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Zweites Capitel.

Morton.

Nun zuerst einen Gruß von Fränzchen, begann Louis Armand und nochmals tausend Dank für die freundliche und sorgsame Art, wie Ihr sie hierherbegleitet habt! Sie hat mir gestanden...

Hundertmal, daß sie Euch liebt! schaltete Murray scherzend ein.

Nein! Daß sie Euch fürchtete...

Mich!

Anfangs!

Nun?

Ich hätt' es kaum gedacht, fuhr Louis fort. Als ich ihr sagte: Fränzchen, wir haben Feinde, die uns Böses wollen, nehmen Sie die Bitte des Onkels an, gehen Sie auf diesen Winter zu ihm. Ich werde in Ihrer Nähe sein; denn ich muß nach Hohenberg und wie sie gleich freudig einstimmte: Darf ich denn mit Ihnen reisen? Da hatt' ich ihr von Ihnen das Beste und Schönste gesagt...

Weil Sie selbst nicht daran glaubten, so fehlte wol die Wirkung?

Louis nahm die Tasse Thee, die ihm Murray entgegenhielt, stellte sie auf den Tisch und legte sanft die Hand über Murray's Schulter.

Ich nicht daran glauben, Papa? sagte er. Weiß ich doch nur wenige Augenblicke meines Lebens, die mir so denkwürdig bleiben werden wie der, wo ein ganz fremder Herr zu mir tritt und sagte: Lieben Sie Franziska Heunisch?

Haha! Sie sagten nicht Ja! Sie waren nicht aufrichtig oder Ihr Gefühl schwankte, während das arme Herz des Kindes wie ein Anker felsenfest im Meere stand.

Ich sagte leider nicht mehr, als daß ich Franziska mit meinem Leben schützen und daß ich sie nur Dem abtreten würde, von dem ich überzeugt wäre, daß er sie glücklicher machen würde, als ich noch bis jetzt im Stande wäre...

Haben Sie ihr Das so wörtlich wiedererzählt? Ein Mädchen hört das einfache Wort Liebe viel tausendmal lieber als die prächtigsten Umschreibungen desselben.

Franziska kennt mich, fuhr Louis fort. Sie vertraute mir sogleich, als ich ihr sagte: Freundin, Ihre Ruhe ist bedroht. Glauben Sie Feinde zu haben? Und als ich die Andeutungen wiederholte, die ich von Ihnen gehört hatte, erschrak sie heftig und wiederholte Namen...

Die ich Ihnen doch nicht genannt hatte? bemerkte Murray.

Sie waren geheimnißvoller, als ich wünschen mußte. Aber ich vertraute Ihnen. Ich glaubte Ihnen, daß die Nachstellungen, die der Eine verweigern würde, bei einem Andern leichteres Gehör finden konnten und gesteh' ich's nur, da ich selbst nach diesem Schlosse sollte...

So glaubten Sie meinem Märchen und haben sich mit Ihrem guten Herzen fangen lassen.

Louis nahm eben einen Imbiß, den ihm Murray, der selbst sehr wenig genoß, zurecht gemacht hatte...

Sie haben mir kein Märchen erzählt, sagte Louis Armand ernst und blickte in das eine, unruhige, offene Auge, das Murray niederschlug und nicht wollte prüfen lassen. Wenn Sie mir eine Reihe von großen Verdiensten aufgezählt hätten, o ja! Dann würd' ich gezweifelt haben. Aber Sie haben nur Schlimmes von sich gesagt.

Was Sie Franziska wiederholten? Nun begreif' ich freilich, daß das Mädchen in mir nur den Besucher des Fortunaballes finden wollte und recht scheu, recht in den Tod erschrocken war, als ich sie in dem Wägelchen abholte, um mit ihr hierher zu reisen...

Das hat sie mir erzählt, sagte Louis, aber auch hinzugefügt... daß Sie Thränen im Auge hatten...

Ich kam vom Kirchhof...

Wo Sie jenes Mädchen bestatteten, das Fränzchen in jener Nacht an Ihrem Arme gesehen...

Die!

Sie sprachen stundenlang kein Wort und seufzten nur...

Grabesstimmung.

Und dann fingen Sie von der Natur an, die nun scheidet, von den Blättern, die schon gefallen waren und vom Tode, der uns Allen Ruhe geben wird.

Verhaltene Predigten. Wir möchten Alle am liebsten Fürsten oder Priester sein.

Ist's nicht so?

Schon recht! Ich war bewegt! Ich ganz allein stand an dem Grabe einer Unglücklichen! Ach! Ich ganz allein! Der Kirchhof, wie war der noch neu, noch ohne Bäume und Blumen! Wie frostig wehte der Wind darüber und fand nicht einmal Halme zum Niederbeugen. Die Gräber ohne Schmuck. Die Todten der öffentlichen Krankenpflege... wer feiert ihr Angedenken? Wer sieht ihnen mit Liebe in die gelbe Grube nach? Ein Handwerker lag da im Todtenhaus... fern sind seine Ältern, die vielleicht gar nicht wissen, daß er schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie sagen nur: Wie lang er nicht schreibt! Was ist ihm nur! Da liegt er. Da ein Dienstbote – da ein Verunglückter, der nicht einmal in die Erde, nein, zu den jungen Ärzten dort kommt, die ihn zerstückeln und präpariren werden! Welche Mühe hat es mir gekostet, meine arme Todte aus ihren Händen zu retten! Wie war sie schön noch auf der Bahre! Die Messer der Ärzte zuckten recht nach diesen Formen! Das blutschwarze Mahl an der Stirn, auf die sie beim Sturze aus dem Fenster gefallen war, entstellte sie nicht. Ich strich eine Locke darüber her; nun war's verdeckt. Aus dem Todtenhause trugen sie den Sarg. Ich folgte allein und betete ein Vaterunser. Dann drei Handvoll Erde, die Spaten thaten das Übrige. Adieu!

Murray blickte nieder.

Der Lebenslauf von Tausenden! sagte Louis bewegt und sein Nachtmahl eine Weile leise zurückschiebend. Ein schönes Mädchen, arm, ohne Freunde, verführt, wahnsinnig... wer sieht auf all' die Opfer, die auf unsrem Lebenswege liegen! Das Alles geht so still vor sich hinter Mauern und verschlossenen Thüren. Wer sucht das eigentliche Mysterium des Lebens auf den Kirchhöfen!

Sich aufraffend fuhr aber Murray fort:

War es nicht gut, daß ich trauerte? Franziska hätte sich sonst vor einem Manne entsetzt, der vor ihren Augen in's Gefängniß geführt wurde. Eine Thräne wirkt soviel?

Nein! Nein! sagte Louis. Ich hatte sie vorbereitet auf einen jener Philosophen, die die Weihe des Geistes nicht durch die Wissenschaft und ihr Studium, sondern durch das Leben empfangen haben! Ich hatte ihr gesagt, daß Sie Gründe hätten, diese Umgebung des Schlosses Hohenberg zu besuchen und ein Geheimniß sogar an sie und ihren Namen Sie kette...

Ein Geheimniß, das ich ihr leider nicht auf unsrer Reise erzählen konnte, sagte Murray, aber Geheimnisse, die man nicht nennt, knüpfen gerade nicht aneinander. Ich sah es ihr an, daß sie frohlockte, hier endlich Sie wiederzusehen. Sie waren schneller gereist, als wir. Wie findet sie sich denn nun in dem Walde zurecht?

Louis erzählte.

Der Förster, sagte er, rührte mich gestern, wie liebevoll er sie empfing. Er fuhr sie selbst in seine Wohnung, die nicht zu weit von uns entfernt ist. Dort angekommen, zeigt' er ihr das Stübchen, das er ihr eingerichtet. Es ist so still und traurig hinauszusehen in den entlaubten Forst, aber so lebendig im Zimmer, als wär' der Wald hier so lange einquartiert bis zum Frühjahr. Da singen Vögel in Käfigen, da stehen große Blumen in Töpfen, da hängen Hirschgeweihe an den Wänden und wenn es recht still ist und der Sturm einmal nachläßt, hört man die Thurmuhr von Plessen nach dem Jägerhause deutlich hinüberschlagen und das ist ja gerade, als sprächen wir miteinander so weit zusammen.

Und Ursula Marzahn? fragte Murray mit forschendem Blick.

Liegt krank im Bett.

Bedenklich?

Der Onkel gibt sie auf. Ich hörte sie ächzen in einer obern Kammer über Fränzchen. Ich wollte auf einen Arzt dringen. Da hilft nichts, sagte Heunisch. Sie hat ihre Kräuter, ihren Thee, den sie sich selbst bereitet. Sie studirte bei Doctor Lehmann, sagte er. Sie nimmt nichts und will nur Ruhe haben.

Murray stand auf. Die Nachricht schien ihn zu ängstigen...

Was haben Sie? Sie sind bewegt? fragte Louis.

Und wie! Und wie! rief Murray. Hängt doch diese Frau mit meinem Geheimniß zusammen, ohne daß ich mich ihr entdecken möchte... Wenn sie aber stürbe...

Sie ist die Schwester des blinden Schmieds...

Ich weiß es, die Tante des Tauben! Erwähnen Sie diese Menschen nicht wieder! Die Zeit ist noch nicht günstig, um mich in das Andenken dieser beiden Geschwister zurückzurufen.

Ich verhehle Ihnen nicht, sagte Louis, daß der Ruf dieser Geschwister kein guter ist. Franziska hat mir anvertraut, daß sie vor Ursula Marzahn Grauen empfände und dem blinden Schmied weicht Jeder aus...

Murray schwieg nachdenklich.

Neuerdings haben sie, fuhr Louis fort, aus Amerika eine Erbschaft empfangen von einem dort verstorbenen Bruder...

Haben sie? sagte Murray lebhaft...

Und sonderbar, der diese Erbschaft überbrachte, erzählte mir der Förster, ist jener Ackermann, der nun diese Besitzungen Egon's in Pacht genommen und über dessen Anstalten ich die Urtheile einziehen soll...

Wer? sagte Murray und blieb erstarrt stehen.

Wer brachte das Geld? fragte er dringender.

Der jetzige Generalpächter drüben... Ackermann! Ich selbst überbrachte ihm Egon's Genehmigung zu seinem Anerbieten, kurz ehe des Fürsten Krankheit in ein gefährliches Stadium überschlug...

Ackermann! Ackermann! wiederholte Murray.

Befremdet Sie dieser Name? fragte Louis.

Ich kenne ihn nicht, sagte Murray, und dennoch erfahre ich nun von Ihnen Dinge, die mich bestimmen, hier wie ein Einsiedler zu leben. Ich komme auf Das, mein Freund, was ich Ihnen vor acht Tagen sagte, zurück. Ich nannte mich damals einen Schatten, der über die Erde, in der er einst als Mensch lebte, fehlte und büßte, noch einmal hinstreift und keine Ansprüche mehr auf eigenes Glück, ja nicht einmal mehr auf das Glück der richtigen Beurtheilung macht. Ich gestand Ihnen, daß ich einst der sittlichen Welt entrückt war, durch den Drang des Ehrgeizes entrückt, von Liebe geblendet. Das Verbrechen, das ich beging, soll ich es Ihnen nennen?

Nein, nein, sagte Louis. Schließen Sie in Ihr Herz ein, was Sie gebüßt haben! Sie sind ein Weiser, den ich hoch verehre. Ich will nicht wissen, wie Sie es geworden sind.

Wissen Sie wol, sagte Murray, daß das Bedürfniß der Beichte ein tiefes Mysterium ist?

Ich bin Katholik! antwortete Louis.

Das sagt Alles! Es ist eine der festesten Stützen des alten römischen Glaubens. Es ist eine Stütze, die sich auf die menschliche Natur gründet. Das Geheimniß der Beichte ist die Zauberformel, die den Laien an den Priester bindet, die Bürgschaft einer über alle menschlichen Umgangsformen hinausgehenden Vertraulichkeit, eine Ehe der Herzen. Das Bedürfniß der Beichte ist der Wahrheitsdrang des Menschen, ja oft die einzige Ermuthigung zur Tugend. Nur wer sich in einem Andern darlegen kann, in einem Andern ausruhen mag, fühlt wahre Reue und, ist der Andre edel und gut, ein sanfter Priester auch ohne Priesterrock und Weihe, wahre Ruhe.

Ich kenne, sagte Louis, zwei Priester, die würdiger wären als ich, Sie zu hören.

Wer wären diese?

Louis nannte die Brüder Siegbert und Dankmar Wildungen und freute sich innerlichst, mit kräftiger Betonung dieser Namen gleichsam Zeugniß für den großen Werth dieser beiden Menschen abzulegen.

Ich kenne sie nicht, sagte Murray. Ich darf die Kette der guten Menschen, denen ich mich vertraute, nicht zu weit ausdehnen. Ich darf aber auch nicht länger schweigen. Ich bedarf einer Unterstützung der letzten Absichten, die mich noch an dies Leben knüpfen. Ich darf nicht länger so hinschleichen und suchen und muß es wagen endlich einmal aus mir herauszutreten. Wissen Sie, daß das Bedürfniß der Beichte mich schon oft trieb, jenem Manne mich anzuvertrauen, der den Geschwistern Zeck eine Erbschaft aus Amerika brachte?

Er ist in der Nähe! Vertrauen Sie sich ihm, Murray.

Wie kommt er zu dem Namen Ackermann?

Wäre dies nicht sein rechter?

Murray schwieg und überlegte... Er gedachte seines eigenen amerikanischen Namens Morton. Ackermann hatte anders geheißen.

Nein, nein, sagte er endlich, auch für ihn darf ich nichts als Murray sein. Auch ihm muß ich verborgen bleiben... und doch... und doch...

Louis stand auf und ergriff Murray's Hand.

Sie leiden, sagte er. Hab' ich etwas, das Ihnen würdig scheint, Ihr Vertrauter zu werden, so mistrauen Sie wenigstens nicht meiner Jugend. Ich kann verschwiegen sein und verstehe die Irrgänge der Herzen. Wer dem Volke nahe lebt, lernt mit Schmerz die wunderbaren Verwandtschaften kennen zwischen Gut und Bös, Muth und Verbrechen, Größe und sittlichem Elend.

Recht! sagte Murray, als Louis zögerte, die Gegensätze so schnell auszusprechen. Recht! Ich darf kein Schatten bleiben. Ich muß einen Körper haben. Ich brauche einen Freund, der mich unterstützt, um noch einmal aufzuleben. Sie stehen den Menschen, bei denen ich zuerst zu fragen, zuerst zu suchen und zu forschen habe, am nächsten. Hören Sie also, Sie müssen hören, Sie, Sie – und schaudern Sie vor mir!

Louis ging an die verriegelte Thür, öffnete und sah in's Vorzimmer. Es war Alles still. Er kehrte zurück und schüttelte den Kopf, als fürchtete er nicht das Mindeste, was er hier hören sollte.

Als er sich gesetzt hatte, wandte sich Murray an den Tisch, an dem er zu arbeiten versucht hatte. Er hob das Papier ab, nahm die Kupferplatte, die es bedeckt hatte, hielt die Platte gegen Louis hin und zeigte sie ihm.

Sie sind ein Künstler! sagte Louis. Schon gestern sah ich's an den Zeichnungen auf dem Tisch.

Lesen Sie! sagte Murray ruhig.

Louis betrachtete die Platte.

Es ist verkehrte Schrift! sagte er. Ich will versuchen, sie zu lesen.

Er buchstabirte:

»Louis Armand, Kunsttischler und Vergolder«.

Ich wollte Sie überraschen, sagte Murray zu Louis, der von dieser Aufmerksamkeit angenehm berührt war; ich wollte Ihnen ein Geschenk machen und hoffe, diese Visitenkarten auch noch zur Ausführung zu bringen. Sie sehen daraus mit wenig Worten, daß ich eigentlich ein Kupferstecher bin.

Louis betrachtete die Platte mit großem Wohlgefallen und freute sich der Verwandtschaft des Arbeiterberufes.

Murray aber mit jenem sichern Gefühle der Anlehnung, das uns in dieser Welt zu selten zu Theil wird, mit jenem anschmiegsamen Behagen an eine völlig interesselose und doch tief wohlwollende und rein hingegebene Natur, fuhr fort:

Ich bin der Sohn gewöhnlicher Eltern. Es gibt aber gewöhnliche Menschen, die alle Keime besserer Entwickelung in sich tragen. So war es bei dem Ehepaar, das mir, einem Bruder und einer Schwester das Leben gab. Nun geht Das aber so, das Bedeutende kommt, wo es seine wahre Richtung, gesund und ungehindert aufwachsend, nicht findet, verkehrt zur Welt. Der innere Gehalt kann die äußre Form nicht verklären, nicht veredeln. So wuchert das Bedeutende in Misgestaltung auf und es kommen statt guter, ungeschlachte Dinge zum Vorschein. Meine Eltern, rohe Menschen, wenn man's so nehmen will, gingen in Selbstplage, Verschwendung, wenn sie etwas besaßen, Schulden, wenn sie darbten, verworrenen sittlichen Begriffen zu Grunde. Ihr wirres Wesen vererbte sich zumeist auf die Schwester, die älteste von uns Dreien, die wie ein wildes Gewächs aufschoß und keine andre Schranke ihrer Begierden hatte als die immer erneute Begierde selbst. Sie hatte gute Keime, Hingebung, Aufopferung, Großherzigkeit, aber da sie nur ihrem Instinkte folgte, so ergriff sie, um diesen Regungen zu genügen, jedes Mittel und war im Lasterhaften fast tugendhaft, in der Regellosigkeit wahrhaft strebsam und treu, in der Verachtung jeder Rücksicht großartig wie einer jener Verbrecher, die die Geschichte zu Helden machte, weil ihnen irgend ein großes verbotenes Wagniß gelang... Doch ich störe Ihr Abendessen mit diesen Reflexionen! unterbrach sich Murray.

Nein, nein, ich genieße schon! sagte Louis, bediente sich wieder ein wenig der Vorräthe, die vor ihnen standen und hörte einer Auseinandersetzung zu, die er gerade sehr lehrreich nannte. Murray erschien ihm wie ein Weiser. So ruhig, so klar blickte dieser seltsame Mann auf die Vergangenheit zurück, so tief waren die Gänge angelegt, die er sich durch das Menschenherz zu bahnen wußte. Er mußte viel gelitten, viel beobachtet haben.

Diese Schwester, fuhr Murray fort, war natürlich (denn ich spreche von den gewöhnlichsten Menschen) nur ein Dienstbote und dennoch, trotzdem, daß sie ohne Bildung und Form war, gibt sie mir Anlaß, sowie ich vorhin andeutete, über sie nachzudenken. Der ältere Bruder war roh, von gewaltiger Muskelkraft, gewinnsüchtig, heimtückisch und nicht ohne Anschlägigkeit zu mancherlei Fertigkeiten. Er wählte das Handwerk des Vaters und wurde Schmied, wie mein Vater war.

Louis' Blick fiel zufällig auf das Fenster und sah durch Regen und Nebel einen kleinen glühenden Schein in der Ferne und ein gewaltiges klingendes Aufpochen der Hämmer wie im Takte... Es kam von der Zeck'schen Schmiede.

Ohne näher anzugeben, daß der blinde Zeck sein Bruder war, folgte Murray dem Blicke Louis' und erkannte, was ihn fesselte. Er mußte einen Augenblick schweigen, so ergriff ihn die Vorstellung, daß der Schlag des Hammers, den sein Bruder schwang, seine Erzählung von ihm begleitete, und anregend genug ist eine Schmiede, so in der Herbstnacht glühend, so fernhin hörbar und an ihrem Scheine durch den Nebel leuchtend!

In einer Schmiede, fuhr Murray fort, verkehrt viel Volks und zu allen Zeiten hatten die Söhne Vulkans ihr apartes Wesen. Ein Hauptkunde meines Vaters, der dicht an dem Thore der Stadt sein Geschäft trieb, war ein berühmter Pferdearzt, der aus nicht seltener Liebhaberei auch das Amt eines Scharfrichters nicht weit vom Thore bekleidete. Zu diesem zog meine Schwester Ursula und lebte eine Reihe von Jahren mit ihm, bis sie einen Soldaten kennen lernte, den sie später geheirathet hat, als er eine Förstersstelle beim alten Fürsten von Hohenberg erhielt. Früh schon entfernte ich mich von den Meinigen und hatte das Glück in gute Hände zu gerathen. Anfangs war ich Uhrmacher bei einem französischen Schweizer aus La Chaud de Fonds, einem wunderlichen Kauze, der mir viel von der Philosophie Rousseau's und Voltaire's beibrachte, das lange in mir sitzen blieb, aber auch sein Französisch blieb sitzen. Ich lernte von ihm denken und sprechen; aber mit dem Parliren und dem leichten Philosophiren meines Schweizers begannen auch meine Irrthümer. Die Zusammensetzung der Uhren machte mir keine Freude mehr. Ich bemerkte, daß ich ein Talent besaß, auf den Gehäusen Chiffern einzukratzen, sogar falsche, denn diese Uhren sollten oft für Breguets gelten und waren keine. Da blieb ich auf dem Wege zu der Kunst, von der ich Ihnen hier eine Probe zeigte. Ich wurde Kupferstecher und vervollkommnete mich bis zum Künstler. Ein Auftrag führte mich nach England. Ich sollte dorthin einen hohen Polizeibeamten begleiten, der falschen, in England angefertigten Tresorscheinen unsres Staates nachzuspüren hatte. Wir entdeckten die Quelle des Betrugs, ernteten große Anerkennung und konnten ehrenvoll zurückreisen. Ich blieb aber in England und führte ein wildes, genußsüchtiges Leben. Schon war ich über dreißig Jahre, aber von vortheilhaftem Äußern. Sie lächeln, Freund? Verurtheilen Sie meine Eitelkeit nicht zu rasch! Ich besitze Toilettenkünste, um die mich Schauspieler beneiden könnten.

Wissen Sie, sagte Louis, daß Sie mir oft vorkommen wie ein jugendlicher Held, der nur die äußern Formen des Alters angenommen hat? Ich wette, unter dieser dunklen Perrücke steckt ein Haar, das nicht ein einziges graues zählt.

Wollen wir es untersuchen? sagte Murray und nahm die schwarze Binde und seine Tour ab.

Louis erschrak, ein kurzgeschornes, dickes, volles, aber ganz weißes Haar zu sehen...

Nicht wahr, ich bin eitel? sagte Murray lächelnd. Der Adonis weiß sich herzustellen.

Louis sah dies weiße Haar und den plötzlich geänderten ehrwürdigen Kopf eines kräftigen Greises nicht ohne Rührung. Doch mußte er hinzufügen:

Ich nenne Sie doch keinen Greis! Ich sehe weißes Haar, aber ein viel jugendlicheres Antlitz, viel mehr Kraft, als unter der abscheulichen Binde, die Sie nicht einmal nöthig haben, da ich nicht die geringste Verletzung an diesem Auge bemerke.

Doch! Doch! sagte Murray. Ich sehe schlecht an dieser Stelle. Eine Explosion hat hier die Sehnerven dieses Auges geschwächt. Dieselbe Explosion, die meinem Bruder ganz das Augenlicht raubte!

Louis staunte und sah nicht ohne eine Art von Grauen, das ihn durchrieselte, wie Murray wieder die Tour auf den Kopf drückte, die Binde wieder aufsetzte und unwillkürlich mit dieser Bewegung auch den Rücken wieder krümmte und zusammensank.

Murray indessen fuhr fort:

Von London kam ich als vollendeter Gentleman zurück. Ich sprach fertig zwei fremde Sprachen und hatte mir durch die großartigen Eindrücke des Auslandes Anschauungen erworben, die mich für die Heimat hier weit über meinen Stand erhoben. Seit frühester Kindheit litt ich an einer grenzenlosen Eitelkeit. Nichts lieber trug ich als kostbare Ringe an den Fingern, Uhren, Ketten auf der Weste, Sporen, Reitgerten. Ich hatte in England das Spiel liebgewonnen und mit ihm Einnahmen gemacht. In vollendeter Fertigkeit des Pharo kam ich nach Deutschland zurück und schlenderte wie ein Gentleman mit voller Börse durch die Bäder, deren Saison gerade in Flor war. Mein Hochmuth litt nicht, daß ich mich als den ehemaligen Kupferstecher Zeck zu erkennen gab. Ich nannte mich Baron Grimm und wußte mich durch Toilette, einnehmende Gestalt, Fortüne im Spiel, Sücces in der großen Gesellschaft so zu behaupten, daß ich mehre Jahre lang in meinem Incognito verharrte und die glücklichsten Eroberungen machte. Mein Spiel am grünen Tisch war ehrlich, Alles, Alles an mir war damals ehrlich, kühn, unternehmend, nur mein Name war eine Lüge. In derselben Residenz, wo wir uns kennen lernten, junger Freund, setzt' ich das Glück fort, das ich in den Bädern bei den Frauen gemacht hatte. Ich war kein gewöhnlicher Stutzer. Gerade weil ich mir mein Leben selbst bestimmte, wandte ich allen Fleiß auf die Möglichkeit, es auch geistig behaupten zu können. Ich las sogar, nahm Unterricht in allen Wissensfächern und bildete mich mit Leidenschaft für Jemand aus, der ich nicht war. Bildung zu erwerben, mein lieber Freund, soll eine Religion, ein Cultus sein. Ich trieb diesen Cultus. Kann es aber etwas Blasphemischeres geben als die Entweihung, die ich mit den Wissenschaften trieb? Ich lernte, ja lief in öffentliche Vorlesungen, ich brachte die Nächte mit Lectüre zu. Aber nicht etwa um der Bildung selbst willen, sondern um eine Lüge möglich zu machen, eine Verstellung durchzuführen, den falschen Namen, die erlogene Existenz eines Barons Grimm. Ich las, nicht um zu wissen, was ein Autor wollte, sondern um sagen zu können, daß ich Das kannte, was Andre der Sache selbst wegen lasen. Aus Ehrgeiz füllte ich mich mit Thatsachen, die ich nicht um ihrer selbst willen liebte. Dies ist jene Bildung, mein Freund, die uns niemals Segen bringt. Ein einziges Buch, tief aufgenommen, dem Verfasser nachgefühlt und nachgelebt, stiftet in unsrer Brust größre Umwälzungen als ganze Bibliotheken, die man nur aus Eitelkeit und ohne sittlichen Halt durchliest. Mein Glück bei den Frauen war nicht gering. Besonders gelang es mir, das Interesse einer Dame zu gewinnen, die... Hören Sie nicht Geräusch? unterbrach sich Murray.

Die Thür ging draußen...

Man horchte. Es war die alte Brigitte, die sich meldete, ob sie das Theegeschirr wegnehmen dürfe.

Laßt Das nur, Mütterchen! sagte Louis. Wann geht Ihr zu Bett? Gewiß fallen Euch schon die Augen zu. Sorgt Euch nicht um diese Gegenstände! Das Feuer brennt. Holz ist da. Habt gute Nacht und wünscht nur, daß wir morgen besseres Wetter haben.

Die Alte schlief schon halb zu all' diesen Ermunterungen, antwortete nichts und ging staunend über Gäste, die sich selbst bedienten.

Louis rief ihr noch nach, daß man, wenn es so fortführe zu regnen und zu stürmen, morgen für ein Wägelchen sorgen möchte. Er würde Vormittags in den Ullagrund fahren, zum Herrn Ackermann.

Die Alte rieb sich die Augen, raffte sich auf und wandte sich mit den Worten:

Daß ich's fast vergessen habe! Herr Oleander fährt nach dem Ullagrund. Jeden Morgen um elf Uhr. Wollen Sie nicht mit ihm?

Wer ist Herr Oleander? fragte Louis doppelt interessirt. Der Name Oleander fiel ihm auf, wie kürzlich der der Jagellona.

Der Herr Pfarrverweser, der unten bei der Frau Pfarrerin wohnt, erklärte Brigitte...

Nun wohl, sagte Louis träumerisch, so bittet Herrn Oleander in meinem Namen, daß er mich mit sich nimmt, wenn er in den Ullagrund fährt.

Oleander! setzte er dann wieder leise hinzu...

Herr Oleander gibt dem Fräulein im Ullagrunde Lektionen! sagte die Alte.

Schön! Und damit waren die beiden schnell sich vertrauenden Freunde wieder allein.

Sie werden Ackermann morgen sehen... sagte Murray.

Begleiten Sie mich!

Unmöglich! Wie bin ich eingeengt! seufzte Murray. Wie sehr bedarf ich eines Freundes, der meine letzten Pflichten mir erleichtert und mich dann allein zu Grabe geleitet, sowie ich jenes Mädchen!

Nicht so, Papa! sagte Louis. Keine Trauer! Die Erzählung erleichtert Ihren Kummer! Fahren Sie fort, wenn ich Ihres Vertrauens würdig bin! Die vornehme Dame also...

Murray drückte Louis die Hand und fuhr fort:

Ich lebte in der großen Welt und verstand mich trefflich auf ihren Ton. Ehrgeiz und Liebe sind die beiden Haupthebel aller Rührigkeit in dieser Sphäre. Ich lernte Verhältnisse von unglaublicher Zerrüttung kennen und verstand mich vortrefflich auf die Philosophie, mit der Untreue und Leichtsinn sich hier zu entschuldigen wissen. Eine Dame, die ich nie nennen werde, lernt' ich kennen. Sie fand an meiner Persönlichkeit Gefallen. Sie war nicht mehr jung, niemals schön. Sie hatte ein Verhältniß mit einem Rechtsgelehrten, einer, wie ich für bestimmt weiß, sehr energischen Persönlichkeit gehabt. Dieser war ihr untreu geworden aus Gründen, die ich wohl begreifen kann. Sie gehörte zu den Frauen, die früh alle Bande der gewohnten Ordnung abgeworfen und sich ihr Leben selbst zu bestimmen gesucht hatten. Sie reiste als junge Witwe für sich, sie nahm das Leben umsomehr nach ihrer bequemsten Art, als sich eine zerfallene Stimmung ihrer bemächtigt hatte über ein Körperleiden, das mehr auf Einbildung, als in der Wirklichkeit beruhte. Jener Freund hatte lange in ihrer Nähe geduldet und jenes elende Joch der Abhängigkeit von einem Wesen, dem die ächte Weiblichkeit fehlte, mit sich hingeschleppt. Da lernte er in einem Badeorte eine sehr unglückliche Frau kennen, die Freundin seiner Geliebten. Sie war jünger, lieblicher, reizender, duldender, weiblicher. Was man von ihr weiß, was sie selbst an Spuren ihres Daseins hinterlassen hat...

Murray blickte sich um und schüttelte den Kopf, wie über etwas Wunderbares, das ihn freilich diese Erinnerung an Amanda bedünken mußte, hier, in diesen ihren Zimmern, auf ihrem Schlosse! Murray war über Alles, was sich uns allmälig entschleiert, unterrichtet...

Louis bemerkte seine Erregung und dies Erstaunen.

Was fällt Ihnen hier so auf? fragte er.

Murray, der sich vorgenommen hatte, nur über sich selbst nichts zu verschweigen, erwiderte:

Ich glaubte, es rauschte etwas an der Decke, an den Wänden. Es ist nur der Wind, der sich meldet, daß er auch zuhorcht. Laß mich nur reden, du wilder Mahner draußen! Ich entweihe diese Räume nicht.

Louis wußte nicht, worauf diese Worte gingen und hörte nur.

Ein verlassenes Weib, fuhr Murray fort, denkt, wenn sie einen ungebändigten Charakter hat, erst an Rache, dann versinkt die Rache in eine Art von innerer Vernichtung, dann die Vernichtung in neue Hoffnung. Das dreißigste Lebensjahr ist überschritten. Der Vorhang der Ansprüche auf Huldigung wird bald für immer fallen. Noch einmal rafft sich das durch Entbehrung nur gesteigerte Bedürfniß der Liebe empor und blindlings stürzt die Sehnsucht eines unbefriedigten Herzens Dem in die Arme, der, ich muß so grausam sein und Dies sagen, am nächsten steht. Der Zufall wollte, daß ich in dem Bade Ems, das jene Dame regelmäßig besuchte, ihr nahe stand. Mein gewandtes Wesen, der Schein von Esprit, den ich mir zu geben wußte, meine anscheinend glänzende Situation, in die ich vom Spielen gekommen war, führte mich, den Baron Grimm, den süddeutschen Adligen, in die vertrautere Beziehung zu einer Eroberung, die ich mit leichter Mühe machte. Eine Zwischenhändlerin, die Alles rasch zum Ziele führte, war die Begleiterin meiner neuen Freundin. Ich erfuhr ihre früheren Lebensverhältnisse, ihren Jammer über eine erlittene Untreue, ihren Haß gegen eine Jugendfreundin, die ihr das stolzeste Herz der Erde entrissen hätte und wie es zu geschehen pflegt, mein lieber Freund, die Frauen werden mit den Jahren in einigen Punkten besser, in andern schlimmer. Schlimmer wurde bei meiner in der Welt hochgestellten, adligen Gönnerin der Stolz, die Weltverachtung, das Bedürfniß der Intrigue; besser ihre innere Erkenntniß des Wenigen, was sie am Ende einem Manne zu bieten hatte. Wie einst bei dem verloren gegangenen ersten Freunde die Rede von einem Ehebunde war, den man, der geistigen Vorzüge jenes Mannes wegen, keine Mesalliance nennen konnte, war nun auch bei Baron Grimm von einer dauernden Verbindung die Rede. Baron Grimm war so tollkühn, mit seiner Eroberung offen in der Gesellschaft zu prahlen. Er liebte sie sogar, da sie doch von vielen starken und bedeutenden Eigenschaften gehoben wurde. Sie war zärtlich, aufmerksam; alles Gute der Frauennatur kam in der Hingebung an den Mann ihrer Wahl zum Vorschein, während sie Jedes, was außer dieser Wahl lag, mit Geringschätzung behandelte. Ach, mein Freund, Das ist das Tragische an einer Schuld, daß man sie liebgewinnt und es für tugendhaft hält, sie bis auf's Äußerste durchzuführen. Ich war gerührt von jener Frau und mochte ihr durch Entdeckung meines Standes nicht wehe thun. Ich hatte von meinen Gütern sprechen müssen und wurde doch täglich mittelloser. Da ich bei meiner Geliebten war, konnt' ich nicht mehr in den Spielgesellschaften sein. Sie besaß Vermögen, großes Vermögen, durch ihren ersten Mann; aber ich war zu stolz, ihre Mittel in Anspruch zu nehmen. Woher aber meine versiegte Kasse neu füllen? Woher den Muth nehmen, meine tollkühne Rolle durchzuführen? Entdeckung fürchtete ich noch nicht. Jener Polizeibeamte, den ich nach London begleitet hatte, war gestorben. Meine Eltern lebten nicht mehr. Ursula stand auswärts in Diensten, nur den einzigen Bruder hatt' ich einmal gesehen, wie er vor der Schmiede unsres Vaters stand und ich vor ihm zum Thore hinausritt. Ich gab dem Pferde die Sporen und ritt dem Hochgericht zu, unter dem Ursula einst in Diensten stand...

Wie lange waren Sie in England gewesen? unterbrach Louis, da es Murray schauderte...

Fast acht Jahre, sagte Murray. Ich hatte mich sehr verändert und dennoch erkannte mich vielleicht mein Bruder. Er sah mir nach. Ich bin überzeugt, jetzt, wo er blind ist, noch jetzt würde er mich am Tone meiner Stimme erkennen.

Louis blickte um sich. Es war so einsam, so schauerlich still auf dem Schlosse. Der Regen schoß in tausend Tropfen unaufhörlich an die Fenster, der Sturm sauste. Das Feuer drüben in der Schmiede war erloschen. Der Gedanke, daß sie nicht allein wären, ergriff Louis so, daß er einen der Leuchter nahm, in das Vorzimmer ging, dies durchsuchte und es nach dem Corridor zu, auf dem er Alles dunkel und still fand, abschloß.

Als er zurückkehrte, sagte Murray:

Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre Vorsicht; denn Sie ahnen wohl, daß ich mich der dunkelsten Stelle meines Lebens nähere.

Louis setzte sich und stützte trauernd über Das, was ihm Murray jetzt sagen wollte, den Kopf auf die Lehne des Kanapés.

Ja, mein Sohn! fuhr Murray fort. Das waren sechs schlimme Monate, die ich nicht aus meinem Dasein auslöschen kann! Sie brennen auf der Seele, wie die Buchstaben, die man dem Leibe einäzt. Oft hab' ich gedacht und damals ganz gewiß, was ich that, wäre nur ein Wagniß, kein Verbrechen. Wer hat denn den Staat berechtigt, sagte ich mir, den Werth der Dinge zu bestimmen? Wer hat ihm denn nach der sittlichen Ordnung der Dinge allein zugestanden, daß er lügen darf? Denn Lüge ist es doch, dem Papiere einen Nennwerth zu geben, dem nur eine conventionelle Thatsache als Realisation zum Grunde liegt? Verstehen Sie, wovon ich rede, Louis?

O, sagte dieser mit lächelndem Schmerz und großer Aufregung, nur zu gut verstehe ich! Sie haben Das gethan, was der verzweifelnde Arbeiter jeden Tag thun möchte, wenn er das Werk seines Fleißes vor sich stehen sieht, es zur Ausstellung in einem Gewölbe trägt, wochen-, monate-, jahrelang wartet, bis es sich verwerthet! Sie haben Das gethan, was die Noth in verzweifelten Momenten hundertmal erfunden hat, wo man Stücke Papier nahm und darauf schrieb: Das sind fünf Sous! Diese nimmt der Bäcker und gibt mir Brot! Mag sie mein Schuldner einlösen!

O, mein Freund, unterbrach ihn Murray. Entweihen Sie nicht eine Frage der Armuth und der Arbeit mit meinem frivolen Beginnen! Ich habe Geld gemacht, nur weil ich es zu machen verstand! Wohl begreif' ich, wovon Sie sprechen. Wohl versteh' ich die Verzweiflung des Arbeiters, der einen Werth in Händen hat, den er durch seinen Fleiß erschuf und der den Ausdruck für diesen Werth erst bekommt, wenn das Werk verkauft wird. Auch ich sage, die Gesellschaft hat hier ein Recht der Selbsthülfe.

In der That, hat sie Das? fragte Louis begeistert.

Sie hat es, aber unter gesetzlichen Bedingungen! antwortete Murray. Geld ist Das, was gilt. Was kann, was soll mehr gelten als die Arbeit? Die Arbeit ist schon Geld. Die Arbeit, vollendet, ist sogleich Geld. Daß sie warten muß, bis sie durch Zufall Geld wird, ist der schaudervollste empörendste Mord der Menschheit, den leider täglich unsere Gesetzgeber verüben. Fluch der Gesellschaft, die das Geld nur zum Ausdruck des Bedürfnisses und der Fähigkeit, Bedürfnisse zu befriedigen, gemacht hat! Adam Smith hat den alten Glauben gestürzt, daß Geld Geld ist, das heißt Metall, Gold, Silber. Adam Smith hat das Geld als Waare verworfen und gesagt: Geld ist der Credit, das Tauschmittel des Verkehrs, die Abkürzung des Verkehrs, das Triebrad der Cirkulation. Aber dieser Grundsatz eines handeltreibenden Volkes mochte für das verflossene Jahrhundert ausreichen. Unser Jahrhundert soll sagen: Geld ist Arbeit. Nicht auf Bergwerke soll man Geld aufnehmen, sondern auf ein Magazin der Arbeit. Der Staat muß das Geld zum Ausdruck der moralischen Lebensthätigkeit und des Fleißes machen. Ehe wir nicht dahin kommen, ehe wir nicht frei werden von den Tyrannen, die das Geld immer und immer wieder zur Waare, zum sich aufhäufenden Nennwerth für Nichts machen, ehe wir nicht mit dem Geldmachen auch das Geldtilgen unter die Garantie des Staates stellen, eher hört auch das Elend der Menschheit, das Unrecht und der Fluch unsres Daseins nicht auf.

Louis war so von diesem Ausbruch einer tiefen Überzeugung und dem Gefühl der Übereinstimmung hingerissen, daß er in seiner südlichen Glut aufsprang, durch das Zimmer schritt und dem bewegten Sprecher die Hand schüttelte mit den Worten:

Murray, verurtheilen Sie sich nicht! Sie sind kein Verbrecher! Mordeten Sie? Was thaten Sie? Ihre Schuld ist gebüßt.

Murray, Louis' Hand zurücklehnend, erwiderte:

Ach, verwechseln Sie diese Ergebnisse meiner späteren Betrachtungen nicht mit dem unreinen Geiste, aus dem ich damals mir sagte: Warum sollst du nicht Das thun dürfen, was sich der Staat erlaubt? Ich philosophirte damals wie jetzt, aber, ich Elender, wo waren denn die Werthe von Fleiß und Arbeit, denen ich die gesellschaftliche Benennung: »Geld« gab? Darf ich mein Haupt in die reine Sphäre erheben, in der Sie leben, Louis, wenn Sie über das Wohl der tugendhaften Menschen nachdenken?

Nein! sagte Louis, der seine alte Gedankenreihe noch nicht aufgeben mochte, hat denn der Staat das Recht, willkürlich Nennwerth auf Nennwerth zu schaffen und größtentheils nur zu frivolen Zwecken anzuwenden, zu Krieg, zum Glanz, zum Beamtenluxus?

Kommen Sie heraus aus Ihrem Himmel! sprach Murray. Hier ist ein Unwürdiger, der diese Rechtfertigung nicht verdient. Ich weiß es, der Staat hat gegen das Verbrechen, das ich meine, kein Naturrecht, kein Recht, dem es gelänge, die Gründe irgend eines alten römischen Rechtslehrers zu entkräften, er hat nur ein fiskalisches, ein Recht der Nothwehr. Allein man braucht nur in sein Inneres zu greifen und den kategorischen Imperativ des Herzens zu fragen. Der sagt: Mögen die Menschen nicht erröthen, die an dem großen Prägstempel der Münze stehen und in's Gelag hinaus Geld schlagen und noch dazu aus Papier, Der, der dem Staate diese gedankenlose Fabrikation nachmacht, ist ebenso unmoralisch wie oft der Staat. Der Staat sagt: der Werth, den ich hier benenne, ist das öffentliche Vertrauen! Gestattet es das öffentliche Vertrauen, daß man auf seinen Werth hin Geld macht, wohlan! Das große Sündenregister der öffentlichen Anleihen und des Papiergeldemittirens wird sich einst furchtbar rächen; aber der Einzelne, der nicht einmal die Chimäre jenes Vertrauens, den Credit, den Glauben auf Ruhe und Frieden und allgemeinen Wohlstand für sich hat und nur zu seinem Gelüsten Geld schlägt, ist ein Elender und Das war ich, Louis, entschuldigen Sie mich nicht!

Louis bekämpfte seine Aufregung, setzte sich und sah voll Theilnahme milde und liebevoll auf Murray, der so strenges Gericht über sich hielt.

Als sich Murray von dem Zittern, das seine Stimme befallen hatte, erst allmälig erholte, fragte ihn Louis, ob er denn im Stande gewesen wäre, so eine schwierige Aufgabe allein durchzuführen?

Jemand half mir, sagte Murray und wollte ihn nicht nennen.

Aber Louis sagte:

Ihr Bruder half! Sie sprachen von einer Explosion, die ihn blendete. Sollte sie nicht von Ihren gemeinschaftlichen Arbeiten herrühren?

Murray schwieg eine Weile, dann fuhr er gesammelt fort:

Ich muß Ihnen die volle Wahrheit sagen, Louis, denn nur wenn Sie Alles wissen, können Sie mir so helfen, wie es mich für den Rest meines Lebens beruhigen soll. Ich habe viel zu vollenden, viel zu wagen. Ihren Beistand will ich mir durch Aufrichtigkeit verdienen.

Louis gelobte nochmals jede Hülfe und vor Allem die heiligste Verschwiegenheit.


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