf dem Emporwege begegnete ihm Brigitte, mit der er rasch besprach, daß sie noch ein Zimmer zu öffnen, noch ein Bett zuzurichten hätte. Und ob das Fuhrwerk der Frau von Sänger die Nacht über versorgt wäre? Alles Das fragte und bestellte er rasch hintereinander. Die Alte nickte und gab auf Jedes ihren höflichen Bescheid. Nur eine Bemerkung war ihm peinlich. Der Amtsvoigt Pfannenstiel wäre bei ihr gewesen und hätte nach dem alten Herrn oben gefragt, wäre auch selbst zu ihm gegangen und hätte ihn ersucht, der Ordnung wegen, seinen Namen und seinen Stand aufzuschreiben.
So! So! sagte Louis und wollte seine Besorgniß verbergen. Das ist ja Alles in der Ordnung. Vergeßt das Bett nicht!
Nun erst hatte er recht Eile, zu Murray zu kommen.
Er fand diesen wirklich in einiger Bewegung und begrüßte ihn sogleich mit den heftigsten Vorwürfen gegen sich selbst.
Ich lasse Sie allein! Verurtheilen Sie mich! Ich bin ohne Aufmerksamkeit für meine Freunde! Vergeben Sie mir!
Beruhigen Sie sich, lieber Louis, sagte Murray mit weicher Gelassenheit. Ich bin nie in Verlegenheit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Nur wenn ich grade sagen soll, was ich treibe, beunruhigt mich's. So vorhin, wo ich der Ortspolizei über Sie und mich, der Ordnung wegen, einen Nachtzettel habe ausfertigen müssen...
Über Sie und mich? Wenn auch ich verdächtig erscheine, beruhigt mich diese Nachfrage. So sollte nur eine Förmlichkeit erfüllt werden.
Besorgten Sie, daß mein Erscheinen auf diesem Schlosse und meine Zurückgezogenheit auffällt? Hörten Sie etwas darüber?
Man bedauerte, daß Sie nicht zu dem Diner kamen. Niemand verlangte, daß ich von Ihnen mehr sagte, als daß Sie ein älterer Freund und Gönner meiner heute über Gebühr gefeierten Person sind.
Louis theilte nun Murray in gedrängter Kürze seine Erfahrungen mit. Ackermann's Benehmen in dieser Gesellschaft schien Murray recht ein sprechender Beweis für den Charakter, den er in ihm schon am Missouri erkannt hatte.
Ich sehe die Ironie auf seinem Antlitz! sagte er. Denn Sie müssen wissen, daß mir Ackermann oft erschien wie ein den höchsten Ständen angehörender Flüchtling. Sein Incognito war sozusagen wie das eines Fürsten. Bei jeder Lüftung seines Rockes glaubte man einen Stern auf der Brust zu sehen...
Louis erzählte von den Huldigungen, die man dem Fürsten Egon dargebracht hätte, verweilte aber am längsten bei der überraschenden Begegnung mit Siegbert Wildungen. Das, was Murray am meisten interessiren mußte, Fränzchen's Übersiedlung aus dem Forsthause, schien er ganz zu vergessen...
Endlich kam auch Louis auf diese und konnte nicht umhin, von Murray's Schwester eine Schilderung zu machen, die Niemanden mehr bekümmerte als diesen selbst.
Ist sie, sagte er, wie ich fast für gewiß annehmen muß, in einem kindischen Zustande, denkt ihr Geist nur an das Nächste, wie soll ich von der Vergangenheit etwas erfahren können! Was hoffen Sie überhaupt von meinen Absichten, lieber Louis? Ich sitze hier still in diesem Eckzimmer, lese, gravire, klimpere auch auf dem verstimmten Flügel... wird der Zufall mir Das, was ich suche, in den Schooß werfen?
Ich fühle Ihren Vorwurf, Murray –
Keinen Vorwurf, junger Freund! Wenn ich mir zum Neide auch manchmal eine Tugend, die uns zum Guten spornen kann, denken muß, so kann ich wohl sagen: Wie beneid' ich Sie um diesen frischen sorglosen Genuß Ihrer kleinen anregenden Begegnisse! Wie frisch, wie herbstlich angeröthet sehen Sie aus! Wie heiter scheint Sie all' dies Einblicken in fremde Herzen und fremde Interessen zu ergreifen! Und Sie lieben, Freund! Sie sahen einem jungen Mädchen in's Auge! Wie könnt' ich da verlangen, daß Sie auf die Buße denken, die ich mir für alte Sünden auferlegte. Vergeben Sie, daß ich Sie Ihren Fuß in meine finstern Kreise setzen ließ!
Murray! Murray! Was reden Sie? Ich Ihnen vergeben? Vergeben, daß Sie mich in das innerste Getriebe Ihrer geläuterten Seele haben blicken lassen? Ach, ich lauer, träger Freund! Morgen versprech' ich Ihnen, daß wir Hand anlegen und zu einem Ziele kommen. Ich bin nicht so leichtsinnig gewesen, nur an mich zu denken. Ich habe überlegt...
Mit Vorsicht?
Ich denke, wir knüpfen an das verstimmte Instrument an. Ich gehe und lade Ihren blinden Bruder ein mit seinem Sohne, der nicht hört...
Aber sieht...
Das ist schlimm! Ich möchte, Zeck träte hier ein – Sie sitzen in einer Ecke und beachten unser Gespräch – Ich beginne von Zeck's Verhältnissen und lenke immer mehr auf den Punkt hin, wo ich etwa mich stellen könnte, als wenn ich von Ursula Marzahn Dinge gehört hätte, die ich von ihm bestätigt wünschte...
Dies System macht einem Inquirenten Ehre! sagte Murray lächelnd. Aber ich fürchte die Gegenwart eines Solchen, der mich sehen kann...
Ich will etwas ausdenken, den Sohn zu entfernen und nur den Alten im Zimmer zu behalten... er ist trotz seiner Blendung von einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit und wird an dem Instrumente bald erkennen, was wir wünschen –
Wohlan! Es gibt keinen andern Weg! Und wissen Sie, daß ich das Nächste, Beste wählen muß aus einem mir plötzlich doch aufgestiegenen, sonderbaren ängstlichen Gefühle...
Fürchten Sie etwas?
Wenn ich den Gedanken an meine Sicherheit Furcht nennen soll, so fürcht' ich wirklich...
Weil man nach unsrem Namen fragte?
Nein, weil man mich beobachtet. Sehen Sie dort zum Garten hinüber, hinter den Büschen!
Louis stand betroffen auf und wollte an das Fenster, auf das Murray deutete.
Murray hielt ihn aber mit den Worten zurück:
Nein! Nicht so! Erst nehmen Sie das Licht und stellen Sie es an ein andres Fenster! Dann werden die Lauscher glauben, daß wir dort stehen, und da hervortreten, wo wir sie sehen können, ohne gesehen zu werden.
Ich bin erstaunt!... sagte Louis, stellte das Licht gegen ein andres Fenster und folgte Murray hinter eine Gardine.
Sehen Sie hinter den entlaubten Büschen jene beiden Männer?
Nicht deutlich. Es ist zu finster...
Warten Sie eine Weile, bis sich Ihr Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat. Sehen Sie nur starr in die Nacht hinaus!
Ich erblicke etwas –
Die Büsche bewegen sich –
Ich erblicke zwei Männer... in niedergedrückten Hüten –
Die sich vorbeugen –
Und die Fenster fixiren! Das sind Landstreicher! Seien Sie unbesorgt! Ich habe schon gestern von Heunisch gehört, daß Anzeige gekommen ist, man möchte alle Fremden streng bewachen –
Schon gestern umschlichen diese beiden Männer das Schloß –
Lassen Sie! Ich gehe hinunter...
Um's Himmelswillen! Setzen Sie sich keiner Gefahr aus!
Die Männer entfernen sich. Ich folge ihnen...
Nein, nein! Lassen Sie!
Sie sind verschwunden...
Genug, ich will nicht, daß Sie ihnen folgen. Bleiben Sie da!
Das kann ich nicht, Murray...
Louis bat den Alten nun um Vergebung, daß er ihn heute Abend wieder allein lasse. Er wolle mit Siegbert bei Oleander den Abend zubringen.
O gewiß! Thun Sie Das! sagte Murray. Wenn drei so reine Flammen ineinander flackern, Das muß ein behagliches Licht geben! Gehen Sie! Aber erst nach einer Weile.
Murray fesselte Louis durch die Wiederholung Dessen, was sie für morgen versuchen wollten. Dann kam Brigitte, ordnete das Bett, gab auf die Frage nach zwei Männern im Garten die Antwort, daß sie nichts gesehen hätte und es vielleicht der Kutscher und der Bediente der Frau von Sänger wären; kurz, Murray war endlich beruhigt und gestattete Louis hinunter zu gehen in die Schmiede, um seinen Bruder für morgen zu bestellen. Er wünschte Louis jede nur mögliche Anregung durch einen mit einem Künstler und einem Dichter zugebrachten Abend.
Louis sah sich unten nach allen Richtungen um, die beiden Männer zu entdecken. Er fand sie nicht. In der Schmiede war Alles wie ausgestorben. Das Handwerkszeug lag umher. Die Kohlen waren verglüht auf dem Herde. Louis rief. Niemand antwortete. Eine Treppe, bemerkte er in der Dunkelheit, ging von der Werkstatt empor. Er rief hinauf. Die Stimme eines alten Weibes ließ sich hören.
Ist denn Niemand hier? fragte Louis laut hinauf.
Niemand hier! wiederholte es fast echoartig.
Alles fort?
Alles fort!
Wie ausgestorben und ausgeflogen?
Jetzt hörte er Holzpantoffeln.
Eine kleine gebückte Alte kam mit einer Laterne...
Du mein Gott, lärmte sie, sind die beiden Taugenichtse fort –
Der alte Zeck und sein Sohn? fragte Louis erstaunt über dieses Prädikat, das im Munde eines wie es schien hier dienenden Wesens etwas vermessen war.
Nein, hieß es, die beiden Gesellen!
Hier ist Niemand. Wo ist der Meister und sein Sohn?
Dieses Volk!
Wetter! rief Louis. Ich frage nach Denen, die ihr nicht Volk nennen werdet. Sind sie im Ullagrund?
Die beiden alten Schlingel?
Die krumme Alte kam aus dem Zorn über die unerlaubte Abwesenheit der beiden Gesellen nicht heraus. Sie wetterte über diese unzuverlässigen Spitzbuben, die jedoch morgen, Gott sei Dank! mit dem letzten Wochentage das Weitere zu suchen hätten.
Louis zweifelte kaum daran, daß die beiden so heftig vermaledeiten Gesellen die Späher im Garten waren und beschloß ernstlich auf seiner Hut zu sein.
Als er den alten und jungen Zeck zu morgen früh zehn Uhr, falls er nicht im Ullagrunde arbeitete, auf das Schloß bestellt hatte, konnte er nicht umhin, die Alte zu fragen, ob sie schon lange bei dem Meister diene. Sie sagte:
Funfzehn Jahre!
Es drängte ihn, sie weiter auszufragen; doch fürchtete er, dem mistrauischen Blinden, der gewiß jedes seiner Worte wiedererzählt bekam, damit Verdacht zu erwecken. Er wiederholte daher nur einfach seine Bestellung und verließ die Schmiede, während die Alte sich nicht beruhigen konnte, wo die beiden Gesellen, wie sie sagte, ein Ende genommen hätten.
Louis beflügelte jetzt seinen Schritt, um an das Pfarrhaus zu kommen. Wie erstaunte er, als er in der Ferne deutlich wieder jene beiden Gestalten entdeckte, aber nicht allein, sondern mit einem Manne in Amtskleidung im Gespräch begriffen! Sie trugen kurze Jacken und waren ohne Zweifel die beiden unfleißigen Arbeiter. Den Mann in der Amtskleidung hatte er bei dem Diner heute auf dem Corridor gesehen. Er folgte den Dreien, die ruhig und wie im vertraulichsten Gespräch nebeneinander schlenderten. Sie schlugen den Weg zum Amthause ein. Jetzt wandten sie sich, blieben eine Weile stehen, zeigten auf das Schloß hinauf und traten dann wieder ihre Wanderung zum Amthause an, wo sie zuletzt durch einen Vorbau Louis' weiteren Blicken entzogen waren.
Er war dabei über das Pfarrhaus schon hinausgekommen.
Nachdenklich mußte er stehen bleiben und sich zu erklären suchen, was er von diesem Vorfalle denken sollte. Die Furcht vor Dieben gab er auf. Da ihm nichts beifallen wollte, was ihm ganz wahrscheinlich dünkte, so glaubte er zuletzt sich beruhigen zu können und voraussetzen zu müssen, daß diese Arbeiter in das Amtshaus wären gerufen worden zu irgend einer mit dem Schlosse in Verbindung stehenden Reparatur oder einer sonstigen Dienstleistung.
Er kehrte zum Pfarrhause zurück und sah in das nicht geschlossene, matt erleuchtete Fenster. Es war eine Scene, die ihn fesselte. Zwei Kinder saßen um einen runden Tisch und hatten große Zeitungen vor sich aufgeschlagen, aus denen Siegbert sie vorlesen ließ. Die Mutter, das jüngste schlummernde Kind im Schooße, mit einem Strickstrumpf in der Hand, sah bald auf diesen, bald auf das Kind, bald auf Siegbert, der seine Freude an dem geläufigen Lesen der Kinder hatte und ihnen das Gelesene zu erklären schien. Sie lächelte vor Vergnügen über die Fertigkeiten, besonders Hedwig's, die alle von Siegbert ihr vorgelegten Fragen gewandt beantwortete. Dazu das matte Licht einer kleinen Lampe, die lautpickende, bis draußen hörbare Wanduhr, die Stille im Dorfe... Louis mochte sich kaum entschließen, die einfache, friedliche Scene zu stören. Aber der Hund, der unterm Tisch lag, witterte ihn und schlug an. Da mußte er in die Hausthür und seinen guten Abend sagen.
Ich bin lange geblieben...
Oleander ist auch noch nicht da, bemerkte die Pfarrerin. Die Müllerin hat ein zehrendes Siechthum und bittet immer den Guten, ihr Abends ein Capitel aus der Bibel vorzulesen. Heut' sind es mehr geworden, sagte sie. Er bleibt lange...
Inzwischen haben mir die Kleinen aus dem »Jahrhundert« die Werke ihres Papas vorgelesen, sagte Siegbert und zeigte auf die großen Blätter, die über den Tisch ausgebreitet lagen...
Wir bekommen sie vom Justizdirektor, sagte die Pfarrerin. Sie sind immer schon längst gelesen. Wenn sie die Reihe herum sind, bekommen wir sie auch noch und die Kinder freuen sich immer, wenn da steht: Guido Stromer.
Hier ist noch etwas vom Vater, rief Hedwig und zeigte auf ein Gedicht...
Oleander bleibt lange aus. Das Theewasser steht schon oben, bemerkte die Pfarrerin.
Lies dem Herrn Louis Armand auch etwas vor, Hedwig, bemerkte Siegbert. Du hast einen Vater, den alle Menschen hochverehren, weil ihm Gott die herrlichsten Gaben verliehen.
Einen leisen Seufzer, der durch das Zimmer fuhr, hörten Louis und Siegbert nicht. Er kam von der Pfarrerin...
Hedwig las: »An Diotima«...
Wer ist Diotima? fragte sie...
Diotima? sagte Siegbert und blickte auf die Zeitung, die in ihrem Feuilleton ein Gedicht auf Diotima enthielt mit der Unterschrift: Guido Stromer.
Diotima, sagte er, mein Kind, Diotima und Aspasia waren Freundinnen berühmter Weltweisen des Alterthums und werden noch jetzt als Bezeichnung schöner, sehr edler Frauen gebraucht. Diotima heißt auf Deutsch: die Gottesfürchtige.
Die Uhr hatte einen singenden Ton bei ihren Pendelschwingungen. Es raschelte fast geheimnißvoll im Zimmer...
Hedwig las: »An Diotima: Windest du Rosen in's Haar dir, Göttliche, wähle die weißen! Denn in den weißen noch glüht zart ein beschämendes Roth«.
Der Hund schlug an und schnupperte...
Liebt der Vater die weißen Rosen? fragte Siegbert, dem diese Distichen nicht für Kinder geeignet vorkamen und der Olga's gedenken mußte.
Wir haben im Sommer mehr weiße als rothe im Garten, sagte Hedwig.
Der Kirchhof, fiel seufzend die Mutter ein, liegt dicht an unserm Garten...
Siegbert machte Louis eine Miene, ob sie nicht hinaufgehen wollten?
Aber Hedwig hielt ihn zurück und rief:
Da ist noch ein Gedicht an die andere gute Dame: Aspasia! Soll ich es lesen?
Die Pfarrerin blickte auf ihr schlummerndes Kind. Ach, es lag ein unendliches Weh in ihren Augen, so drückend, so schwer, wie diese Schwüle im Zimmer...
Ohne die Erlaubniß abzuwarten, las Hedwig: »An Aspasia: Dir, der Schwester, das Roth! Die Centifolie pranget wie in Kohlen die Glut schöner im glänzenden Schwarz«.
Die Uhr schrillte, wie immer, wenn sie eben schlagen wollte...
Oleander kam nun und erlöste Siegbert, der von Guido Stromer's excentrischem Leben mehr wußte als hier Alle, erlöste ihn von der Pein, die Kinder das Lob entziffern zu hören, das der »seinem Genius folgende« Vater wol schwerlich hier an die alten Freundinnen des Sokrates gerichtet hatte...
Ach, in die leise Wehmuth, die auf diesem Nebelbilde des Lebens ruhte, kam noch Oleander's Wort:
Die Müllerin ist eben entschlafen...
Die Pfarrerin erschrak.
Reinick war von der Tafel gleich zu ihr gegangen, sagte Oleander, und blieb bis jetzt...
Indem rollte auch der Wagen des treuen Arztes am Hause vorüber...
Ihre Augen sind zu, sagte Oleander. Ihr Ohr hörte noch lange, was ich las und sprach. Dann hielt sie mir die Hand so hin, daß ich sie faßte. Sie starb, wie ein Licht erlischt. Und dabei hielt die Mühle nicht still. Die und der Müller waren seit Jahren an das Sterben der Müllerin gewöhnt. Das Mühlrad rundum und sie stirbt. Ich hätte nicht einmal gemocht, daß es schwieg. Wir fahren so hin. Leben, Tod, Tod, Leben... Eins lehnt sich an's Andre... Und es ist tröstlich so. Genug. Es ist vorbei. Kommen Sie nun hinauf, lieben Freunde!
Louis und Siegbert folgten bewegt dem Vikar, der hinausschritt auf die Treppe zu und auf ihr voranging. Die Pfarrerin leuchtete...
Oben ist Licht! sagte sie tonlos...
Oben ist Licht! wiederholte Oleander, sinnig das Wort deutend auf die Entschlafene...
Die drei guten, sanften Menschen stiegen hinauf...
Die Pfarrerin aber weinte noch lange – um die Nachbarin? Von dem Engel, der im Zimmer unsichtbar stand und über diese Gedichte auf Aspasia und Diotima, vorgetragen von den eignen Kindern, gewidmet zweien unwürdigen Frauen, weinte, bemerkte sie wol nichts. Dieser Engel hielt ihr wol nicht das Buch entgegen, wo sie hätte gezeichnet sehen können Oleander den Pfarrverweser an dem Sterbebett der Müllerin und Den, dessen Dienst und hohen Beruf er vertrat, vielleicht im selben Augenblick in einem Salon unter hellen Kerzen Geist zerzupfend, Ideen wie Brillanten in den Augen schöner Weiber sich brechen lassend, vielleicht schmachtend zwischen Melanie und Pauline und Egon, vielleicht gar unter dem gespenstisch warnenden, finster drohenden flammenden Kreuze wieder, wie damals... die gute Frau sah – die Himmlischen bewahrten uns vor zu ferntragenden Augen – nur den Tod der Müllerin, hörte nur das ferne Verrollen des Wagens, der den treuen Arzt nach Randhartingen zurückbrachte, hörte nur das Rauschen der Mühle, das wie ein Sterbelied ihr erklang und ermahnte die Kinder, zu Bett zu gehen und mit ihrem gewohnten Abendsegen und in Liebe zu ihrem Vater einzuschlafen...
Oben aber brachten drei edle Menschen bis gegen Mitternacht im glücklichsten Gespräche über die Fragen zu: Was ist Poesie? Was wahre Kunst? Was Tugend? Was Pflicht? Was Leben? Was Tod und Unsterblichkeit?
Mit dem Aufgang des Mondes, lange nach zehn Uhr, stiegen Louis und Siegbert unbehindert zum Schlosse empor und ruhten von einem schönen dankenswerthen Tage aus.