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Schon!« sagte Marlise aufseufzend und legte den Brief aus der Hand, den Stephan ihr soeben von der Post heraufgebracht hatte, »ach, warum muß es auch so bald sein?«
»Von Hartwig?« fragte Stephan. »Hat er denn schon einen Käufer?«
Sie nickte und gab ihm das Schreiben. Es war von einem großen Geigenhändler, der kurze Zeit nach Onkel Josephs Tode angefragt hatte, ob die Stradivari etwa verkäuflich werde. Ihm war geantwortet worden, daß die Geige letztwilligen Bestimmungen zufolge nur in den Besitz eines Künstlers übergehen solle, seine Vermittlung für das Zustandekommen eines Verkaufs jedoch erwünscht sei. Dies war ein zuverlässiger Weg, um Onkel Josephs Wünsche zu erfüllen; aber Marlise hatte doch mit einigem Aufschub gerechnet. Nun schrieb der Händler, daß ein junger Geiger von Ruf sich um die Stradivari bewerbe und, falls Fräulein Stauffer einverstanden sei, in den nächsten Tagen nach Beurenbach kommen werde, um die Geige zu prüfen.
»Matthias Perscheid, – kennst du den Mann?« fragte Stephan.
»Dem Namen nach wohl, gehört habe ich ihn nicht. Er soll sehr gut spielen. Als ich bei euch in der Stadt war, ist er dort mehrmals aufgetreten, ich entsinne mich der Kritiken. Er wurde für einen unserer besten Geiger erklärt. Und ich glaube, er ist ganz jung; das wollte Onkel ja –« Sie blickte nach der Tür des Musikzimmers und bekam nasse Augen.
Stephan nahm ihre Hand. »Möchtest du lieber noch warten, Marlise? Soll ich an Hartwig schreiben, daß wir die Sache um ein halbes Jahr verschieben? Es tut dir jetzt so weh –«
Sie sann einen Augenblick, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Was würde das nützen? In einem halben Jahr tut es ebenso weh. Und – nein, es ist besser so. Mir ist Onkel Joseph jetzt noch so ganz nahe, das Haus, jedes Ding in den Zimmern ist noch voll von ihm, da ist mir's, als würde ich leichter die rechte Entscheidung finden –« Sie grübelte ins Leere; Stephan betrachtete sie mit zärtlich besorgten Blicken.
»Ängstige dich nicht, Marlise! Du brauchst nichts zu übereilen und kannst dich schlimmstenfalls immer hinter Niemeyer verschanzen, da er für die paar Monate noch dein Vormund ist. In Wahrheit hängt alles nur von deinem Ermessen ab. Und du weißt, ich bin da und nehme dir alles ab, was irgend möglich ist!«
»Ja, Lieber. Wenn ich dich nicht hätte, in dieser Zeit der Umwälzungen und Auflösungen!«
Sie blickten einander ernsthaft und ein wenig traurig in die Augen und dachten an die Zukunft des Ecks und der Werke, über die vielfache Sorge, Mühewaltung und Verhandlung im Gange war. »Und wir –?« fragte Stephan leise.
Sie schwieg und drückte nur seine Hand. Dann ließ sie ihn los, denn die Tür ging, und Adelina trat herein.
Sie war vor kurzem aus der Stadt gekommen, um ihre kärglichen vierzehn Tage Urlaub hier zu verbringen. Ihr Gesicht stand ein wenig schmäler als im Frühjahr über dem schwarzen Kleid.
So saßen sie nun zu dritt um den Tisch des Ecks, die Jungen, die über Nacht die Handelnden, Verantwortungsvollen geworden waren. Frau Stauffer verließ nur noch selten ihr Zimmer. Und Tante Franze war gestern abgereist; nicht nach der Stadt zurück, sondern nach dem Landsitz Konsul Steffensens, sie wollte Abschied nehmen von ihrem alten Freunde, der sich entschlossen hatte, auf irgend eine ehrenvolle Berufung hin nach Brasilien zurückzukehren.
»Ich denke manchmal, es wäre am allerbesten für Mama, sie könnte auch wieder nach drüben!« hatte Adelina gemeint, als sie und Marlise vom Bahnhof zurückkamen. »Mama ist hier ganz gewiß nicht glücklich, während ich – ja, ich habe eigentlich gar keine Sehnsucht mehr nach Sao Paolo; und deshalb kann ich mich auch nicht recht in Mama hineindenken.«
Daß sie dies doch wohl konnte, wurde gerade aus ihrer Äußerung klar, und Marlise hatte darüber eine kleine, stille Freude. Überhaupt Adelina, – wie hatte sie sich doch verändert, seitdem sie damals, ein eigenwilliger, verwöhnter Kindskopf, über das Bilderbuchstädtchen und die miserable Öde des Ecks gejammert hatte. Heute tat es gut, sie um sich zu haben. Sie selbst hatte Onkel Joseph viel zu fern gestanden, als daß sie wahrhaft um ihn hätte trauern können, aber sie trug so gutherzig mit an Marlises Leid, und ihr unzerstörbarer Kinderleichtsinn fand immer wieder eine harmlose Gelegenheit, sich lachend hervorzuwagen. Deutlicher als je empfand Marlise, daß in Adelinas goldner Unverfrorenheit, ihrer scheinbar gedankenlosen Lebenszuversicht eine Kraft des Sichbehauptens lag, um die man sie ehrlich beneiden konnte.
Jetzt hatte sie Marlisen herzlich umfaßt und ihr die feuchten Augen geküßt. »Was tut er dir wieder?« fragte sie. »Stephan, du verstehst auch nichts weiter, als immer nur allerlei Kram anzuschleppen, der Maria traurig macht! Schon recht, daß du ›Klotz‹ heißest, – ein Klotz bist du, der häßliche Name paßt zu dir!«
»Nun und du?« lachte er und nahm sie beim Ohr. »Was fängst denn du mit dem Namen an?«
»Ich? Oh, ich bin von einer anderen Sorte; höchstens ein kleiner, netter Bauklotz, der nur zum Spielen gebraucht wird –« Das eigne Wort schien sie jedoch plötzlich nachdenklich zu stimmen, sie schwieg, und während Stephan und Marlise besprachen, wie es mit dem Besuch des Herrn Matthias Perscheid einzurichten sei, erhob sie sich und trat auf die Veranda hinaus. In der blanken Herbstsonne stand sie lange ganz still, als sei ihr nichts so fesselnd wie der Fall der goldfarbenen Ahornblätter, die der Wind zu Boden schüttelte. –
Wenige Tage später kam der Geiger.
Marlise stieg mit schwer klopfendem Herzen ins Wohnzimmer hinunter. Stephan, der den Fremden im Beurenbacher Gasthof begrüßt und ins Eck heraufgeleitet hatte, kam ihr an der Tür mit einem aufmunternden Lächeln entgegen, das zu sagen schien, man habe es mit keiner ganz unsympathischen Persönlichkeit zu tun.
Matthias Perscheid war ein schlanker Mensch von jugendlich vornehmem Aussehen, er konnte kaum mehr als dreiundzwanzig Jahre haben. Sein sehr hübsches, helles Gesicht unter dem reichen, dunkelblonden Haar zeigte knabenhafte Weichheit um Mund und Wangen, aber die gutgeformte Stirn und die lebhaften, kinderblauen Augen trugen den Ausdruck einer starken Willenskraft. Er begrüßte Marlise mit vollkommener, anmutiger Sicherheit.
Marlise zitterte vor Erregung. Sie hatte sich wieder und wieder eingeprägt, daß es ihre Pflicht sei, diesen Mann, der Onkel Josephs Geige mitnehmen wollte, mit prüfender Aufmerksamkeit zu betrachten. Jetzt aber empfand sie nur den angstvollen Wunsch, diesen Auftritt abzukürzen, das Unumgängliche so schnell wie möglich zu erledigen.
Perscheid machte es ihr leicht, indem er nur Sachlichstes fragte, wie lange die Geige in Herrn Stauffers Besitz gewesen, ob sie viel gespielt worden sei und dergleichen. Nach kaum zehn Minuten der Unterhaltung konnte Marlise den Herren vorangehen ins Musikzimmer.
Sie öffnete den Notenschrank und nahm die Geige heraus. Sie hatte sie, seitdem sie Onkel Josephs Brief gelesen, mehr als einmal in der Hand gehabt; heute aber kostete es sie eine solche Überwindung, daß ihre kalten Finger kaum mit dem Verschluß des Kastens zustande kamen.
Perscheid stand einige Schritte entfernt in schicklicher Zurückhaltung. Er sah nicht auf den Geigenkasten, sondern auf Marlise.
Dann aber reichte sie ihm das Instrument mit einer langsamen, unendlich rührenden Bewegung. Er nahm es, – »ah!« sagte er nur; und über sein junges Gesicht schlug ein leidenschaftliches Freudenrot.
Seine nervigen, sehr langfingerigen Hände – Geigerhände wie sie sein sollen – schlossen sich um den edlen Holzkörper, wie man nur vertrauteste, liebste Dinge ergreift. Er wog, wandte, betrachtete ihn mit begeistertem Eifer, umtastete ihn mit zart prüfenden Fingern. Er fragte nicht mehr, er war ganz hingegeben an die wundervolle Leiblichkeit der Stradivari.
Endlich sah er auf, – die Art, wie er die Geige am Halse gefaßt hielt, erschien Marlisen schon wie eine Besitzergreifung, – und fragte nach einem kleinen, befangenen Zögern: »Gestatten Sie mir, daß ich das Instrument versuche? Ich habe meinen Bogen mitgebracht, – es wird etwas spröde sein, da es so lange nicht gespielt wurde –«
Stephan, der bemerkte, wie Marlise blaß wurde, trat schnell herzu. »Bitte, Herr Perscheid; nehmen Sie sich völlig Zeit! Aber es ist wohl nicht nötig, daß meine Cousine dabei zugegen ist. Komm, Marlise, wir sprechen dich nachher. Es wird ja noch nichts entschieden, ohne dich gewiß nicht!« Er hatte sie sanft hinausgeführt. Draußen zog er ihren Kopf an sich. »Liebste, du darfst es dir nicht so schrecklich nahe gehen lassen! Denke doch, daß du nur nach Onkels Willen tust! Und das siehst du wohl, daß du hier einen Menschen schrankenlos beglücken würdest. Mir macht er übrigens einen angenehmen, taktvollen Eindruck, – dir nicht?«
Sie nickte; ja, es hätte schlimmer kommen können. Aber dann drängte sie ihn ins Musikzimmer zurück. »Du bleibst dabei, nicht wahr? Mir ist alles so ängstlich –«
Er küßte ihre Hand und ging hinein. Marlise lief nach oben und riß ihren Mantel aus dem Schrank. »Wohin?« fragte Adelina, die plötzlich irgendwo zum Vorschein kam.
»Ich weiß nicht –. Nur nach draußen; nur nicht hören, wie der da unten spielt!«
»Nimm mich mit!« bat Adelina, es klang fast ebenso gequält wie Marlises Worte. Marlise hatte kaum hingehört, sie stob die Treppe hinab und aus dem Hause; als sie aber den Weg zum Walde emporlief, war es ihr doch nicht unlieb, daß Adelina sie einholte. Adelina hatte auch das Schweigen gelernt. Ohne ein Wort zu wechseln, streiften sie bis zur Dämmerung die Waldwege auf und ab.
Als sie ins Eck zurückkehrten, war im Musikzimmer alles still. Marlise atmete auf, und sie war ganz einverstanden, als Stephan kam und fragte, ob sie nicht Herrn Perscheid auffordern möge, zum Abendessen dazubleiben.
Perscheid nahm die Einladung mit unverstellter Freude an. Von der Geige sprach er nicht mehr. Dann brannten die Lampen, und im Eßzimmer ließ Marlise ein helles Kaminfeuer anzünden, es wurde warm und traulich im Eck.
Sie saßen zu Tisch, eine größere, lebhaftere Tafelrunde als man seit langem gewohnt gewesen. Frau Stauffer war heruntergekommen und war leidlich frisch, schließlich erschien sogar Niemeyer, der irgend etwas mit Stephan besprechen wollte und nun noch bei einem Glas Wein und den schönen Früchten des Eckgartens mittun mußte. Perscheid, der anfangs mit einer leisen Befangenheit zu kämpfen schien, taute bald auf und erwies sich als ein Gesellschafter von eigenartigem Reiz. Mit sprühender Lebhaftigkeit erzählte er von seinen Studienjahren, seinen Künstlerfahrten und Reisen, ohne doch jemals in einen eitlen oder leichtfertigen Ton zu verfallen. Von starker Begeisterungsfähigkeit und einer sieghaften Zuversicht auf immer steigende Leistungen getragen, schien er seine junge Berühmtheit als etwas halb Selbstverständliches, halb Belächelnswertes hinzunehmen.
Marlise hörte ihm aufmerksam zu, und in ehrlich wachsendem Wohlgefallen ging es ihr plötzlich durch den Sinn »Onkel Joseph hätte ihn auch gemocht!«
Im selben Augenblick wurde sie sich ihres Gedankens wie eines großen, kostbaren Geschenkes bewußt und fühlte ihre Augen feucht werden.
Daß Adelina den ganzen Abend sehr still blieb, entging ihr über der eigenen inneren Bewegtheit.
Perscheid verabschiedete sich von Marlise, sein Dank schien mehr zu sein als nur liebenswürdig gewandte Redensart. »Und – die Hauptsache?« kam Marlise ihm entgegen.
Seine Augen strahlten auf. »Sie ist herrlich, Fräulein Stauffer! Hartwig hatte mich ja schon vorbereitet, aber so schön habe ich sie mir nicht gedacht. Ich wäre über jeden Ausdruck glücklich, wenn Sie mir das Instrument anvertrauen wollten. Daß es bei mir in die ehrfürchtigsten Hände käme, könnte ich Ihnen aus vollstem Herzen versichern.« Ein zarter und feuriger Ernst sprach aus seinem hübschen Knabengesicht. Ehe sie eine Erwiderung fand, fuhr er unbefangen fort:
»Ich bin überzeugt, daß die Geige meine höchsten Erwartungen erfüllen wird, sobald sie völlig eingespielt ist; immerhin wäre es mir sehr lieb, wenn ich die Tragfähigkeit des Tons in einem größeren Raum als hier im Zimmer prüfen könnte. Ihr Herr Vetter meint, das könne in der Beurenbacher Kirche geschehen, und er will die Freundlichkeit haben, mich morgen zum Pfarrer zu begleiten, der ja wohl seine Erlaubnis nicht verweigern wird. Die Akustik der Kirche soll gut sein, und ich habe das Instrument schon einigermaßen in der Hand, – dürfte ich wohl hoffen, Fräulein Stauffer, daß Sie mir – oder vielmehr der Stradivari die Ehre Ihrer Gegenwart schenken würden? Ich weiß von Herrn Klotz, daß teure und schmerzliche Erinnerungen für Sie mit der Geige verknüpft sind, aber Sie haben sie nie klingen hören! Vielleicht gelingt es mir wenigstens, Ihnen einen schönen und wohltuenden Eindruck zurückzulassen, wenn wirklich ich es sein soll, der Ihnen diesen Schatz entführt.«
Er hatte mit aufrichtiger Wärme gesprochen, sein Blick hing bittend an ihrem stillen Gesicht. Sie schwieg eine kurze Weile an ihm vorbei, dann reichte sie ihm die Hand in zögerndem Entschluß. »Ich will sehen, Herr Perscheid; ich – denke, ich werde kommen.« –
Es war spät geworden, als Marlise in ihr Schlafzimmer trat. Eine Müdigkeit, die fast weh tat, lag ihr in Kopf und Gliedern, und so wenig fühlte sie sich im Zusammenhang mit ihrer gewohnten Umgebung, daß ihr erst im Augenblick des Zubettgehens einfiel, sie habe Adelina seit dem Abendessen nicht mehr gesehen. Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Lina –?«
Drinnen war es dunkel, aber am Fenster regte sich etwas. »Ja, was ist denn?« fragte Adelinas seltsam heisere Stimme, und das gedämpfte Licht der Nachttischlampe glühte auf.
»Ich wollte dir nur Gutenacht sagen, Lina. Wo steckst du überhaupt?« Marlise kam heran, da blieb sie erschrocken stehen vor Adelinas Gesicht: es war nicht verweint, aber eine solche Verlassenheit lag in den Augen, ein so bitteres, krampfhaftes Sichzusammennehmen um den festgeschlossenen Mund, daß es schlimmer war als alle Tränenspuren.
»Liebes –! Was ist dir? Bist du krank?«
»Nein.«
»Ja, aber –, Herzenskind, wie siehst du aus? Lina, sag' doch –«
»Es ist gar nichts,« antwortete Adelina. »Oder vielmehr –, da man dir ja doch nicht auskommt, Maria: ja, es ist schon etwas. Aber ich kann nicht –. Laß mich, bitte; nur heute! Ein andermal sage ich dir schon –« Sie sprach hart und heftig vor Anstrengung, ruhig zu scheinen. Aber plötzlich mußte es irgendwie aus sein. Sie fiel auf einen Stuhl und schlug beide Hände vor die Augen, während ihr ganzer Körper bebte.
Marlise fragte nicht mehr. Sie war bei der lautlos und tränenlos Schluchzenden, und unter ihren stummen Liebkosungen brach es endlich aus Adelina hervor: »Er – er hat mich – gar nicht angesehen –! Zu allen war er lieb und freundlich, – nur zu mir –, nur ich –«
»Wer? Wer denn nur?« stammelte Marlise entsetzt. »Lina, ich bitte dich, was ist? Was meinst du?«
Aber Adelina hörte gar nicht hin. »Als ob er mich nie gesehen hätte! Als ob das alles gar nicht gewesen wäre, damals! Und ich – ich habe immer daran gedacht – wie an das Beste und Schönste –, und nun ist alles – alles verdorben und viel schrecklicher –«
Da schlug ein grelles Begreifen vor Marlise auf. »Lina – o Gott! Das war er? Perscheid? Damals im Frühling, in der Stadt?«
»Ja doch, ja! Ich hab' mich so unsinnig erschrocken, wie ich hörte: er will die Geige kaufen, er kommt hierher, – und immer hab' ich überlegt, ob ich es dir sagen soll. Aber du hattest selbst den Kopf so voll, und dann dachte ich, vielleicht bekäme ich ihn gar nicht zu sehen. Und wenn auch, – daß es so – so gräßlich werden könnte, das hab' ich nie geglaubt! Ich hab' es wohl gesehen, wie er rot wurde, als er mich erkannte, unten im Eßzimmer, und daß er zuerst ganz verblasen war, aber dann, – daß er so lustig war und erzählt hat gerade wie früher und hat kein Wort, kein einziges Wort für mich gehabt, – oh, Maria, das tut so weh –« Nun stürzten ihr doch die Tränen über das Gesicht sie weinte fassungslos.
»Du Armes, oh, du armes Liebes!« murmelte Marlise in tiefstem Mitleid vor dieser Verkettung der Zufälle. »Ja, aber –, warum? Warum hat er denn nichts gesagt –?«
»Warum?« fuhr Adelina auf, sie würgte ihr Weinen hinab, um sprechen zu können. »Warum? Und das begreifst du nicht? Oh, ich hab' es sofort gewußt, und daß ich die Schuld hab', ich ganz allein! Ich hab' es mir alles selbst angerichtet, – ich habe ja nichts anderes gewollt als so eine alberne, leichtsinnige, oberflächliche Liebelei, und nun hat er mich eben behandelt wie ein Mädchen, das man – das man nur von der Straße her kennt! Was hab' ich besseres verdient? Wie soll er denn wissen, daß ich ihm –, daß ich seitdem –, oh, Maria, wie hast du recht gehabt, damals, als du mich schaltest! Nun, heute, nun weiß ich erst recht, was ich hätte haben können! Wie er zu dir war, so ernst und so zart und so –, ja, so ehrfürchtig –! Und mit mir hat er immer nur gespielt!«
»Und der –, der soll nun die Geige haben –!« stieß Marlise nach einem Schweigen dumpf hervor.
Adelina hob heftig den Kopf. »Die Geige? Ja, warum denn nicht? Er spielt wundervoll, – ich hab' ihn doch gehört, damals im Konzert, wo er mir die Karten gebracht hatte, und ich nahm Fräulein Moser mit, weil sie ja nichts ahnte. Und es traf sich so gut, daß sie dann am Schluß weg war, und ich konnte hineinlaufen vors Künstlerzimmer, und er kam heraus und gab mir nur schnell die Hand und lachte. Oh, wie war ich froh! und stolz! und glücklich! Und du darfst und darfst nicht denken, er sei schlecht, Maria! Er hat mir nichts vorgelogen, nichts versprochen, er war nur immer fröhlich und ehrlich und lieb mit mir und hat nie, nie etwas gesagt oder getan, was nicht recht war –«
»Oh, Lina!« sagte Marlise ganz leise, »so lieb hast du ihn –«
Adelina schob Marlises Arm sacht zurück, als müsse sie frei und allein stehen, um hierauf zu antworten. »Ja!« sagte sie, »ich habe ihn sehr lieb, viel mehr, als ich damals meinte. Und Maria, du hast einmal so etwas gesagt wie: ich würde mich, wenn es hiermit aus sei, womöglich nach einem Zweiten und Dritten umsehen. – Nein! Nein, Maria! Davon ist nichts gewesen und wird auch nicht sein, – du mein Herrgott, wie könnte ich wohl? Als er fort war, – die erste Zeit hab' ich gemeint, ich kann nicht mehr leben ohne ihn. Aber dann, – ach, man lebt ja doch! Ich bin zufrieden und dankbar gewesen, daß ich an ihn denken konnte und an das Schöne, was ich durch ihn erlebt hab', und ich hätte es auf immer behalten wie einen Schatz. Du weißt es ja, Maria, ich bin einmal so, daß ich mir aus allem das Hübscheste und Erträglichste zurechtmache, und ich wäre nicht unglücklich gewesen! Aber dies, – dies heute: das schlägt alles und alles entzwei, das ist so fürchterlich demütigend und häßlich und jammervoll, und man kann nichts, gar nichts tun –«
Noch lange saßen sie nebeneinander auf Adelinas Bettrand, schweigend und flüsternd und wieder schweigend, und als Marlise endlich in ihr Zimmer zurückschlich, lag alles so dunkel vor ihr in schmerzhafter Verworrenheit, wie das windzerwühlte Herbstlaub unter den Fenstern, das vom kommenden Tage nichts mehr wußte. –
Es war wie ein Hohn, daß am nächsten Morgen die Sonne schien, als wolle sie noch einmal den vollen Glanz des gestorbenen Sommers hineinpressen in diesen späten Tag, ehe alles zu Ende war. In der kristallreinen Luft sah man vom Eck aus die silberweiße Kette des Hochgebirges fern über den Tälern schimmern, eine märchenhafte Welt, die sich überraschend auftat, weit, sehr weit.
Marlise und Adelina gingen umeinander herum wie schwer Verfeindete und hätten doch nichts sehnlicher gewünscht, als sich aneinander zu klammern im gleichen Schutz- und Trostbedürfnis.
Gegen elf Uhr kam Stephan, er war in Eile und wollte nur die Geige holen, um sich später mit Matthias Perscheid in der Kirche zu treffen; der Pfarrer hatte die erbetene Erlaubnis gern erteilt.
»Perscheid ist so aufgeregt, als stände er vor dem schwierigsten Konzertauftreten,« sagte Stephan und lachte ein wenig. »Er hat mir gesagt, er müsse noch eine Stunde draußen herumlaufen, um sich zu sammeln, sonst verpatze er alles, – drollig, so ein Künstler!«
Damit ging er schon wieder. Ob Marlise nachzukommen gedenke, hatte er nicht gefragt, er schien es als selbstverständlich anzusehen.
Und auch ihr war es plötzlich selbstverständlich; als müsse sie nun erst recht dabei sein, wenn dieser Mann auf Onkel Josephs Geige spielte: als sei es ihre unabweisbare Pflicht, dort über irgend etwas zu wachen, – worüber, das hätte sie freilich nicht sagen können. Sie machte sich fertig und stahl sich heimlich aus dem Hause, um nur Adelina nicht noch einmal zu begegnen.
Die Beurenbacher Kirche überglänzte mit ihrem neuen, nüchternen Weiß das herbstfahle Grün des Friedhofs. Viele Gräber waren mit brennend bunten Herbstblumen geschmückt. Marlise sandte einen dunklen Blick nach den beiden mächtigen Blautannen, die an der höchsten Stelle des Friedhofs den Begräbnisplatz der Stauffer bewachten, und das Herz tat ihr weh. Nein, hier war nichts von Onkel Joseph, kein noch so schwacher Widerschein seines Wesens in diesem satten, bunten Herbstprangen, unter dieser verschwenderischen und doch kalten Sonne! Einen Augenblick bereute sie, die strenge Stille des Ecks verlassen zu haben. Aber wieder pochte es wie der Mahnruf einer Pflicht an ihre Seele, und sie schritt schneller über den knirschenden Kiesweg auf die Kirchtür zu.
Drinnen umfing sie eine milde, goldige Dämmerung, die wohltat. Und still war es hier, köstlich still. Nichts regte sich als die Lichtscharen tanzender Stäubchen, die in den schräg hereinfallenden Sonnenstrahlen auf und ab schwangen. Marlise glaubte, da ihr niemand entgegenkam, Stephan und Perscheid seien noch nicht da, und es war ihr recht so. Sie setzte sich in eine der Kirchenbänke, stützte den Kopf in die Hände und dachte nichts.
Da kam aus der Höhe, von der Orgelempore herab und augenblicklich den ganzen Raum erfüllend, ein Ton wie der singende Aufschrei eines Engels; metallisch körperhaft, voll durchdringender Kraft und durchdringender Süße, unmenschlich schön. In einem breiten und strengen Thema spann der Ton sich aus, strömte wunderbar vervielfältigt durch das Gefüge doppelstimmiger Harmonien und brach in rauschenden Gängen machtvoll fortschreitend über jeden Widerstand des Staunens, des Fragens und Begreifenwollens hinweg. Von einem Kampfe schienen die Stimmen zu sprechen; aber ein Kampf war gemeint, bei dem es nicht Sieg noch Unterliegen gibt, der Kampf allein ist Aufgabe, Zweck und Erfüllung, jauchzende Bewegung der Kräfte im endlos wogenden Tonmeer. Dann brach es ab, irgendwie, auf einer brausenden Höhe; und wieder hob die erste Stimme an, ein schwebendes Licht, himmelhoch und himmelweit über allen Kleinheiten, die menschliche Grübelsucht hinaufdichten will in die wortlosen Wunder des Klanges. Die Stimme – unmöglich zu sagen, ob sie weine oder jauchze – war süß und bitter zugleich, erbarmungslos und muttermild, von Liebesglut erhitzt und fremd wie eines Wintersternhimmels Kälte, sie war alles und nichts, das nachttiefe und sonnenklare Nichts, das menschliches Wollen erlösend in sich verschlingt. Und dann war Stille; nicht Schweigen, denn die Stimme sang fort; was, das war gleichgültig; irgend etwas, das nun doch Sieg war; die Stimme selbst war der Sieg, war die unendliche und unbegreifliche Herrlichkeit des Überwinders.
Marlise wußte nichts mehr von sich selbst. Über alle kleine Not hinweg sprach einer zu ihr, der nicht mehr war: Joseph Stauffers befreite Seele tönte mächtig aus dem klingenden Holz dort oben, und der es zum Klingen brachte, wußte so wenig davon, daß er seine eigene Seele hinauszuwerfen glaubte mit den Klängen. Und er hatte recht damit. –
Nun war es wirklich still. Stephans Schritte, die von der Empore herab durch die Kirche kamen, hallten seltsam. Er sah Marlise sitzen, so regungslos und das zurückgelehnte Antlitz so schimmernd weiß, daß er nicht anders konnte, als sie mit tiefer Zärtlichkeit in seine Arme nehmen. »Liebling –« flüsterte er –
Sie starrte ihn an, als müsse sie sich überzeugen, daß wirklich er es sei. Einen Augenblick lehnte sie sich an seine Brust. Dann stand sie auf und ging Matthias Perscheid entgegen, der, den Geigenkasten in der Hand, langsam herankam. Auch er war sehr blaß.
Sie reichte ihm die Hand, beinah feierlich; es war wie ein Geschenk, ein Versprechen. Und als er sich über ihre Hand beugte, war es, als habe er nasse Augen. –
Stephan verabschiedete sich, er mußte in die Fabrik zurück, Perscheid begleitete Marlisen zum Eck hinauf. Sie sprachen wenig; nur was die endgültige Übergabe der Stradivari betraf, die übrigens erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen sollte.
Im Hause angekommen, traten sie ins Musikzimmer. Perscheid hatte den Geigenkasten niedergesetzt, er stand vor Marlisen in einer starken Ergriffenheit, die sprechen wollte und bange war, nicht die erschöpfenden Worte zu finden. Da blickte sie ihm klar ins Gesicht. »Haben Sie Dank!« sagte sie. »Sie haben mir sehr, sehr viel gegeben. Loben, – Ihr Spiel und Ihre Kunst, das kann ich nicht; ich weiß nur eins: daß ich glücklich sein werde, die Geige in Ihrer Hand zu wissen. Nun wird sie wieder leben! Und Ihnen wünsche ich, daß sich Ihnen alles erfüllen möge, was – jeder echte Künstler sich als das Höchste ersehnt.«
»Ich danke Ihnen!« stammelte er, so bewegt, als wisse er um alles.
»Leben Sie wohl!« sagte sie schlicht. »Und – wollen Sie nicht auch Adelina Lebewohl sagen? Ich meine, es müßte für Adelina und auch für Sie ein sanfterer Ausklang sein, wenn Sie nicht ohne ein letztes, herzliches Wort von ihr gehen.«
Perscheid zuckte so heftig zusammen, daß es war, als wanke er. Sein junges Gesicht war mit heißem Rot übergossen. Aber nur einen Augenblick stand er schweigend, dann hob er entschlossen den Kopf. »Fräulein Stauffer, ich schäme mich vor Ihnen! Aber Sie sind so gut, – darf ich Sie bitten, mich noch fünf Minuten lang anzuhören, – jetzt gleich?«
»Gern!« sagte Marlise und lächelte ein wenig. Sie hatte keine Ahnung mehr, wie sie dazu gekommen war, dies herbeizuführen; aber ihr war mit einem Male sehr leicht ums Herz.
»Vor allem bitte ich Sie, mir eins zu glauben,« begann Matthias Perscheid, »daß ich gestern abend hier nicht als der gewissenlose und aufgeblasene Schwätzer gesessen habe, für den Sie – und Adelina mich halten müssen! Es kam mir ja wie ein Blitzschlag, als ich Adelina hier sah, neben Ihnen, und alles war so – so anders! Wahrhaftig, unter meinem Schwadronieren saß mehr Fassungslosigkeit und – und Reue, als Sie ahnen mögen, Fräulein Stauffer. Ich will und kann mich vor Ihnen nicht reinwaschen: ich bin jung und bin auch wohl ein bißchen verwöhnt und nehme das Leben leicht, wo es sich mir leicht bietet, – ich habe das liebe, hübsche Spiel mit Adelina gespielt, wie jeder andere junge Mensch es getan hätte, und habe mir kein Gewissen daraus gemacht, weil sie mir stets zu verstehen gab, sie nehme es auch nicht ernster. Ich wußte auch sehr wenig von ihr, sie hielt mit ihren eigenen Angelegenheiten immer ein wenig hinter dem Berge, – und als ich merkte, sie fange an, mir lieber zu werden, als es in solch eine Frühlingständelei eigentlich hineinpaßt, da ging ich still meiner Wege und kam mir dabei noch sehr klug und tapfer vor. Leicht ist es mir nicht geworden. Fräulein Stauffer, es ist unglaublich, – es ist eigentlich unerhört, daß ich Ihnen, gerade Ihnen dies alles erzähle, ich weiß genau, es wäre tausendmal korrekter, wenn ich meine Erklärungen vor Adelinas Bruder brächte, aber – ich muß es Ihnen sagen, gerade Ihnen! Fräulein Stauffer, ich habe nie daran gedacht, Adelina heiraten zu wollen, trotzdem ich sie sehr lieb hatte. Es ist doch nur eine Spielerei, sagte ich mir immer wieder; und überhaupt, – wenn ich mir je eine Frau – als meine Frau vorgestellt habe, so sollte das nicht ein Mädchen sein, das – das ich –«
»Das Sie nur von der Straße her kannten,« fiel Marlise in seine stockenden Worte ein, ohne ihn anzusehen, »ja, so sagte Adelina gestern abend –«
»Nein, nein, – ja, – Herr Gott, hat sie das gesagt?« stammelte er dunkelrot und ergriffen. »Wie muß ich ihr weh getan haben! Wie muß es sie gekränkt haben! Aber – aber – ja, es war etwas von der Art, was ich dachte, und daß ich sie doch so wenig kannte, daß ich gar nicht wußte, in was für einer Umgebung und unter was für Menschen sie lebte! Und nun, – hier finde ich sie wieder, in diesem Hause, wo alles mich wie ein schöner Traum gefangen nimmt! Ich habe Herrn Klotz heute kaum in die Augen sehen können, und Sie, Fräulein Stauffer, Sie und – die Stradivari und alles, alles! Adelina ist ja hier ganz verwandelt, ich weiß nicht, macht das, daß Sie neben ihr sind wie eine Schwester Königin, – ach, ich rede dummes Zeug, ich verliere den Kopf, aber eins weiß ich sehr genau und möchte mein Leben dafür geben und die Stradivari obendrein, um es Ihnen glaubhaft zu machen: daß ich es Adelina mit jeder Faser meines Herzens abbitte, so geringschätzig von ihr gedacht zu haben, und daß ich – daß ich sie nicht verlieren will –«
Er brach ab, weil ihm die Stimme nicht mehr gehorchte. In seinen blauen Knabenaugen funkelte es heftig. Dann warf er sich mit einer trotzigen Bewegung das Haar aus der Stirn. »Fräulein Stauffer, ich bin ein Narr. Bitte, helfen Sie mir doch ein wenig! Sagen Sie mir: Adelina –, wird sie mich denn noch wollen? Und würden Sie –, Sie, Fräulein Stauffer? – Adelina raten können, es mit mir zu versuchen, trotz allem?«
Marlise streckte ihm mit warmem Lächeln die Hand hin. »Ich glaube, ich darf Ihnen mit ja antworten, auf beide Fragen. Aber ich habe hier doch eigentlich gar nichts zu sagen, da ist Stephan und da ist vor allen Dingen Adelinas Mutter –«
»Ach ja, gewiß! Die kommen dann auch noch daran,« rief er mit strahlenden Augen. »Aber Ihr Urteilsspruch war mir doch der wichtigste. Sie sind ohne Zweifel etwas wie ein lichter Schutzgeist hier, das habe ich vom ersten Augenblick an gespürt.« Er sah mit einer schönen, unwillkürlichen Wendung auf die Geige und hatte seinen ganzen tapfern Ernst wieder. »Wenn Sie meine Bitte ein klein wenig unterstützen wollten bei Adelinas Mutter und Bruder! Ich bin vorläufig wohl kaum als ein ansehnlicher Freier zu betrachten, meine künstlerische Entwicklung ist noch keineswegs abgeschlossen, meine Stellung nicht so gefestigt, daß man ein Haus darauf bauen dürfte. Ich bin auch noch sehr jung, Adelina ist es ebenfalls, ich sehe ein, daß wir beide noch viel zu lernen haben. Aber ich habe sie so lieb, wie ich – meine Frau lieb haben möchte, und wenn sie auf mich warten will, ein paar Jahre noch, so wird mich das in meinen besten Vorsätzen bestärken.«
Marlise erhob sich. »Ich will ihr sagen, daß Sie hier sind. Das übrige, – ja, dafür müssen Sie dann selber sorgen!«
Damit ging sie hinauf.