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Das Jahr war auf seinem Gipfel angelangt. In leuchtender Sommerherrlichkeit stand es oben, sah noch einmal lächelnd rückwärts und schickte sich dann langsam und ganz leise zum Abstieg an.
Von Mitte Juli ab konnte sich niemand mehr darüber täuschen, daß Joseph Stauffer sehr krank war. Immer häufiger traten die Fieberanfälle auf, und der qualvolle Husten von unheimlichen Nebenerscheinungen begleitet, ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Er war nicht dauernd bettlägerig; aber selbst an verhältnismäßig guten Tagen war seine Schwäche so groß, daß er die Treppen nicht mehr steigen konnte, und um nicht immer die traurigen Wände seiner Krankenstube um sich zu sehen, hielt er sich meist auf dem Balkon des Oberstocks oder in Marlises kleinem Wohnzimmer auf, das sie mit allem ihm lieben Gerät sorgfältig für ihn hergerichtet hatte.
An Marlises Schreibtisch hatte er hin und wieder noch geschrieben, dann unterließ er es, als sei er mit allem fertig. Bücher lagen immer neben ihm, aber er las selten. Meist saß er ganz still, ließ seine Augen durch das lichte Zimmer wandern, das nun in traulichem Gemisch sein eigenes und Marlises Zeichen trug, oder blickte vom Balkon in das grüne, sommerfrohe Land hinaus.
Über den Dächern und Gärten von Beurenbach stand die weiße Esse harmlos wie einst, ein lichter Weiser, und Joseph Stauffers Blick, wenn er darauf fiel, verdunkelte sich nicht mehr in sorgenvoller Unruhe. Denn dort unten, irgendwo zwischen den sausenden Maschinen, durch die Lagerräume oder das helle, nüchterne Bürozimmer, in dem schon Heinrich Stauffer gesessen hatte, ging Stephan Klotz mit seinem kräftig schwingenden Schritt und jener helläugigen, ernsthaften Sicherheit, die sich ganz und gar am rechten Platze und ihrer Aufgabe unbeirrbar zugehörig fühlt.
Stephan war gekommen, damals als Marlise ihm geschrieben hatte, sobald er sich in der Stadt irgend hatte frei machen können. Jetzt fand jedermann es selbstverständlich, daß er da war. Heinrich Stauffers Enkel, – das war sein Erkennungs- und Berechtigungswort, und daß er in der Leitung eines so ausgedehnten Betriebes ein Neuling war und fürs Erste nicht viel mehr tun konnte, als sich mit Anspannung aller Kräfte einarbeiten, schien daneben fast belanglos zu sein. Niemeyer, der sich vor hilfsbereitem Eifer zerreißen wollte, versicherte einmal übers andere, wenn er ins Eck kam: »Er wird, Herr Stauffer, das kann ein Blinder mit dem Krückstock fühlen? Er hat den Blick und den Griff für das Notwendige, er hat's im Gefühl, und die Leute merken das. Ich hab' es schon früher gemerkt, voriges Jahr, als er immer bei den Maschinen herumkroch, aber damals hatte er noch so etwas Finsteres und Widerwilliges, – etwas Verprügeltes, würde ich sagen, wenn es nicht ein so ungehobeltes Wort wäre. Aber er ist ja noch jung, und die bösen Zeiten haben da drüben manch einen verprügelt, es ist keine Unehre dabei.«
Niemeyer wurde ordentlich redselig, wenn er auf Stephan zu sprechen kam, und Joseph Stauffer saß dabei, nickte und lächelte ein wenig und dachte nicht daran, es besser wissen zu wollen.
Eine schwere Last war von ihm genommen, die Last, die er sein Lebenlang nur unter dem Zwange eines strengen Pflichtgefühls, ohne Freude und Hoffnung getragen hatte. Es war die höchste Zeit gewesen; seiner kranken Brust kostete sogar das befreite Aufatmen Schmerzen. Trotzdem tat er auch das letzte, was die Werke von ihm verlangen konnten, die Webereiwerke Heinrich Stauffer, an denen er doch mit einer bitterlichen, stolzen und halb widerwilligen Liebe hing: er stand Stephan mit Rat und Unterweisung zur Seite, gab von der Erfahrung seiner langen Arbeitsjahre alles her, was sich in Worten nur irgend geben ließ.
Stephan hatte sich, um der Fabrik näher zu sein und im Eck keinerlei Umstände zu veranlassen, bei einem der Werkmeister in Beurenbach einquartiert. Aber jeden Abend stieg er den Wiesenweg herauf und war da, im Eck, wie einer, auf den der ganze Tag heimlich gewartet hat. Dann saßen sie im Eßzimmer beim Abendbrot, Frau Stauffer, Marlise und er, aber Onkel Josephs leerer Stuhl war eine dunkle, traurige Lücke in der Tafelrunde, und alle beeilten sich mit dem Essen und sprachen wenig, um nur bald hinaufgehen zu können zu Onkel Joseph. In dem kleinen lichten und traulichen Zimmer, das immer mit vielen Blumen geschmückt war, saß er in seinem Krankenstuhl unter ihnen als ein teurer, von heiterer Zärtlichkeit umsorgter Gast, und auch wenn es ihm schlecht ging und er liegen mußte, rief er sie für ein Weilchen an sein Bett. Ruhig, mit ernsthafter Anteilnahme, besprach er mit Stephan, was es tagsüber in den Werken gegeben hatte und hielt indessen in sanften Fingern Marlises Hand, als solle sie sich ja nicht vernachlässigt fühlen. Frau Stauffer kam und ging geräuschlos, unter kleinen Handreichungen und Diensten. Sie war in diesen Zeiten von einer erstaunlichen Leistungsfähigkeit, umsichtig und geschickt zur Pflege, die sie mit stiller Hartnäckigkeit mehr und mehr auf sich genommen hatte; als sei die Krankheit, das Welken und Müdewerden eines nahen Menschen ihr unbestreitbares Pflichtgebiet, in dem sie viel besser zu wirken vermochte als in der gesunden Heiterkeit ungetrübter Tage.
Draußen war der warme, noch nicht völlig verdunkelte Frieden des Sommerabends. Sanftes Baumrauschen war hörbar und von irgendwoher ein einsamer Wandererschritt, der sich näherte, schwächer wurde und verklang. Zuweilen, wenn Mondschein über den Hügeln lag, ließ Joseph Stauffer das Licht im Zimmer löschen und das Fenster weit öffnen, und er atmete die reine Nachtluft, die nach Ähren und Wiesenblumen und Tannen roch, in dankbaren Zügen.
Alle schwiegen. Marlise regte sich nicht und hielt ihr Herz mit beiden Händen fest, daß es still blieb und nicht spreche, jetzt wo Stephan neben ihr saß und sie im Halbdunkel ansah. So, das Herz in den Händen, war sie durch all diese Wochen gegangen. Sie dachte nichts als Onkel Joseph, ihre Seele war immer wach und voll demütigster Bereitwilligkeit für ihn. Seine kleinen, armen Wunsche erfüllen! Seine Stunden schön und hell machen, jede einzige so schön es irgend noch denkbar war! Alles andere mußte schweigen. Und das Herz war geduldig, war fügsam. Denn es hatte ja fast mehr an Erfüllung, als man von diesen trüben Zeiten sich je hätte träumen lassen: Stephan war da, jeden Tag; er hatte die freudige Arbeit, die Lebensaufgabe, die ihm so bitter gefehlt; und es war eine Geborgenheit und mutvolle Zuversicht um alle Dinge, seitdem er da war!
»Nun wollen wir schließen,« sagte Joseph Stauffers müde Stimme in das Dunkel hinein, »der Mond ist schon tief über dem Walde. So, Stephan, ich danke dir, ich bin schon auf den Füßen, – ja, willst du mich hinüber geleiten? Gut, so habe ich es noch ein wenig bequemer. Marlise, liebes Kind, nimm, bitte, die Bücher mit, wenn du hinuntergehst! Ich lese nicht mehr darin.«
»Soll ich dir etwas anderes heraufbringen, Onkel?«
»Nein, danke! Ich brauche jetzt nichts. Später vielleicht, – gute Nacht, mein Kind Marlise.«
Die Bücher im Arm trat Marlise unten ins Wohnzimmer und fröstelte, als das Licht aufflammte und der große Raum seine schweigsame Verlassenheit vor ihr ausbreitete. Trotzdem tagsüber alle Fenster offen gestanden hatten, lag eine unwohnliche Luft hier unten in allen Winkeln. Nebenan stand der geschloffene Flügel, einen Streifen Mondlicht über seiner schwarzblinkenden Platte, wie ein trauriges Ungetüm, in dem eine verwunschene Seele schmachtet.
Marlise öffnete den Bücherschrank, stellte die Bände zurück, kramte und blätterte ziellos da und dort. Worte, Worte; sie standen in schwarzem, wüstem Gewimmel auf ihrer Seite, als hätten sie gar keinen Zusammenhang untereinander. Marlise schrak zusammen, als hinter ihr die Tür ging. Es war Stephan, der hereintrat.
»Ich wollte nun gehen, Marlise, – kann ich noch irgend etwas für euch tun? Nicht? nun dann: gute Nacht, – hoffentlich schläft Onkel leidlich! Ich meine, er war heute abend ziemlich wohl, nicht wahr?«
Sie nickte. »Es ging den ganzen Tag an mit dem Husten. Doktor Zech äußerte sich gestern auch ziemlich zufrieden –« Sie sah Stephan an, der im Zimmer umherblickte. »Was hast du zu gucken?«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Komisch, wie so ein Zimmer einem fremd wird, wenn es unbewohnt ist! Keine Blumensträuße, keine Handarbeit unter der Lampe und der Schreibtisch so fabelhaft aufgeräumt, – komisch! Und dabei habe ich doch für dies Zimmer eine gewisse widerwillige Anhänglichkeit!«
»Eine widerwillige –?«
»Ja, – allzu angenehme Dinge habe ich darin nicht erlebt. Das erste war eine schauderhaft peinliche Unterredung zwischen Onkel Joseph und Mutter, bei der ich wie ein Stock danebenstehen mußte, bis mir endlich die Geduld riß. Und dann ist mir, als hätte ich dort in dem Stuhl einmal in sehr übler –, in ganz besonders übler Gemütsverfassung gesessen und dir dabei einige Grobheiten gesagt –«
»Ich weiß es noch,« gab Marlise ein wenig mühsam zurück. »Grobheiten waren es wohl nicht, aber –, das war damals, als du sagtest, wir säßen hier im gläsernen Berge –« Ihre Lippen zitterten plötzlich so, daß sie abbrechen mußte.
Von Stephans Gesicht war jede Spur eines Lächelns verschwunden. »Marlise –!« rief er, und wie stets, wenn er innerlich berührt war, klang sein Ton beinah zornig, »das, – ja, ich weiß es auch noch sehr gut, – hast du mir das immer noch nicht verziehen?«
Da fand sie einen klaren und gefaßten Aufblick. »Verziehen? Was war da zu verzeihen? Du hattest ja ganz recht, nur konnte ich das damals nicht gleich begreifen. Aber ich habe so viel darüber nachdenken müssen, und dann – ist alles so anders geworden, so viel ist geschehen seitdem, und jetzt, – ja, jetzt weiß ich es, daß man nicht darin bleiben kann, in dem gläsernen Berge! Man wird hinausgetrieben, irgendwie, und muß zusehen, wie man sich draußen zurechtfindet. Daß du mir das damals sagtest, das war der erste Anstoß, – und du hattest recht, oh, ganz recht!«
Er hatte ihr in heftiger Betroffenheit zugehört, jetzt war er bei ihr und ergriff ihre beiden Hände. »Marlise, ich bitte dich –! Das klingt ja, als hätte ich irgendwas Schreckliches angerichtet! Mein Gott, ich war so zerschlagen damals, so voller Wut und Bitterkeit und Verzagtheit und fühlte mich hier so wildfremd, so ganz und gar nicht dazugehörig! Ich hatte einen richtigen Haß auf alles, was in wohlgeordneten Geleisen ging, auf alle Menschen, die ruhig und glücklich dahinlebten, und immer mußte ich mich zusammennehmen und wieder zusammennehmen, – da verlor ich denn endlich einmal den Kopf! Ich habe gewiß maßlos übertrieben und allerlei Häßliches gesagt –«
»Nur die Wahrheit,« entgegnete sie, »so wie sie dir erscheinen mußte. Und es war gut so, – und ich will nicht, daß du dich jetzt entschuldigst.«
Er stand ein Weilchen ratlos, ohne doch ihre Hände freizugeben; dann sagte er viel leiser: »Wenn du dies alles so genau behalten hast, so weißt du vielleicht auch noch, daß wir am Tage darauf nach Berglingen gingen und unter dem Sternhimmel zurückkamen, – und daß wir da mit einem Male ganz anders zueinander sprechen konnten?«
Sie nickte und lächelte ein kleines, geheimnisvoll schelmisches Lächeln. »Ich weiß; es war schön –«
»Und das,« fuhr er fort, »das war für mich auch ein erster Anstoß, Marlise. Ich weiß nicht mehr, was du mir gesagt hast, da oben im Wirtsgarten des goldenen Löwen, und wahrscheinlich waren es auch gar nicht deine Worte, sondern nur, daß du da warst, mich anhörtest und so still und zuversichtlich mit mir gingst, – das hat mich hochgetrieben aus meiner Mutlosigkeit, von dem Tage an hab' ich mein Leben wieder in die Hand nehmen können! Und dann, als du zu uns kamst, und der ganze Winter, – Marlise, es hat doch seine Richtigkeit mit dem gläsernen Berge, nur daß ich ihn am falschen Orte sah und suchte! All das Lichte, Warme, Klingende, das so wunderbar sicher und abgeschlossen in dir liegt, das ist dein gläserner Berg, und du trägst ihn mit dir überallhin! Du hast ihn mitgebracht in die Stadt und hast ihn mitten unter uns aufgerichtet, und in unserem zerfahrenen, liebelosen Leben war er unsere einzige Zuflucht. Du hast Adelina darin geborgen, und ich glaube, sogar Mutter hat dann und wann einen Fuß hineinsetzen müssen. Und ich – ich, – ach, Marlise, du weißt ja, wie alles ist! Ich bin nun hier und sehe eine Heimat vor mir, und das hast du auch getan –«
»Nein!« unterbrach sie ihn fast erschrocken, »nein, Stephan? Ich habe kein Wort gesagt, – das konnte ich nicht, wo Onkel Joseph, – nein, er hat es gewollt und der alte Niemeyer wohl auch, und es war ja auch wohl das Einfachste und Selbstverständlichste.«
»Ist es dir selbstverständlich? Ja, dann bleibe ich erst recht bei meinem Glauben, daß es im Grunde doch nur geschah, weil du es wolltest! Du hast mich gerufen, Marlise, – ich will jetzt nicht an mich denken, ich darf es nicht, aber – aber wenn ich glauben könnte, du tätest mir eines Tages den gläsernen Berg auf und nähmest mich ganz zu dir hinein, für immer –«
Es war keine Frage, was er mit heiß bedrängter, flüsternder Stimme vorbrachte, und ihr stilles Gesicht blieb ohne Regung, während sie sich wortlos an den Händen hielten, einander mit scheu sehnsüchtigen Augen betrachtend. Das kranke Schweigen des Ecks stand um sie her und wurde mit jedem Herzschlag tiefer, schwerer und trauriger. Marlise machte sich plötzlich mit einer schreckhaften Bewegung frei, seufzte und sah sich im Zimmer um.
»Komm!« sagte Stephan leise, »ich gehe nun,« – und er führte sie sacht hinaus.
Als sie die Haustür öffneten, lag draußen mondlose Finsternis, die den Hinabsteigenden nach wenigen Augenblicken eingeschluckt hatte.
Marlise ging zu Bett und schlief sehr bald ein. Aber es war ein Schlaf, der nur wie eine durchsichtige, zitternde Decke über ihrem Bewußtsein lag, von ungereimten Träumen bewegt, und mit dem ersten Morgengrauen saß sie aufgerichtet in den Kissen, hell wach und unfähig, sich länger regungslos zu verhalten. Sie stand auf, zog sich leise an und tastete sich durch das noch finstere Haus treppab, in den Garten.
Der Himmel, fast völlig von schuppigem Gewölk bedeckt, hing in fahler Fremdheit über dem Lande, das eben in den ersten, schwachen Umrissen aus dem Nachtgrau emportauchte. Schwer, wie fröstelnd, hoben sich die Bergrücken, im Tal schimmerte es weißlich von Nebel, der auch über den höheren Wiesen und auf dem Gartenrasen in Fetzen schleppte und die einzeln stehenden Bäume umhüllte. Kein Laub regte sich; in schauernder Stille schien jedes Blatt zu warten. Vom Walde herüber kam ein zaghaft rufender Vogellaut, zweimal, dreimal. Dann war alles stumm.
Marlise stand auf dem taunassen Kiesweg und zitterte in einer wehrlosen Unruhe, während sie das langsame, quälend langsame Heller- und Deutlicherwerden der entfärbten Landschaft verfolgte, als hinge ihr Leben daran. Über dem Waldrücken im Osten belebte sich das breiige Wolkengrau mit kleinen, hellweißen Flecken, aber noch verkündete keine wärmere Farbe das Kommen des lebendigen Tages.
»Ich friere,« dachte Marlise, »ich friere entsetzlich,« – weiter nichts; und sie konnte nicht mehr stehen bleiben. Mit kleinen, ängstlichen Schritten, unter denen der Kies unnötig stark zu knirschen schien, ging sie ein paar Wege auf und ab, war plötzlich an der Mauer, die nach dem Tal zu lag und sah auf dem Wiesenwege jemand heraufsteigen, eilig und unkenntlich in der Dämmerung.
Ihr Herz tat einen starken, erlösten Schlag, im nächsten Augenblick war sie zur Pforte hinaus und stand draußen, atemlos wartend.
Er war es. Er sagte etwas wie: »ihm sei so unruhig zumute gewesen; ob die Nacht gut verlaufen sei, drinnen –« aber er wartete weder eine Antwort ab noch schien er sich zu wundern, daß er Marlisen hier fand. Leise nahm er ihren Arm: »Komm mit, ein paar Schritte nur, –« und zog sie den abzweigenden Pfad zum Walde hinauf.
Sie sagte nichts; sie ging neben ihm wie gedankenlos, getragen und sanft umhüllt vom Gefühl des Beiihmseins. Sie hatte die Finger in seine Hand geschmiegt wie in ein warmes Lager, und ohne daß sie ihn ansah, hatte sie doch nie so nah und deutlich sein Gesicht, sein Haar, seine klopfende Schläfe neben sich gespürt.
Sie waren bis zum Waldrand hinaufgestiegen und standen unter den ersten Bäumen, die ihre nachtfeuchten Zweige dunkel und reglos über ihren Häuptern ausstreckten. Und als sie sich umwandten, glomm am Osthimmel das erste Rot auf. Die Luft rührte sich wie erwachend. Ein Windhauch mußte unter den Talnebeln umgehen, sie wogten zitternd. Es war plötzlich ganz hell, eine bleichgoldene, unendlich weite Helligkeit, die noch nicht der Tag war, nur die sichere Gewißheit, daß er ganz nahe sei.
Stephan und Marlise blickten unverwandt nach der aufgehenden Sonne. Man sah sie nicht, die schwere Mauer des Gewölks verdeckte sie, aber die Wolken blühten durchschimmernd mit rosig brennenden Säumen, und einzelne Strahlen stiegen wie aufgereckte Arme des Lichts in den verlassenen Himmel hinauf, ihn mit ahnungsvollem Glanze erfüllend.
Marlise atmete tief auf, sie sah Stephan an, sah sein hartes, schmales Gesicht mit einem unbeschreiblichen Ausdruck der inbrünstigen Herzensbewegung über sich und ein Warten und Bitten in seinen Augen, – sie lehnte den Kopf an seine Schulter zurück und hob ihren Mund zu ihm auf.
Ein Laut beseligter Ergriffenheit kam von ihm, – dann küßte er sie, blickte lächelnd in ihr lächelnd aufgelöstes Antlitz hinab und küßte sie wieder.
»Marlise!« flüsterte er, »süße du, – meine Süße –«
»Nicht sprechen!« bat sie ganz leise. Er schüttelte den Kopf, schloß sie in zärtlicher Heftigkeit an sich und küßte ihre Stirn, ihr Haar. Sie betrachtete ihn nahe, fast verwundert, umfaßte mit beiden Händen sein Haupt, strich mit zarten, besitzergreifenden Fingern über seine Schläfen und Wangen. Dann machte sie sich frei, langsam und lieblich, hielt nur noch seine Hand und drückte sie, um einen Schritt von ihm entfernt. Sie sagte etwas, aber es war nur eine lautlose Regung ihrer Lippen, er verstand sie nicht; trotzdem war er tief beglückt.
Er sah sie den Weg hinabsteigen, ein wenig wiegend wie ein windbewegter Baum voller Blüten. Er wartete, bis sie im Eck verschwunden war. Dann wandte er sich in den Wald hinauf und lachte schluchzend vor sich hin.