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14

War es möglich, daß nach diesen Erschütterungen das Leben seinen Gang weiterging, als sei nichts geschehen? Marlise ängstigte sich in den folgenden Tagen bis zum heimlichen Weinen vor jeder Mahlzeit, jeder abendlichen Stunde, die ein Zusammensein mit Onkel Joseph unvermeidlich machten, und doch wußte sie keinen Weg, der diese Pein umgangen hätte. Ein Unwohlsein vorschützen, um in ihrem Zimmer bleiben zu können –? Sie hatte nur einen Augenblick daran gedacht und schämte sich gleich darauf um so schmerzlicher, als sie sah, mit welcher Selbstbeherrschung Onkel Joseph das Seine tat, um ihnen beiden das Zusammenleben ohne Lüge erträglich zu machen.

Er hatte einen Tag und noch einen verstreichen lassen, ohne des Geschehenen Erwähnung zu tun, noch ohne die gedrückte Wortknappheit zwischen ihnen kleinlich zu bemänteln. Dann aber, als sie eines Abends mit schüchternem Gutenachtgruß das Eßzimmer verlassen wollte, um zur Mutter hinaufzugehen, hielt er sie ruhig zurück. »Wir sind immer gefaßte Leute gewesen, Marlise, – ich denke, wir bringen es auch diesmal fertig. Hab' ein Weilchen Geduld; von meiner Seite wird nichts geschehen, was dich an – die Unterbrechung unsrer Stille erinnert. Glaubst du aber, du könntest dich im Eck nicht mehr heimisch fühlen, nach diesem, – so sprechen wir später davon, und ich würde alles tun –«

Da streckte sie erschrocken die Hand nach ihm aus. »Nein, Onkel, nein! Was – sollte ich sonst –? und – wenn du mich trotzdem behalten willst –«

»Marlise –!« sagte er nur; es worein leiser, sehr weher Vorwurf, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Dann nahm er ihre Hand und drückte sie kurz. »Laß es gut sein, Kind; laß es begraben sein. Da unten –« er machte eine seltsame Handbewegung, als deute er in eine unerkennbare Tiefe hinab, »hat vieles Platz.«

Dabei war es geblieben. Man lebte ja weiter; aber es war alles maßlos schwer und wirr. Die Dinge des Tages und der Schlaf der Nächte waren aus ihren Fugen.

Marlise wurde von einer verzweifelten Unruhe umgetrieben. Es ging noch an, solange die häuslichen Pflichten, die sie in dieser Zeit absichtlich ernst nahm und ausdehnte, sie in Atem hielten; aber die Stunden, die sie sonst nach Lust und Laune ausgefüllt hatte, die Nachmittage und die langen, hellen Abende, waren schrecklich. Dann war es, als könne sie die Wände des Ecks nicht mehr um sich ertragen. Sie lief hinaus, – nicht ins Spital, auch Beates Teilnahme und Zuspruch wäre ihr jetzt zu viel gewesen, sie wollte nichts als allein sein und floh auf den stillsten Waldwegen bergan, wo nur die Bäume waren und das Moos und ein ferner, schweigsamer Himmel über den Wipfeln.

Das Jahr schickte einen sonnenarmen Frühling über das Land, es regnete viel, die Blüte entfaltete sich ohne die rechte Stetigkeit und Freude, und die seltenen klaren Tage hatten einen hastigen, windzerflatterten Glanz, der nicht wohltat. Spät wurde der Bergwald grün. Und immer lag in den Fernen ein müder und trüber Dunst, der den Flug der Blicke und Sinne einfing und verschluckte.

Aber Marlise sah nicht oft nach den Fernen. Immer wieder, wenn sie an hoher Stelle aus dem Walde trat, wo die Hügel und Täler sich unter ihr ausbreiteten, suchten ihre Augen das Eck. In weißer, winziger Verlassenheit lag es in all dem feuchten, dunstigen Grün, wie auf dem Grunde eines Sees von Trübsal ein verlorener Kiesel. Und Marlise konnte lange, lange hinabstarren, während ihre Gedanken immer wieder dieselben mühseligen Wege gingen.

Warum, – warum war alles so gekommen? Wer trug eine Schuld daran? Nicht sie, nicht Onkel Joseph, – und das war das Schlimmste und Schwerste, daß man nicht sah, wie es hätte anders sein können; daß das heutige Unglück, – denn ein Unglück war es, das wußte Marlise sehr genau, – unabwendbar erwachsen war aus dem Besten und Schönsten, was das Leben bisher gehabt: aus der freudigen Zusammengehörigkeit, die sie mit Onkel Joseph verband und der kostbar klingenden Stille des Ecks!

Warum wurde das Leben so undurchdringlich dunkel, so hart und feindselig und unlenksam? Warum – lieber Gott, warum war es so, daß man einsehen mußte: wir können nicht lieben wollen –

War es nicht kindisch und sinnlos, ja, war es nicht geradezu anmaßend gewesen, wie man mit großen Worten und Vorsätzen umgegangen war: das Gute wollen, helfen, glücklich machen –? Das Gute, – wie sah es denn aus, wenn man es recht erkennen wollte? Und wie armselig zerrann der Traum vom Helfen und Glücklichmachen, wenn man die eine gütigste und treuste Hand, die sich bittend ausstreckt, nicht zu füllen vermochte?

»Ich hätte es gekonnt,« dachte Marlise in wehem, scheuem Grübeln, »früher, vor einem Jahr noch! Wenn Onkel Joseph damals fragte, – ich hätte es wohl getan! Ach, vielleicht wäre es besser gewesen! Dann hätte ich nie erfahren, daß es eine Welt gibt außerhalb der Welt des Ecks –«

Aber etwas in ihr erhob sich angstvoll gegen diesen Gedanken. Etwas schluchzte auf und klammerte sich fest und wollte nicht hergeben, was zwischen dem Damals und dem Heute lag.

Nein, nein! Es war zu spät zum Zurückdenken, und es war auch feige! Was half es, daß man sich vor dem Geschehenen versteckte? Es war da und blieb, dunkel und unübersteigbar groß, und die eigne notvolle Verwirrung war vielleicht nicht das Schlimmste daran –

Marlises Herz krampfte sich zusammen, wenn sie an Onkel Joseph dachte. Er schwieg und gab sich den Anschein vollendeter Gefaßtheit; aber täglich und stündlich spürte sie neben sich den kalten Hauch eines Leidens, dessen Maß weit über ihre Vorstellung hinausging. Sein Gesicht war hart und scharf geworden, sein gutes, junges, zähneblitzendes Lächeln schien gestorben, und seine Hände lagen, wenn er las oder untätig in den Garten hinausblickte, mit einem solchen Ausdruck der Mutlosigkeit und Verlassenheit neben ihm, daß man sie nicht ohne Erschrecken ansehen konnte. Und was ging in seinen Nächten vor, wenn man das leise Geräusch seiner Schritte bis weit über Mitternacht aus seinem Zimmer hören konnte, auf und ab, eintönig und unermüdlich? Marlise horchte danach in ihrem Bett, wenn die eigene Herzensunruhe sie aus dem Schlaf jagte, und wie Tränen, die man nicht ausweinen kann, lastete brennend auf ihrer Seele das Schuldbewußtsein: was habe ich ihm angetan!

Gläserner Berg! o du schimmernder, klingender, du geliebter gläserner Berg, nun bist du in tausend Stücke zerschlagen! Ein furchtbar Einsamer ist unter den Trümmern zurückgeblieben, von unbarmherzigen Winden umweht, und das entzauberte Königskind irrt draußen im dunklen Walde umher und weiß nicht wohin. –

Marlise lief durch die Wälder. Die Zweige der Tannen streiften ihr Haar, das regenfeuchte Moos war weich unter ihren Füßen, und kleine Vögel blickten mit stillen, glänzenden Augen von den Zweigen herab. Das alles tat wohl auf eine seltsam einschläfernde, menschenfremde Art. Und wenn die Abendwolken am Himmel verbrannten und über den schweigenden Weiten die Sehnsucht riesengroß sich aufmachte, dann konnte es geschehen, daß Marlise einen grauen Buchenstamm umschlang wie einen Freund und an seiner Rinde den Namen hinsprach, den sie tagsüber ängstlich in ihrem Herzen festgehalten hatte: »Stephan, – Stephan, – Stephan!«

Denn hier, in völliger Einsamkeit und weit entfernt vom Eck, war es kein Unrecht mehr und weniger tollkühn, an das zu denken, was so leise geworden war, daß es schien, als habe man es längst gewußt und besessen. Hier durfte man sich all der kleinen Dinge des Winters erinnern und sich lächelnd wundern, wie bedeutsam und lieblich sie aussahen, wenn man sie zärtlich hervorholte! Man wurde ruhig und beinah glücklich darüber, und immer noch lag es auf Marlises Hand wie die zarte Spur eines Kusses und in ihrem Herzen Stephans letztes Wort: »Wenn du je einen Menschen brauchst –«

Aus der leidvollen Verwirrung ihres Lebens drängte ihre ganze Seele zu ihm hin, und doch wußte sie wohl: sie hätte ihn nicht rufen dürfen, jetzt nicht. Was ihr jetzt geschah, das mußte sie allein durchmachen, niemand konnte ihr dabei helfen, auch er nicht.

Während Marlise durch den vom rötlich müden Abendlicht erfüllten Wald langsam bergab stieg, wurde ihr Herz sehr still und ergab sich in alles, was geschah. Und über das Eck neigte sich, als sie unter den Bäumen heraustrat, die Dämmerung wie ein weicher, barmherziger Mantel, so sanft als käme für alle quälende Verworrenheit dennoch eine Lösung – und Erlösung aus einer dunklen Ferne. –

Eines Nachts fuhr Marlise aus dem Schlafe empor, zitternd vom Schrecken eines schweren Traumes. Ihr Herz hämmerte, und angstvoll tastete sie in der Finsternis um sich: ja, dies war ihr Bett, und dort schimmerte das matte Viereck des Fensters, – aber jetzt, was war das? Sie träumte doch nicht mehr, – es klopfte, – klopfte irgendwo, ganz nahe, schwach und dumpf und eindringlich. Ein lähmendes Grauen überfiel sie, als müsse jeden Augenblick etwas unausdenkbar Fürchterliches sich auftun. Mit einem Male aber war sie hell wach und fuhr auch schon aus den Kissen: das Klopfen kam ja von nebenan, aus Onkel Josephs Zimmer, sein Bett stand fast Wand an Wand mit dem ihren! Sie sprang in den Vorsaal hinaus, sah einen Lichtstreif unter Onkel Josephs Tür und stand gleich darauf an seinem Bett.

Aus dem zerwühlten Kissen blickte sein heißes Gesicht mit tief umschatteten, unruhig leidenden Augen. »Ja, Kind, ich war es, sei nicht böse! Bitte, willst du mir die Fiebertabletten dort aus dem Schränkchen geben? Ich – kann nicht recht; es dreht sich alles, wenn ich mich aufrichte; und – ich mag nicht an der Erde liegen –«

Marlise begriff, daß er nur mit Anstrengung seine Gedanken zusammenhielt. Sie brachte ihm die Tabletten und Wasser, dann lief sie nach unten ans Telephon und rief den Arzt an. Als sie wiederkam, schien Onkel Joseph etwas ruhiger. Er griff nach ihrer Hand. »Verzeih, Marlise! Man sollte allein fertig werden; aber mir war so – sehr unbehaglich. Hab' vielen Dank! Und nun geh, schlaf weiter, Kind –«

Sie hielt seinen Puls, der hastig und unregelmäßig ging. Es war ihr schwer, ihn allein zu lassen. »Du klopfst gewiß, Onkel, wenn du irgend etwas brauchst?«

»Ja, ja, aber mir ist nun schon besser. Geh, Kind, und mach' dir keine Sorgen. Das geht vorüber, es war ja schon einmal so –«

Sie ging; aber schlafen konnte sie nicht mehr.

Der Arzt kam früh. Er blieb lange an Onkel Josephs Bett, verschrieb etwas und gab ein paar Anordnungen. Marlise begleitete ihn bis ans Gartentor.

»Herr Doktor, ich finde es so unheimlich! Er ist doch immer gesund gewesen, und das bißchen Husten kann es doch nicht sein! Was ist es nur?«

Der Arzt, ein junger, fast bäurisch aussehender Mann, blickte sie teilnehmend und ein wenig unsicher an. »Zu ernsten Befürchtungen ist kein Anlaß, Fräulein Stauffer. Immerhin darf man die Sache nicht ganz auf die leichte Achsel nehmen, – das Herz ist etwas angegriffen. Wäre es Ihnen eine Beruhigung, wenn ich einen zweiten Arzt hinzuzöge? Ich weiß, daß Geheimrat Berend aus Freiburg dieser Tage in Schnepfheim erwartet wird, er ist durchaus Autorität für innere Krankheiten. Ich denke, auch Ihr Herr Onkel wird nichts dagegen einzuwenden haben.«

Marlise wußte freilich, daß Onkel Joseph in einem gewissen gleichmütigen Feindschaftsverhältnis zu aller ärztlichen Wissenschaft stand. Aber auf diese kleine Wunderlichkeit war jetzt keine Rücksicht zu nehmen, es durfte nichts, – nicht das allergeringste versäumt werden.

Joseph Stauffer erhob auch keinen Einspruch. Er sah in Marlises bittendes Gesicht und sagte: »Ja, Kind, wenn du denkst, – gewiß! Auch unserem guten Doktor gönne ich die Hilfe; mir scheint, er kennt sich nicht ganz aus.« Dann zuckte er die Achseln: »Im Grunde ist es ja so viel Aufhebens nicht wert.«

Der berühmte Arzt erschien, und es war eine beklemmende, feindselige Stille im Hause, während er mit Doktor Zech im Krankenzimmer weilte. Marlise hörte die Uhren schlagen und wartete in fröstelnder Ungeduld, aber es war weniger die Angst vor schlimmen Eröffnungen, was sie quälte, als das Gefühl: »wären sie nur erst wieder fort!« Dann war es droben zu Ende, der Geheimrat kam und sprach mit ihr, in einer seinen, wohlgeübten Liebenswürdigkeit, die unter allen Umständen beruhigen zu wollen schien. »Der Befund in keiner Weise bedenklich, – vollkommen normaler Verlauf, – die Herztätigkeit durchaus in der Besserung,« – das waren Worte, an die man glauben sollte, und man wollte ja auch so gern glauben! Aber als Marlise die beiden dunklen Röcke amtswichtig und gelassen den Wiesenweg hinabwandeln sah, da riß ein ohnmächtiges Mißtrauen durch ihre Seele. »Die dort wissen! Wir aber – sollen nicht wissen! Uns bleibt nur die Angst, daß sie uns belügen –«

Sie fühlte den Gedanken erstickend in sich wachsen, und um sie stand eisig das Schweigen des Ecks. Da raffte sie sich zusammen und ging hinauf zu Onkel Joseph. Denn seltsamerweise schien es, als sei man nur in seiner Nähe vor solchen Gespenstern sicher.

Er war fieberfrei, lag aber noch zu Bett, und in der leisen Unbehilflichkeit, die das Kranksein ihm auferlegte, war er Marlisen ein klein wenig fremd. Er wandte sich ihr jedoch mit einem hellen, friedvollen Lächeln zu. »Da bist du, Kind Marlise, das ist schön! Setz dich ein Weilchen zu mir, willst du? Nein, nicht so nah ans Bett, um mich ist Krankenluft, und du duftest wie der Frühling selbst. Setz dich dort ans Fenster, wo ich dich sehen kann. Marlise, es ist gut, daß die fremden Menschen, die Medizinmänner, fort sind.«

»Haben sie dich geplagt, Onkel?«

»Ach, keine Spur! Nur, siehst du, sie fragen so unheimlich viel. Und dabei ist das Ganze höchst überflüssig. Schließlich sind wir selber, was uns angeht, doch immer die Gescheitesten.«

»Wirklich, Onkel? Du weißt, ich habe ungeheuer viel Ehrfurcht vor deiner Allwissenheit. Ob du es aber mit diesem überlegenen Herrn Geheimrat aufnehmen kannst, was den inneren Menschen anbetrifft –?« Marlise lachte und blinzelte ihm zu wie in alten Tagen.

»Weil ich mir nicht selber mit dem schwarzen Röhrchen das Herz behorchen kann? Das brauche ich gar nicht, um über meinen inneren Menschen, wie du sagst, Bescheid zu wissen. Laß doch die Leute, Marlise; man wird die Mittelchen schlucken, die sie verschreiben, – vorausgesetzt, daß sie einen nicht in der Bequemlichkeit stören, – und im übrigen vertraut man der Kraft des aufsteigenden Jahres und der unanfechtbaren Notwendigkeit der Dinge.« Er mußte husten und setzte sich im Bett auf.

Marlise kam heran, um ihm ein Kissen über den Rücken zu legen. »Du solltest nicht sprechen,« sagte sie, »der Geheimrat hat gesagt, du müßtest sehr gepflegt werden und dich still verhalten –«

»Mich still verhalten, – nun, den Gefallen werde ich ihm tun, es wird mir ja gar nichts anderes übrig bleiben! Dank dir, Kind; setz dich wieder dorthin, ja? Es ist so hübsch zu sehen, dein Haar und dein blaues Kleid im Fensterlicht!«

Sie tat ihm den Willen, bemerkte aber, daß seine Blicke bald von ihr abglitten, ins Leere, während ein eigentümlicher, schimmernder Ernst sich über seine Züge breitete. »Haft du einmal darüber nachgedacht,« sagte er plötzlich, undeutlich leise, »was das eigentlich besagt: Gottes Wille? Schopenhauer sagt schlichthin: der Wille. Es genügt auch. Es ist im Grunde dasselbe. Daß ein Wollen da ist, außer uns, – das ist es. Daß wir einmal aufhören dürfen, selbst zu wollen und uns dessen nicht zu schämen brauchen, – darin liegt es.«

Er schwieg und schloß eine Weile die Augen. Als er sie wieder aufschlug, begegneten sie Marlises dunkel fragendem Blick, und er lächelte ihr zu. »Wunderst du dich, Liebling? Ja, sieh, ich habe nun so viel Zeit zum Denken; und mir ist etwas eingefallen, heute nacht und – vorhin, – dies: wir sollten niemals mutlos werden! Verzagen ist armselig, ist ganz einfach Mangel an Phantasie. Und es zeigt sich am Ende, daß der Wille, – Gottes Wille unendlich mehr Erfindungsgabe besitzt als wir. Ihm fällt immer noch etwas ein, wo wir gar keinen Ausweg mehr sahen. Und dann haben wir noch die reine Zuschauerfreude, daß alles sich so harmonisch rundet, – weißt du, wie wenn das Hauptthema zum Schluß noch einmal in einer ganz neuen, beseligend schönen Ausgestaltung auftritt.«

Er legte den Kopf, noch lächelnd, seitwärts ins Kissen, und seine blassen Finger pochten auf der Decke irgend einen Rhythmus. Marlise rührte sich nicht. Sie war ein wenig ängstlich und fragte sich, ob es nicht besser sei, ihn in diesem Sinnen zu unterbrechen. Aber es wäre nicht mehr nötig gewesen; er schlief ein, fast plötzlich. Und sie seufzte erleichtert auf, als sie seine leisen, regelmäßigen Atemzüge hörte. –

Das steigende Jahr nahm Joseph Stauffer noch einmal ins Schlepptau. Wenige Tage später lag er während der sonnigen Stunden im Liegestuhl in der Veranda, noch etwas weiter und er war wieder auf, ging in den Zimmern umher, saß bei den Mahlzeiten an seinem Platz wie immer. Marlises Befürchtung, er werde sich gegen das Gepflegtwerden sträuben, erwies sich als grundlos: er nahm ihre fürsorglichen Aufmerksamkeiten freundlich und folgsam hin, und ihm wie ihr erwuchs daraus eine neue, sanfte Unbefangenheit, welche die schmerzhafte Entfremdung der letzten Wochen wohltätig überbrückte.

Wurde er gesund? Oder war es eine von geheimen Quellen gespeiste Willenskraft, die ihn aufrecht erhielt? Marlise betrachtete ihn oft in leiser Bangigkeit, wenn er am Schreibtisch saß, lesend, schreibend oder in den Fächern kramend, als gälte es vieles zu ordnen. Sein Aussehen war kaum verändert, aber in jeder Bewegung seiner Hände, in der Art, wie er den Kopf und den Blick wandte, lag eine stille Gebundenheit, die nicht aus körperlicher Schwäche herzuleiten war.

Selten gab er sich dem wohligen Müßiggang hin, der das Vorrecht der Leidenden und Genesenden ist. Sein Auge war wach für alles, was in Haus und Garten vor sich ging, er griff mit einem Wink, einer liebevoll durchdachten Anordnung ein, wo er sonst den Dingen achtlos ihren Lauf gelassen hatte. Und ein still brennender Eifer trieb seine Gedanken unaufhörlich den Werken zu.

Die alte Tätigkeit in der Fabrik hatte er nicht wieder aufnehmen können; ein paar Versuche dazu, der Weg hügelab und wieder herauf und der wenn auch kurze Aufenthalt in den Geschäftsräumen und Werkstätten hatten ihn derartig angegriffen, daß Marlise heftig erschrocken war und Doktor Zech ein Machtwort sprechen mußte. Joseph Stauffer hatte nur ein Achselzucken und ein Lächeln der Ergebung. Und fortan stiegen täglich Herr Niemeyer und einer der Techniker zum Eck herauf, um ihm Bericht zu erstatten.

Marlise liebte diese Besuche nicht; sie fand, daß Onkel Josephs Stimmung hinterher allzu oft unruhig und sorgenvoll belastet war. Daß Ursache dazu vorhanden war, wußte und begriff sie; man hatte Schwierigkeiten mit der Fabrikation, den maschinellen Einrichtungen, am meisten mit den Arbeitern. Manchmal empfand sie einen ehrlichen kleinen Haß auf die Webereiwerke Heinrich Stauffer und hätte nicht viel einzuwenden gehabt, wenn sie für ein Weilchen vom Erdboden verschwunden wären. Ja, sie ging ein paar Tage lang ernstlich mit dem Gedanken um, Onkel Joseph zu einer Reise, einem Erholungsaufenthalt in einer Gebirgsheilstätte zu überreden, damit er den Aufregungen und Mühen seiner Arbeit ganz entzogen würde. Aber ihr schüchterner Vorschlag wurde von ihm mit fast mißtrauischer Schärfe zurückgewiesen.

»Bist du etwa mit den Quacksalbern im Bunde?« fragte er. »Dann haben sie einen leidlich tölpelhaften Umweg gewählt. Ich habe ganz und gar nicht die Absicht, mich aus Gefügigkeit gegen dich fangen zu lassen.«

Marlise war heftig bestürzt. Sie verstand seine Unduldsamkeit nicht, mußte ihm aber schließlich recht geben, als er ihr in ruhigerem Ton auseinandersetze, er könne nirgends besser aufgehoben sein als im Eck. »Ich kann ja auch hier nicht fort!« fügte er hinzu. »Da sind die Werke – es steht nicht zum besten mit ihnen, sie altern, sie gehen lahm, so kann ich sie doch nicht zurücklassen! Niemeyer ist alt und zaghaft, – freilich, ich selber habe es auch nie recht verstanden, dem alten Gangwerk neuen, kräftigen Lebensstrom zuzuführen.«

Eine müde Gequältheit war in seinen Worten, aber gleich darauf versuchte er ein Lächeln, indem er Marlisen ansah. »Laß es gut sein, Kind, und verzeih, wenn ich unwirsch war. Es ist doch nicht so ganz einfach, siehst du –«

Sie umgab ihn mit verdoppelter Fürsorglichkeit, um ihn vergessen zu machen, daß sie etwas gewollt hatte, was ihm schlecht dünkte. Aber sie selbst blieb undeutlich erschüttert. Sie ängstigte sich. Wieder und wieder waren da Worte, Zeichen, schwache Klänge, die einen bedrohlichen Sinn zu enthalten schienen, dessen man doch nicht habhaft werden konnte. –

Der alte Niemeyer ging grauer, krummrückiger und gedrückter als je durch diese Tage. Er war alt, ja; aber es war nicht das Alter allein, woran er schleppte.

»Es ist eine häßliche Zeit, in der wir leben, Fräulein Marlise,« sagte er mit seiner rostigen Stimme, die sich nur ruckweise von Satz zu Satz voranmühte. »Früher, zu Ihres verehrten Herrn Großvaters Zeiten, – ja, du mein Gott, wer hätte es damals für möglich gehalten, daß uns die Arbeiter derartig aufsässig werden könnten? Das heißt, – verstehen Sie mich nicht falsch, liebes Fräulein, ich wünsche durchaus keine ängstlichen Besorgnisse in Ihnen zu erregen, – und ›aufsässig‹ ist auch nicht ganz das richtige Wort! Es ist nicht geradezu Übelwollen, – aber es ist kein Murr und kein Pfiff mehr in den Leuten. Sie sind gleichgültig, sie trödeln, sie haben kein Herz mehr für das Ganze. Und das ist schlimm. Wir geraten in eine Sackgasse, wenn es so weiter geht –«

»Ist das schon lange so?« fragte Marlise, »schon seit Großvaters Tode?«

»O bewahre, nein, Fräulein Marlise. Ich meine, bis vor zwei, drei Jahren haben wir nichts davon gespürt. So etwas bildet sich natürlich nur langsam heran, es ist ja wohl die allgemeine Zeitstimmung, – Unzufriedenheit, aufhetzende Einflüsse, die schwierigen Wirtschaftsverhältnisse, – nun eben, das Ganze! Aber – solange Ihr Herr Onkel noch in die Fabrik kam, war es doch nicht so offensichtlich, diese Mißstimmung –«

»Ist Onkel Joseph eigentlich beliebt bei den Leuten?« fragte sie mit einiger Überwindung.

»Beliebt, – nun, was man so ›beliebt‹ nennt, das wohl eben nicht. Dazu hat sein Wesen den Leuten immer zu fern gestanden. Aber etwas anderes war da: eine gewisse scheue Achtung: er stand ihnen hoch; er imponierte. Und sie haben es immer anerkannt, daß er so einfach lebte; keine Autos und Reitpferde hielt, keine Feste gab mit Sektpfropfengeknall und Feuerwerk und Spektakel. Seit sie ihn nicht mehr sehen, – schon seit letztem Herbst, als er so menschenscheu wurde, fehlt etwas da unten. Das Beste fehlt; der Schwung, die Triebkraft von innen heraus. Wollte Gott, er brächte sie uns bald zurück!«

Sie waren durch den Garten des Ecks geschlendert bis ans Tor, Marlise reichte dem alten Freunde abschiednehmend die Hand. »Er wird ja gesund!« sagte sie mit einem tapferen Lächeln, »es geht ihm doch schon viel besser –«

»Ja, Fräulein Marlise, ja, ganz gewiß! Ich hoffe es zuversichtlich! Immerhin,« – Niemeyer sah auf das Haus zurück und dann mit einem unwillkürlichen Blick ins Tal, wo die weiße Esse der Webereiwerke ragte, »nur, sehen Sie, – es müßte frisches, junges Blut da hinein –« Er nickte, seufzte und zog in plötzlicher Verlegenheit die Schultern hoch.

Marlise lachte ein wenig. »Ja, Herr Niemeyer, wenn ich ein Junge geworden wäre –!«

»Oh, liebes Fräulein Marlise, nein, ich sage ja nicht, – o behüte! Nur, – ja: Ihr lieber seliger Herr Vater, wenn man an den zurückdenkt! – Die Zeiten Orlando Stauffers, das waren Glanzzeiten!«

Er war gegangen, und Marlise kehrte sehr langsam ins Haus zurück. Das Gespräch klang peinvoll in ihr nach, deutlicher als je empfand sie die trübe Ratlosigkeit, die um sie her emporwuchs wie graues Gestrüpp. Mit Unsicherheiten und Sorgen war das Heute und das Morgen verbaut. Immer schien es, als müsse man irgend etwas tun, etwas Mutiges, Befreiendes, – aber was eigentlich, das blieb unerfindlich. So glitt man mit gebundenen Händen, bang abwartend, aus einem Tag in den nächsten hinüber und war sehr verlassen –

Wenn man sich Hilfe herbeirufen könnte! – Wenn man nicht so ganz allein bleiben müßte!

Was hatte Niemeyer gemeint mit dem »frischen, jungen Blut«? Marlise glaubte es zu wissen und fürchtete doch, sie täusche sich: schob sie Niemeyers Gedanken nicht nur ihre eigenen verworrenen Wünsche unter? –

Frau Cilli Stauffer saß mit ihrer Stickerei im Wohnzimmer, wo Joseph Stauffer auf dem Ruhebett lag und schlief oder wenigstens schlummerte. Es war seltsam, daß sie sich, seitdem er leidend war, häufiger und in zutraulicherer Weise als je in seiner Nähe aufhielt. Auch jetzt lag ihr Blick mit einem ungewohnten Ausdruck von Innigkeit auf seinen Zügen, die im Schlaf eine unsägliche Erschöpfung und Leiderfülltheit verrieten.

Vor den Fenstern säuselte das Frühsommerlaub. Ein Pirol sang seine wunderliche Strophe ganz nahe. Joseph Stauffer erwachte. Er erkannte Frau Cilli und begegnete ihrem Blick mit einem Lächeln geheimnisvollen Einverständnisses; wie zwei Wanderer, die lange fremd und gleichgültig dieselbe Straße gezogen sind, sich plötzlich als Brüder begrüßen.

Marlise kam herein. Sie sah, daß er geschlafen hatte und war zufrieden. »Das ist recht, Onkel, daß du ein bißchen nachholst. Heute nacht war es wieder arg mit dem Husten.«

Er verzog den Mund und meinte, das Ärgerlichste daran sei, daß immer das ganze Haus gestört werde. »Ich werde ein unbequemer Genosse und falle ganz aus meiner Rolle, die ich doch immer mit leidlichem Gelingen durchgeführt habe: mich anderen Leuten so wenig wie möglich bemerkbar zu machen!«

»Nennst du Mutter und mich ›andere Leute‹, Onkel?« fragte Marlise.

Er betrachtete ihr Gesicht. »Was hast du, Kind Marlise? Da ist eine Wolke über deinen Augen, – hat dir Niemeyer, der alte Tränensack, etwas vorgeheult?«

»Aber nein! keine Ahnung davon!« wehrte Marlise ab, in einem quälenden Gefühl des Ertapptseins.

Aber Joseph Stauffer blickte an ihr vorbei in den Schatten, der die Winkel des Zimmers erfüllte. »Recht hat er schon, der gute Niemeyer! Es war leicht, über seine Kleinmütigkeit hinwegzusehen, solange ich oben war, – jetzt hat sich die Lage verschoben, – auch für mich! Recht hat er. Das blitzende, blanke Getriebe ist nicht mehr im Gange, die Werke werden rostfleckig. Sie brauchen einen, der kräftig und freudig Hand anlegt –«

Er sann eine Weile, dann winkte er Marlisen auf den Stuhl neben seinem Lager. »Komm, Kind. Wir müssen einmal ernsthaft reden. Ich habe über etwas nachgedacht, in den letzten Tagen, und möchte deinen Rat hören, denn du weißt da besser Bescheid als ich. Es geht so nicht weiter. Wie es in der Fabrik aussieht, – nun, mein Vater wäre mit einem Donnerwetter dreingefahren, aber ich bin nie der Mann der Donnerwetter gewesen, Niemeyer auch nicht, und nun liege ich hier. Die Werke dürfen nicht verkommen, – Marlise, ich habe an Stephan gedacht. Meinst du, er käme? Meinst du, er hätte den Ernst und den Willen, sich der Werke anzunehmen, – und die Lust darauf? Denn Lust muß dabei sein, sonst wird es nichts, sonst geht es wie mit mir. – Stephan ist jung, das ist das beste; er kann hineinwachsen, wenn er will, – aber wird er wollen? Du kennst ihn ein wenig, Marlise. Sag doch, was du denkst, – soll ich ihm schreiben, oder vielleicht – tust du es?«

Sie sah ihn mit klaren Augen an. »Ich werde ihm schreiben, Onkel,« sagte sie.


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