Karl Gutzkow
Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Karl Gutzkow

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Notizen

(1841)

Ein Pietist Unter den Linden

Nach einigen sehr staubigen, schwülen Tagen hatte es endlich geregnet. Der schönste Sonntagmorgen lockte unabsehbare Menschenscharen unter die Linden. Am Palais des verstorbenen Königs tritt mich ein Mann mit einem Orden im Knopfloche an: »Schönes Wetter.« »Schönes Wetter.« »Das macht Gott mit einem Wort. Unser Menschenwitz hätte das nicht machen können.« »Schwerlich.« »Und der Herr ist allerwegs mächtig und groß ist sein Name, ja groß in Ewigkeit.« »Amen!« Der Fremde begann hierauf mit kräftiger Stimme und vielem Redetalent eine Auseinandersetzung über die angeborne Sündhaftigkeit des Menschen. Da ich ruhig und fast teilnahmslos neben dem mir gänzlich unbekannten Manne herging, frug er mich mit fast zorniger Ungeduld: »Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?« »Vollkommen!« »Halten Sie mich für einen Schwärmer?« »Ich höre den Lärm, sehe aber kein Licht.« Diese Antwort von dem schlichten Spaziergänger war dem Bekehrer unerwartet. Er sah mich groß an und ging. Zu Hause fand ich in der Rocktasche einen Bußtraktat. (Gedruckt bei Wohlgemuth.)

Die Kandidaten der vakanten Ämter

Einen rührend-komischen Anblick gewährt an jedem Morgen in den ersten Frühstunden ein Spaziergang durch die oberen Linden und die Wilhelmstraße bis zur Leipziger Straße hin. Das ist nämlich die Zeit, wo die Kandidaten aller vakanten und nicht vakanten Ämter, die Kandidaten aus allen möglichen geistlichen, Schul-, Justiz- und Regierungsfächern den mächtigen Ministern und Räten ihre Aufwartung machen. Schwarz gekleidet, mit weißer Binde um den Hals, schießen sie an dir vorüber, plötzlich stehen sie still, überlegen eine erhaltene Antwort oder ein zu stellendes Gesuch, probieren die eingelernte Rede noch einmal, nähern sich der verhängnisvollen Tür, haben nicht das Herz, kehren noch einmal um, um sich zu erholen, und wagen es erst dann mit einem mutigen Entschluß. Andere wollen eben von der Rechten an die Tür eines Hotels treten, da begegnet ihnen ein anderer von der Linken. Und doch ist nur eine Stelle vakant! Jeder bildet sich ein, so früh zu kommen, daß er den mächtigen Mann, der sie vergibt, allein trifft, aber – entsetzliche Täuschung – schon ist das ganze Vorzimmer gefüllt und die eine Lebensfrage, auf deren Lösung eine seit sieben Jahren verlobte Braut und ein nachgerade ungeduldig werdendes Schwiegerelternpaar harrt, verschwimmt in den Lebensfragen von dreißig anderen Menschen, in den Hoffnungen von ebensoviel anderweitigen Bräuten! Geöffnet ist hier die geheime Werkstatt unserer Existenz, offen liegen sie da, die Gruben und Gänge, die der Fuchs oft schneller durchgräbt, als der still arbeitende Bergmann – ein Anblick, zugleich komisch und zum Weinen!

Sommertheater in Steglitz

Wie weit bleibt das Sommertheater in Steglitz hinter den Anpreisungen der Journale und den mäßigsten Erwartungen zurück! Ref. hoffte, ein niedliches, von Holz und Backsteinen aufgeführtes, der Würde Berlins entsprechendes Theater zu finden und fand eine Bretterbude, nicht besser als eine Scheune, mit langen hölzernen Bänken und einem Rang, der nichts als eine Galeriebrüstung ist. Die Hitze in dem kleinen Raume ist unerträglich und verläßt man ihn, so wandelt man, wilden Tieren gleich, in einem abgeschlossenen sandigen Vorplatze umher, nichts sehend als Luft und Fläche. Wer dies Theater einmal gesehen hat, besucht es nicht wieder. Wenn hier eine Befriedigung der Schaulust geschaffen werden sollte, so hätte man etwas geben sollen nach dem Vorbilde des Hamburger Tivoli. Ein Sommertheater ist nur unter freiem Himmel genießbar oder es sei denn, daß ein steinerner Bau die ersehnte Kühlung spendet. Daß eine so armselige Umgebung nur nachteilig auf das Interesse wirken kann, welches die Schauspieler selbst in Anspruch nehmen, versteht sich von selbst. Sie werden vom Publikum verspottet, ihr Ernst wird ironisiert.

Berliner Volkscharakter

Berlin macht von Jahr zu Jahr bedeutendere Fortschritte nach dem Ziele einer seinem äußern Umfange auch innerlich entsprechenden Großstädtigkeit. Anlagen jeder Art, merkantilische, industrielle, gesellige, werden in größerem Stile als früher ausgeführt. Manches, was noch vor drei Jahren das hiesige Publikum beschäftigen konnte, wird jetzt verachtet, z. B. die Trivialität der sogenannten Berliner Volksliteratur, die in »Herrn Buffey auf der Kunstausstellung« den Gipfel des Unsinns und der widerlichsten Geschmacklosigkeit erreicht hatte. Die Königstädtschen Theaterwitze sind im Abnehmen und aus der lügenhaften Verballhornisierung des Berliner Volks-Charakters, wie dieser sich in »Berlin – wie es ißt und trinkt« gezeichnet findet, tritt allmählich wieder das ursprüngliche Grundelement des Berliners heraus: Harmloseste Gutmütigkeit, Freude am neckenden, geselligen Scherz, hohe Achtung vor jeder geistigen Auszeichnung, sinniger Genuß der sparsamen, aber oft anmutigen Schönheiten, die die Natur, im Bund mit der Kunst, dieser gewiß noch einer bedeutenden Zukunft entgegensehenden Hauptstadt geschenkt hat.


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