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In jenen, noch dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts angehörenden Tagen, wo Berlin rundum keine andere große Stadt in der Nachbarschaft hatte, als eine solche, die erst nach einer Postreise von zwanzig Meilen zu erreichen war, bildete sich jene noch jetzt nicht vollkommen überwundene eigentümliche Naivität oder, nennen wir es beim richtigeren Namen kleinstädtische Unzulänglichkeit aus, die den Charakter des Berliner Pfahlbürgertums in manchem bezeichnen dürfte. Die Sperre gegen eine Welt, die damals dem Berliner schon hinter Potsdam für gleichsam wie »mit Brettern vernagelt« galt, war eine beinahe hermetische. Daher auch die Langsamkeit, womit sich der Zeitgeist, die freiheitliche Entwicklung Preußens erst allmählich, ja mit Beweisen völliger Unbeholfenheit und Unreife anschickte, dem Fortschritt des übrigen Europa zu folgen.
Noch bis zur Märzrevolution befand sich im königlichen Schlosse, dicht unter der Wohnung des Monarchen, in jenem Portal, das seit dem Jahre 1848 dem Publikum nicht mehr als Durchgang geöffnet ist, ein alter Rumpelkasten, Portechaise genannt, an deren mit grünem Kattun verhangenem Fenster unorthographisch zu lesen stand: »Wer sich dieser Portechaise bedienen will, melde sich in der Nagelgasse.« Letztere, jetzt zur »Rathausstraße« avanciert, begrenzt die südöstliche Front des neuen Rathauses – gelegentlich bemerkt eines Baues, dessen Großartigkeit den Stil, den kräftigen Griffel des 19. Jahrhunderts in so überwältigendem Maße bezeichnet, daß bei allem Reiz, den ein alter Rest der Vergangenheit, die »Gerichtslaube«, für die Tafeln der Chronik in Anspruch nehmen darf, ihn die Gegenwart doch für ihre Überlieferungen an die Zukunft wie einen sinnstörenden – Druckfehler beseitigen darf.
Und auf dem Gensdarmenmarkt, an derjenigen Seite des »französischen Turms«, die dem Wechselgeschäft der Herren Brest und Gelpke gerade gegenüber liegt, wuchs nicht nur in den Winkeln, die von den dürftigen Anbauten der beiden stolzen »Gensdarmenmarkttürme« gebildet werden, das helle, frische, grüne Gras, untermischt zuweilen mit »Butterblumen«, sondern es war sogar möglich, daß die damalige schutzmannlose, nur auf jene »Polizeikommissarien« mit den Dreimastern und karmoisinroten Kragen und Aufschlägen am Rock angewiesene Zeit in einem dieser Winkel – einen alten ausgedienten Leichenwagen duldete, der entweder durch irgendein Mißverständnis zur Überwinterung dort stehengeblieben oder sonst aus dem Inventar des Leichenfuhrwesens in der Georgenstraße ausgestrichen war. Die Deichsel für die Rosse, die uns zum ewigen Frieden fahren, fehlte nicht. Aber die schwarze Draperie schillerte schon ins vollkommen Rötliche. Die Totengräber Hamlets hätten hier Betrachtungen anstellen können über die Vergänglichkeit alles Irdischen. Ludwig Devrient, drüben von Lutter und Wegener kommend und sich auf die Rolle besinnend, die der große Mime am Abend zu spielen hatte, mag manchen verstohlenen Blick hinübergeworfen haben auf den alten Charonsnachen, der manchmal fehlte, nach kurzer Pause sich aber immer wieder einstellte unter den gewölbten Türmen, um deren Säulen und Säulchen die Spatzen und die Krähen und die Habichte nisteten. Berlin, das gegenwärtig alles brauchen kann, selbst die Denkmäler von den Gräbern, Berlin, das jetzt die Bronzebilder der Toten von den Kirchhöfen stiehlt, ließ diesen alten Leichenwagen unangetastet.
Abends, wenn der Sturm brauste, die Laternen, ohne Gaslicht und manchmal quer über die Straßen hinweggezogen, in ächzenden Tönen hin und her schaukelten, die Wagen der Vornehmen und Reichen dumpf über ein noch naturwüchsiges Pflaster rollten, hier und da ein Leierkasten aus einem Keller wie ein ferner Unkenruf ertönte und in den Straßen jener gespenstische Mann umging, der ein Fäßchen in der Hand tragend, aus einer bis zu seinen Ohren, ja bis zur Nase hinaufreichenden stolzen roten Kravatte mit einem gewissen würdevollen Anstand, aber geisterhaft hohl, den Ausruf hervorpreßte: »Neunaugen! Neunaugen –!«, da schlich sich fröstelnd, die Hände in abgetragene, viel zu kurze, geflickte Beinkleider gesteckt, einen verschossenen Frack auf dem ausgehungerten Leibe, einen mannigfach brüchigen, beulenreichen Filzhut auf dem Haupte, eine verwitterte, magere, kleine Gestalt über den Markt, auf welchem öde Stille herrschte, nachdem sich eben die Zuschauer des Schauspielhauses, die vielleicht eine neue Posse von Raupach ausgezischt, verlaufen hatten.
Der sich scheu Umblickende hatte keine Wohnung. Sein Name war von den Sternen hergekommen. Dort oben am blitzenden Nachthimmel stand die Konstellation, die ihm den Vornamen gegeben. Besonders zur Winterszeit leuchtete sein Stern hellauf in einem Licht, das alle andern Sterne überstrahlte. In den Sternen auch hatte er seine eigentliche Behausung, nicht in der Dorotheen-, nicht in der Friedrichstadt. Vorsichtig nähert er sich dem Leichenwagen... Bist du heute wieder da, alter Freund –? Hat dich Charon heute Nacht nicht nötig, um vom »Türmchen« im »Voigtland« eine Leiche auf die Anatomie zu fahren –? Schont der »Leichenkommissarius« seine Gäule, wenn er sie erst hier einspannt, um einen Armen im »Nasenquetscher« auf Saturns großes Brach- und Nivellierungsfeld, auf den Friedhof, zu fahren –?.... Und husch –! Die verwitterte Gestalt, herabgekommen wie der Apotheker von Mantua, der an Romeo Gift verkaufte, weil die Geschäfte der üblichen Pharmakopoe so schlecht gingen, hebt die Vorhangsfetzen des Wagens auf und schiebt sich langsam hinein in ein damaliges – Asyl für Obdachlose.
Fand sich wohl ein Stück Holz, eine Planke darin vor – den Trägern mit den langen Flören am Dreimaster benötigt, um den Sarg in die Grube zu senken – so rückt sie der lebende Tote so, daß sein Haupt mit den langen weißen Haaren eine Stütze findet beim Sichausstrecken. Vielleicht achtet er auch die neue Beule nicht viel an seinem wettererprobten Zylinder, wenn er damit dem harten Holz einige Weiche gibt und die hohle, gefurchte Wange aufstützt. Ruhen wird er; er wird schlafen. An diesem schwarzen Wagen huscht die von einem Ball bei »Dalichows« in der Dorotheenstraße kommende Schöne aus dem Volke, der Spieler, der im Hinterzimmer eines »Italieners« – wir meinen nicht gerade des damaligen Austern-Sala-Tarone – einen glücklichen Wurf getan, der in der Nacht gerufene Arzt, der um Mitternacht sein Coupé nicht anspannen lassen kann, schnell und scheu vorüber. Selbst der Nachtwächter hält sich in der Ferne, dort, wo ein Ruf: »Wächter –!« ihm ein Trinkgeld fürs Einlassen in ein verschlossenes Haus, dessen Schlüssel an seinem klirrenden Eisenbunde hängt, sicherer einbringt, als wenn er hier Posto faßte in der düster-unheimlichen Ecke an einer Kirche, wo vielleicht damals – der junge Fournier als feuriger Kandidat in französischer Sprache predigte und sich nicht träumen ließ, wie übel später einem Konsistorialrat der Wetteifer mit dem leidenschaftlichen Pathos eines Schauspielers bekommen konnte.
Der Obdachlose war ein Dichter ohne Verleger. Er lebte in einer Zeit, wo die Journale Berlins unter Zensur standen. Ein Absatz von 500 Exemplaren war schon die allerglücklichste Chance für – »Belletristik«. Ein Honorar von einem Taler zahlte man für ein Gedicht, von fünfzehn Silbergroschen für eine Reihe von Lückenbüßern, damals »Aphorismen«, »Streckverse«, »Sternschnuppen« oder ähnlich genannt. Ach ja, die Sterne, die hatten es dem halben Polen angetan. Er hatte sich die Sprache Schillers und Goethes angeeignet, sang Dithyramben, Oden, Bardenlieder – alles in einem Stil, der an Pindar erinnerte – seiner Unverständlichkeit wegen. Aber schon in jener Zeit war die Lektüre frivol. Lieber wollte man Clauren lesen, als Klopstock. Die Gebildeteren hatten gerade van der Velde. Sogar die Ästhetiker sprachen zwar von Goethe, nippten aber, wie in dem Hinterzimmer des »Italieners« Rosoglio, so an den »Teufelselexieren« von Hoffmann. Was war da der verkommene Träumer, der noch bei Ossian stand und bei Jean Paul! Der einen Gedanken, der ihm aufgeblitzt bei seinem jeweiligen Erwachen in seinem dunkeln Leichenwagen (- und wo denken wir wahrer, fühlen wir tiefer als in der Nähe der Toten! –) nur dadurch schlagend, zündend, lapidar zu machen glaubte, daß er ihn immer enger und enger, immer epigrammatischer und epigrammatischer, zuletzt in zwei Zeilen drängte, wie bei Rochefoucauld und Montaigne, jedes Wort eine ganze Welt – aber – die Zeile laut Quartalsberechnung des Journals drei bis vier Pfennige!
Dieser Obdachlose hieß Orion Julius. Seine Werke stehen nicht in den Katalogen der Leihbibliotheken. Wer sich aber die Mühe geben will, in alten Jahrgängen des »Freimütigen«, des »Gesellschafters« zu blättern, der wird dort – dem nächtlichen Bewohner des Leichenwagens am Gensdarmenmarkt zuweilen begegnen.