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12

Zuweilen überkommt Marlisen ein beschämendes Gefühl, als habe sie das Eck fast vergessen. Und vom Eck aus geschieht wenig genug, um dieser Vergeßlichkeit abzuhelfen. Onkel Joseph ist zeit seines Lebens ein sehr unwilliger Briefschreiber gewesen, kaum einmal im Monat erhält Marlise einen halbvollgeschriebenen Bogen von ihm. Die Berichte der Mutter beschränken sich auf das Alltägliche, und so bliebe Marlise abgeschnitten von vielem, was ihr daheim wichtig war, wenn Beate Michaelis Briefe nicht wären.

In Beates Briefen aber ist das ganze Tal mit seinem Vorfrühlingsduft, die Berge und Wälder sind darin und die Häuser von Beurenbach mit Menschen und Tieren. Beate ist dort heimisch geworden, sie weiß vom alten Niemeyer zu erzählen, von Pastors Fritzle und den Männlein und Weiblein des Spitals. Ja, sie hat irgendwann im Winter – Marlise weiß nicht recht auf welche Weise – Onkel Josephs Bekanntschaft gemacht, nun schweifen ihre klaren, gütigen Augen dann und wann bis ins Eck hinein, um Marlisen eine leise Botschaft zu übermitteln.

Ein warmer Märzabendregen schlägt an die Fenster des Großstadthauses, als ein Brief Beates ankommt und Marlise ihn unter der Lampe am Familientisch entfaltet. Die anderen lesen ebenfalls und stören sie nicht, und sie genießt jedes Wort, das heimatliche Dinge beim Namen nennt, mit zärtlicher Freude. Ordentlich schade ist es, daß der Brief ein Ende nimmt, dies ist die letzte Seite –

»Und nun möchte ich Sie noch eins fragen, liebe Marlise: wann kommen Sie wieder? und möchte wünschen, daß es bald sei. Denn ich glaube, Sie werden hier gebraucht, und nötiger vielleicht als dort. Als ich Ihren Onkel das letzte Mal sah, machte er mir keinen guten Eindruck, so etwa als stehe er unter einer schweren seelischen Verstimmung, und Sie, liebes Kind, werden ja wissen: es muß schon schlimm sein, wenn ich, ein fast fremder Mensch, ihm dergleichen anmerken kann. Heute nun traf ich Herrn Niemeyer, und ohne daß ich fragte, erzählte er mir, daß Herrn Stauffers Befinden ihm Sorge mache. Seine wortkarge, beinah schwermütige Verschlossenheit habe in den letzten Monaten in befremdender Weise zugenommen, sein Interesse am Gedeihen der Werke sei eigentümlich lahm geworden, zuweilen scheine es, als leiste er seine Arbeit nur unter dem Zwange äußerster Selbstbeherrschung. Außerhalb der Fabrik bekomme ihn niemand mehr zu sehen, und das Eck sei mehr denn je ein verwunschenes Schloß, unzugänglich und totenhaft still. Das alles gibt mir schwer zu denken, liebe Marlise, und ich kann nicht anders als es Ihnen sagen, wie es mir erscheint. Wir Fremden tappen ja im Dunkeln und wissen nichts; Sie aber werden begreifen, woran es fehlt, sowie Sie hier sind und sehen –«

Mit steifen Händen, sonderbar umständlich, legt Marlise den Brief zusammen, steht auf und geht hinaus, in die Küche, obgleich dort augenblicklich durchaus nichts für sie zu tun ist. Aber daran denkt sie nicht, sie weiß auch nicht, daß sie schon eine Viertelstunde lang unbeweglich gegen den Herd gelehnt gestanden hat, als die Tür geht und Stephan hastig hereintritt.

»Marlise, sag' doch, was gibt es? Du hast schlechte Nachrichten von Hause –«

Aufatmend fährt sie aus ihrer dumpfen Bangigkeit empor: oh, wie gut das tut, daß ein Mensch kommt und fragt, daß sie nicht allein bleiben muß mit dieser jähen, reißenden Sorge! »Schlechte Nachrichten, – ja, ich glaube –« und sie gibt Stephan Beates Brief.

Er hat das Blatt überflogen. »Marlise, da gibt es nur eins –«

»Ich fahre heim –«

»Ja, gewiß. Und ich denke, du nimmst morgen den Abendzug, es ist die beste Verbindung, du bist übermorgen nachmittag in Beurenbach. Morgen ist Sonntag, da habe ich Zeit, deine Fahrkarte zu besorgen, und was sonst zu tun ist, während du deine Sachen packst. Willst du dich zu Hause anmelden? Ich könnte jetzt gleich gehen und ein Telegramm aufgeben –«

»Es scheint dir ja sehr eilig zu sein, mich loszuwerden,« sagt Marlise mit einer kleinen, falsch klingenden Stimme, die scherzhaft sein soll, – im nächsten Augenblick schon begreift sie nicht mehr, wie sie es sagen konnte. Stephan erwidert gar nichts; er sieht sie nur an, mit diesem seltsam eindringlichen Blick seiner dunklen, nahe zusammengerückten Augen, den sie irgendwann schon gespürt hat und vor dem man so wehrlos wird. Sie senkt den Kopf und weiß plötzlich, daß es ihr unsinnig schwer wird, fortzugehen, von dieser Stelle hier und von allem –

Aber dann wieder versinkt das und wird unwesentlich, nur das Eck ist noch da und Onkel Joseph, – Herrgott, was ist mit ihm? Wenn man nur erst bei ihm wäre!

Das Haus Klotz gerät in Aufregung, als Marlise ihren Entschluß mitteilt. Adelina erschrickt so offensichtlich, daß selbst Stephan, der sehr schweigsam bleibt, darauf aufmerksam wird, und Tante Franze ist merkwürdig betreten. Sie, die immer mit allen Dingen im Handumdrehen fertig wird, scheint sich mit dieser Veränderung nur mühsam abfinden zu können, ja, man sollte meinen, sie habe darüber eine schlaflose Nacht. Ihr Gesicht ist bläßlich und bekümmert, als sie am nächsten Morgen ins Wohnzimmer tritt, wo Marlise, wie alltäglich, beim Aufräumen ist.

»Laß dich nicht stören, Kind, ich wollte nur gern ein paar Worte mit dir reden.« Aber diese paar Worte lassen lange auf sich warten. Tante Franze hockt ganz verloren auf einem Stuhl, der verquer auf dem umgeschlagenen Teppich steht, und bringt schließlich in fast schüchternem Ton die Frage heraus: »Ja, Maria, – wie soll es nun eigentlich hier werden?«

»Ach, Tante!« Marlise muß wirklich ein bißchen lachen. »Das ist ja alles nicht so schlimm mit der Wirtschaft! Die Aufwartfrau ist jetzt ganz leidlich eingearbeitet, Adelina wird sich gewiß allerlei Mühe geben, und dann habe ich gedacht: Vielleicht gebt ihr euch für die Hauptmahlzeit bei Fräulein Brand in Kost? Fräulein Brand ist so hilfsbereit und so praktisch, sie kocht auch gut und würde sicher alles so einrichten, daß ihr es möglichst bequem und nett habt –«

»Das würde Fräulein Brand gewiß tun, wenn du dabei wärst, Maria. Für dich tun die Leute alles; für uns nicht.«

Marlise macht große Augen. Aber sie sagt nur: »Ich könnte es ja mit Fräulein Brand besprechen, wenn du einverstanden bist! Dann habt ihr keinerlei Mühe davon –«

»Ja, ja, Maria; so bist du –« Tante Franze gerät nicht weiter und scheint über etwas andres nachzudenken, das nach längerem Schweigen in einem noch wunderlicheren Ausspruch zum Vorschein kommt.

»Schildre uns und unser Leben hier nur nicht in allzu düstern Farben vor Joseph!« sagt Tante Franze.

Jetzt findet Marlise keinerlei Entgegnung. Sie starrt Tante Franze so bestürzt an, daß diese sich zu einer näheren Erklärung entschließt. »Ja, nämlich, – also, das weiß ich sehr genau, daß er das Ganze hier, den Haushalt und unsre Beschäftigungen, und wie immer der eine hierhin und der andre dorthin rennt, – daß er das alles entsetzlich fände und daß er mir Vorwürfe machen würde, weil es nicht anders ist. Es mag ja etwas Wahres daran sein, aber – nun, er hat gut reden. Er hat immer warm und bequem gesessen, er weiß nicht, wie das ist, wenn man sein Leben von Grund auf ändern muß und doch gar nicht weiß, welche Gestalt es nun eigentlich annehmen soll! Den Kindern fällt das nicht so schwer, für sie bedeutet schließlich alles Neue eine Erfahrung und Bereicherung. Wer aber älter ist, der verliert den Mut und die schöne Neugier und möchte nur von der guten alten Zeit so viel festhalten, wie es möglich ist –. Du, Maria, hast ja auch manchmal im stillen gemeint, ich könne wohl mehr zu Hause bleiben und mich der Pflichten annehmen, die du dir so bereitwillig aufgepackt hast, – ja, ja, Kind, laß nur, du hast das empfunden, und ich sage kein Wort dagegen, am Ende hast du ganz recht! Aber –, mir fällt es vielleicht von uns dreien am allerschwersten, mich in Deutschland einzugewöhnen, ja, manchmal denke ich, es ist mir ganz und gar unmöglich! Und deshalb, weil ich mich so heimatlos fühle, stecke ich immer und immer bei Steffensens, denn da weht die Luft, die ich zum Leben brauche, die Luft von ›drüben‹, wo ich meine glücklichsten Frauenjahre verlebt habe und wo ich mich heute noch hingehörig fühle. Und alles wird für mich nur noch schwerer dadurch, daß die Kinder hierin ganz anders empfinden: Stephan wandelt sich mehr und mehr zum Deutschen zurück, zum echten, schwerblütigen, gefühlvollen, auf Tüchtigkeit erpichten Deutschen, und Adelina, – ach, Adelina hat nur das ganz überzeugungslose Bestreben, sich da gemütlich einzurichten, wo der Wind sie nun einmal hinweht. Siehst du, Maria, so ist es, und wenn du nun fortgehst, weiß ich eigentlich nicht, was aus uns wird, – denn du hast doch hier alles zusammengehalten, nicht den Haushalt meine ich, der ist am Ende gar nicht so wichtig, aber das Stückchen stillen, sichern Boden, das du uns bereitet hast, das einzige, auf dem wir uns in einiger Gemeinsamkeit zusammenfanden! Ich sehe ein, du kannst nicht länger bleiben, es ist schon sehr viel, daß du uns alle diese Monate geopfert hast, und Joseph, mit dem du dich so gut verstehst, hat ja ein weit größeres Anrecht auf dich. Wir – werden uns ja auch irgendwie zurechtkrabbeln! Schließlich ist nichts unüberwindlich, und die Verhältnisse bessern sich mit der Zeit für jeden von uns, so daß man nicht mehr so beengt ist –«

Damit hat Tante Franze ihr altes Selbstvertrauen wieder erhascht, sie steht auf und rückt ihre Stirnlocken zurecht. Marlise aber tut etwas, was sie bisher für unausführbar gehalten hätte: sie faßt Tante Franze einfach um den Hals und küßt sie auf beide zartgepuderte Wangen. »Hab' Dank, Tante!« sagt sie herzlich, trotzdem ihr im Augenblick nicht ganz klar ist, wofür sie dankt.

»Nein, Kind, du nicht; ich habe dir zu danken, – und das tue ich und hab' es immer getan, wenn es auch zuweilen nicht so ausgesehen haben mag. Nun weiß ich wohl, was Joseph an dir hat –« Frau Franziska bricht ab, als hindre ein seltsam wehmütiger Gedanke sie am Weitersprechen, dann küßt sie Marlises Stirn in fast unbeholfen liebreicher Art. »Alles Gute über dich, Maria.«

Dies ist Tante Franze, wie sie wohl nur wenige Menschen kennen. Es ist ja auch nicht die richtige, eigentliche Tante Franze, es ist nur ein kleines, vergessenes, selten gebrauchtes Stück von ihr. Aber daß dieses Stück überhaupt vorhanden ist, bedeutet sehr viel; es löscht manche still verschluckte Demütigung aus. –

Es muß heute schnell gehen mit dem, was noch zu sagen ist, und neben Marlises halbgepacktem Koffer findet ein zweites Abschiednehmen statt, weniger wortreich als das erste, aber weit höher angefüllt mit Liebe und Bangigkeit der Trennung.

Adelina kann vor Tränen kaum sprechen. Wieder ist es nur das kleine, dumme, hilflose Wort, das zwischen dem Schluchzen verständlich wird: »Ich habe Angst, o Maria, ich habe Angst –«

Marlise weiß nicht, wie sie trösten soll; denn sie hat selber Angst, leidenschaftliche, unerklärbare Angst um Adelinas Schicksal, die zugleich irgendwie Angst um ihr eigenes ist.

»All meine Liebsten gehen fort,« flüstert Adelina, »heute du, und er – er bleibt auch nur noch ein paar Wochen! Dann bin ich ganz allein –«

»Aber du wirst mir schreiben, Liebes! Alles, nicht wahr? Alles, was dir begegnet, jetzt und nachher! Denk' immer: ich bin bei dir und möchte dir helfen –«

»Ja, Maria, du Goldene! O du bist gut zu mir gewesen, so gut. Wer weiß, was ich angestellt hätte ohne dich? Ich hab' immer meinen Kopf aufgesetzt und groß getan, wenn du gescholten hast, aber hinterher hab' ich mich doch geschämt und hab' nachdenken müssen, ob du nicht recht hättest. Und nun gehst du, und ich hab' niemand mehr, dem ich folgen mag –«

Marlise denkt etwas – aber sie hat nicht den Mut, es auszusprechen. Es wäre zwecklos und irgendwie furchtbar traurig. Tante Franze und Adelina, – nein, da ist eine Kluft der Gleichgültigkeit und des Nichtverstehens, die kein noch so behutsames Wort überbrücken kann. Die beiden, die einander die Nächsten sein sollten, – beide tragen sie eine Not und Ratlosigkeit mit sich herum und bleiben sich doch so fern wie fremde Menschen. Und Marlise sieht plötzlich ihre Mutter vor sich, einsam und abgeschlossen in ihrem Zimmer, das angefüllt ist mit den Bildern einer versunkenen Zeit, – ist da nicht auch diese Fremdheit? Muß es so sein zwischen Müttern und Töchtern, sobald man groß ist und das eigene Leben zu leben anfängt? Es tut weh, das zu denken, und doch ist ein leiser, stolzer Trost in dem Gefühl, daß man nun ganz auf der eigenen Seele Kraft gestellt ist, eingehüllt und geborgen im Geheimnis des eigenen Herzenswillens.

Marlise liebkost Adelinas seidigen Scheitel. »Liebes, sei tapfer! Sei – sorgsam mit dir selbst! Es kann dir ja niemand helfen, dich zu hüten, nun nicht mehr, auch ich nicht. Du mußt selber sehen, wie du es bestehst –«

Noch ein paar unruhige Stunden, in denen Worte und Gedanken bald vorwärts-, bald zurückschweifen, ziellos und zerrissen; dann steigt Marlise mit Stephan in den Wagen, der sie zur Bahn bringen soll. Ihr Kopf ist dumpf ermüdet, und doch klopft in ihren Schläfen eine ängstliche Spannung, als bliebe noch irgend etwas zu erwarten.

Hinter den Wagenfenstern ziehen die abendlichen Straßenlichter schnell vorbei, daß die Regentropfen an den Scheiben blitzen. Es sind nur noch ein paar armselige Minuten. Und Stephan schweigt in der finsteren Wagenecke.

»Hast du auch den Kofferschlüssel abgezogen?« fragt er plötzlich; es ist eine so überflüssige, täppische Frage, aber es ist Marlisen recht, daß er überhaupt spricht, – und jetzt nimmt er ihre Hand, die hell wie ein Blumenblatt in ihrem Schoß liegt.

»Marlise –; und wenn etwas dir zu schwer wird, wenn du je einen Menschen brauchst, – dann rufe mich. Ich bin immer für dich da, das weißt du –«

Ja, sie weiß es; jetzt weiß sie es; mit einem leisen, zitternd beglückten Aufatmen lehnt sie sich zurück. Stephan hat sich über ihre Hand gebeugt, die er behutsam küßt, dicht vor ihr ist sein schmaler, harter Staufferkopf, sein dunkles, kurz und dicht gewelltes Haar, das sie irgendwann so gern hätte streicheln mögen. Gleich wird man am Bahnhof angelangt sein, – und Marlise hebt beinahe hastig die freie Hand und verschenkt ihre erste kleine Liebkosung, die sie so lange aufbewahrt hat.

Dann ist alles vorbei; das Eilen, Suchen, Herumstehen an der Gepäckaufgabe und am Zug nur eine peinvolle Geschäftigkeit, welche die leeren, kahlen Minuten ausfüllt. Ein Händedruck und ein letzter warmer Blick. – »Geh nun, bitte, geh!« drängt Marlise, »bleib nicht da draußen stehen, das ist so sinnlos –«

Er geht. Und nun fährt der Zug.

Dies dumpfe, wütend eilfertige Räderrollen da unten, die ganze Nacht! Dann wird es hell, eine weißlich blanke, kalte Morgenfrühe sticht in die verwachten Augen, und unten rollt es, rollt es. Jede Umdrehung ist eine Armlänge Land, die sich zwischen das Gestern und das Heute legt, und dicht auf das Heute folgt das Morgen, – was für ein Morgen?

Marlise kann nicht schlafen, während der ganzen, langen Fahrt nicht. Nur für Minuten versinkt sie in einer Art Betäubung, durch die es eintönig läutet wie von zwei fernen Glocken, die eine hier, die andere dort: Stephan, – Onkel Joseph, – Stephan, – nein, Onkel Joseph! – Stephan –?

Aber selbst dieser Eisenbahntag nimmt ein Ende, so unglaublich das anfangs schien. Als Marlise in die Kleinbahn umgestiegen ist und in jedem Bergrücken, jedem Wald und Dorfkirchturm ein Stück Heimat auftaucht, da ist nichts mehr in ihr als jubelnde Ungeduld und das fieberhafte Glück des »gleich zu Hause!« Lieber, lieber Gott, wie ist das Land so schön unter der zart leuchtenden Vorfrühlingssonne, das feuchte Wiesengrün mit den ersten kleinen Blumen gefleckt, das erwartungsvolle Blau der Wälder und hoch oben an den Bergen weiße Bänder von Schnee! Marlise kann nicht mehr sitzen bleiben, rasch atmend lehnt sie im offenen Fenster, und die Räder sind noch nicht zur Ruhe gekommen auf dem Beurenbacher Bahnhöfchen, als sie schon draußen steht in der heimatlichen Luft! Schnell, nur schnell, das Handgepäck behält der Stationsbeamte, der sie grinsend und diensteifrig bewillkommnet, nun ist sie frei und eilt die Straße hinab, fast laufend. Daß nur niemand Bekanntes des Weges kommt und sie etwa aufhält! Schon daß sie hie und da grüßen muß, ist ihr zu viel, sie atmet auf, als die Häuser zurückbleiben, nichts sieht sie mehr als das Eck, das unverändert schön, weiß und still vor seinem Waldberge liegt, wie immer, wie immer!

Marlise rennt den Hügelweg hinan, sie weiß nichts davon, daß sie eine siebzehnstündige Bahnfahrt hinter sich hat, sie ist wie ein abgeschnellter Pfeil. Nur noch über die Wiese, – und da regt sich's auch schon im Garten, das Hausmädchen, das sie hat kommen sehen, stürzt mit flatternder Schürze herbei, um ihr das Tor, die Haustür aufzureißen, strahlend und fassungslos, und von irgendwoher schießt Loki, der Hund, Marlisen zwischen die Füße, er rast, hüpft, tanzt, winselt, überkugelt sich, wie unsinnig vor Freude.

»Ja, ja, Anna! Da bin ich wieder, – Hund, Hund, bring mich nicht um! – Anna, ist Herr Stauffer da? Im Wohnzimmer? Ja, gleich –«

Und die Türen gehen auf vor ihr, jede mit ihrem eigenen Ruck und Laut, den sie immer, immer hatten, es ist das Licht, die Luft, die süße Wärme des Heimathauses um alle Sinne, und da – da ist Onkel Joseph –

Er hat den Tumult im Garten gehört, die Stimme vielleicht, nun steht er mitten im Zimmer, schmal und hoch und dunkel gegen das Licht, unbeweglich. Marlise weiß nichts, sieht nichts und sagt kein Wort, sie ist da und fällt an seine Brust wie der Pfeil in das Herz, das ihm bestimmt war. Sie will aufschauen und sein Gesicht finden, sein liebes, stilles, gütiges Gesicht, wie es immer, immer war, aber sie kann es nicht: er hat die Hand um ihren Nacken gelegt und hält ihren Kopf an seiner Schulter fest, daß sie blind ist und warten muß, lange; so lange, bis das Beben, das sie in seinem ganzen Körper spürt, sich gesänftigt und verloren hat.

Dann richtet er ihr Gesicht zu sich empor. »Kind Marlise –! du bist es!« und es ist sein vertrautes Lächeln, es sind seine Augen, in deren warmer Tiefe man so zu Hause ist. »Marlise, du, wie ist das schön! Kind, das war ein langer Winter –«

»Ja, Onkel –« Marlise läßt ihn los, sieht sich um und sieht wieder ihn an. »Ich glaube, jetzt weiß ich erst, wie lang er war! Aber nun bleibe ich hier, Onkel, zu Hause, bei dir!«

Er sieht sie an und lächelt, ungläubig und beglückt.


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