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Sie waren da. Und das Eck wurde wirklich einigermaßen auf den Kopf gestellt.
Marlise fand keine Zeit, sich zu fragen, ob der neue Zustand schwer oder leicht erträglich sei. Hundert Anforderungen des aus seinen glatten Fugen geratenen Hauswesens, der Fürsorge und Aufmerksamkeit für die Gäste traten an sie heran, und zum ersten Male kam es ihr zum Bewußtsein, daß im Lauf der letzten Jahre das Hausfrauenamt im Eck ihr unmerklich zugefallen war.
Fräulein Sophie, seit langem Wirtschafterin der Stauffers, war die Jüngste nicht mehr und durch den Hausbesuch ein wenig aus der Fassung gebracht, so daß die vermehrte Arbeit noch öfter als dienlich durch Händeringen und Schelten unterbrochen wurde. Das neue Hausmädchen, ein schüchternes, junges Ding, mußte zu jedem Handgriff angeleitet werden, Frau Stauffer war leidend und bedurfte besonderer Rücksichtnahme. Marlise wußte oft nicht, wo ihr der Kopf stand. In der Küche, sonst Fräulein Sophies unumschränktes Herrschaftsgebiet, mußte sie Anordnungen für die Mahlzeiten treffen, denn Tante Franziska Klotz hatte eine empfindliche Zunge und war weit davon entfernt, sich mit den Eigenheiten der deutschen Kochkunst widerspruchslos abzufinden, anderseits durften Onkel Josephs Gewohnheiten nicht allzu hart durchbrochen werden. Die Gastzimmer bei erträglicher Zeit in Ordnung zu bringen, kostete Marlisen sowie den Hausmädchen einen täglich erneuten Aufwand von List, Überlegung und Hetzerei, da die Klotzschen Damen sehr spät aufstanden und mit dem Anziehen eigentlich nie fertig waren. Daneben ging manche halbe Stunde mit ungewohnter Plauderei, höflichem und hilfreichem Herumstehen bei den Gästen verloren, und doch sollten die Wohnzimmer wie immer mit Blumen geschmückt sein, Onkel Josephs Schreibtisch, seine Leseecke und die geliebten Notenschränke abgestaubt und geordnet werden, was Marlise selbst zu besorgen gewohnt war.
Zwischen zwei dringenden Obliegenheiten huschte sie dann zur Mutter hinein, die durch das ungewohnte Getriebe im Hause, so sorgsam man es auch von ihrer Schwelle fernzuhalten suchte, in erhöhte Anfälligkeit versetzt war. »Brauchst du nichts, mein Muttchen? Wie ist's heute mit deinen Rückenschmerzen? Hat Sophie dir auch ein nettes, kleines Frühstück heraufgebracht? Ich konnte nicht danach sehen, verzeih, Tante Franze hielt mich fest –«
Nein, Frau Stauffer brauchte nichts, das Frühstück war gut gewesen, die Rückenschmerzen erträglich. Sie war geduldig, anspruchslos wie immer, sie hielt nur Marlises Hand einen Augenblick an ihre kühle, welke Schläfe, als wärme sie sich an dem jungen, schnellpulsenden Blut. Dann wandte sie sich wieder dem Häuflein vergilbter, vom hundertmaligen Durchblättern zerknitterter Briefe zu, über dem sie seit Stunden saß. In sanftem Eigensinn verschloß sie sich enger denn je in die Welt ihrer Erinnerung, auch die liebreiche Einmischung von sich schiebend. Den Verwandten trat sie, wenn ein Zusammensein bei Tisch und im Garten nicht zu umgehen war, nicht unfreundlich, aber mit undringlicher Teilnahmlosigkeit entgegen.
Marlise seufzte leise, als sie die Mutter verließ. Unversehens empfand sie eine kleine Verlassenheit, das Verlangen, über dies und jenes zu sprechen, Kleinigkeiten, die ihr im Lauf dieser unruhigen Tage bemerkenswert aufgefallen waren, vor einer freundlichen Aufmerksamkeit auszukramen. Ob sich einmal ein Stündchen herausschlagen ließ, um ins Spital hinüberzulaufen?
Marlise wollte in ihr Zimmer schlüpfen, um sich umzuziehen, denn sie war trotz der späten Vormittagstunde noch in ihrem weißen Morgenkleid; aber eine volltönende Mädchenstimme rief hinter ihr her: »Maria –! O bitte, Maria, komm! Ich kann und kann dies nicht zustande bringen –«
Mit einem Seufzer und einem Lächeln trat Marlise in das kleine Wohnzimmer, das bisher das ihre gewesen war. Nun, da sah es gut aus. Zwei halbausgepackte Koffer auf dem Fußboden, – seit vierzehn Tagen standen sie da, – und über Stühle, Tisch und Sofa verstreut ein buntes und sorgloses Durcheinander von Kleidern, spitzenbesetzter Wäsche, zierlichem Schuhzeug, Briefpapier, Zigaretten, Nagelpflegegerät. Auf dem Nähtisch am Fenster war zwischen Seidensträhnen, apfelsinenrosa Bändern und Batistwolken die Vase mit Goldlack umgestürzt, niemand hatte sie aufgehoben, Blumenblätter und Wasser tropften auf den Teppich hinab. Vor dem Chaos aber saß Adelina Klotz, im Fensterlicht wie eine große, helle Blüte prangend, von den Mullgardinen, die der Luftzug blähte, mit fröhlicher Bewegung umflattert, und lachte über Wust und Unordnung hinweg der Eintretenden freimütig entgegen.
»Maria, gut daß du kommst! Bitte, sieh dir mein Kleid an, – Mama behauptet, ich könne hier nicht damit gehen, wie es ist, und es müsse mindestens der Spitzenkragen darüber und das Gürtelband gehoben werden. Aber wie näht man so etwas an? Ich habe keine Ahnung. Komm und hilf mir, Maria!«
Die Verwandten sagten »Maria«, den Namen, den die junge Base auf dem Taufschein führte und der ihnen von drüben geläufig war. Marlise war es recht so; es schuf zwischen ihr und den Fremden einen kleinen Abstand, der ihr nötig und nützlich schien. Doch über diesen hinweg war sie zu Hilfeleistungen gern erbötig; sie nahm die duftigen Fetzen aus Adelinas Hand und prüfte die Sachlage. »Zieh das Kleid an, Adelina. Den Kragen und den Gürtel kann ich nur am Körper anstecken, dann zeige ich dir, wie es zu nähen ist.«
Adelina warf den leichten Morgenumhang ab, – er flog irgendwohin auf die Erde, – und reckte gähnend ihre volle, weiche Gestalt, die reifer schien als ihre siebzehn Jahre. »Schauderhaft, solch Herumändern an Kleidern! Tausendmal lieber kauf' ich ein neues.« Mit mühsamer Geduld hielt sie unter Marlises ordnenden Händen still und hatte nur Aufmerksamkeit für den Spiegel, der ihr Bild leuchtend zurückwarf; das runde, ein wenig stumpfnasige, in unveränderliche Rosenfarbe getauchte Gesicht, dessen Mund launisch verwöhnten, gutherzigen Leichtsinn, dessen weite, brennende Schwarzaugen Lebensneugier und Lebenshunger verrieten. Das hellrote, üppige Haar, noch ungeordnet, wie es sich aus den Kissen gewühlt hatte, wehte wie schimmerndes Seidengespinst um Stirn und Nacken.
Marlise tat ihr Möglichstes an dem Kleid, das in seiner ursprünglichen Gestalt allerdings unerwünschtes Aufsehen in den Beurenbacher Straßen gemacht haben würde. Der große Kragen aus schöner, spanischer Seidenspitze bedeckte wenigstens die allzu offenherzige Durchsichtigkeit des Leibchens, und das apfelsinenrosa Seidenband, dessen tiefe, bauschige Gürtung dem Ganzen einen zugleich kindischen und phantastisch lockeren Anstrich gab, konnte ohne Schwierigkeit unauffälliger geordnet werden.
»Das ist unausstehlich bieder! Das ist Mode von vorgestern!« murrte Adelina, »so gehe ich nicht damit, zum Kuckuck! Laß das Kleid, Maria, was sollen wir uns Mühe machen um den Plunder, ich ziehe eben ein anderes an, es ist ohnehin zu leicht für euer kaltes Deutschland.« Nun lachte sie schon wieder, während sie das verschmähte Kleid, ohne auch nur die Stecknadeln herauszunehmen, in den Koffer schleuderte und nach einem anderen zu suchen begann. »Dies, Maria? Sieh her, bitte! Oder dies grüne? Ist es spießig genug, um damit durch euer Städtchen zu gehen? Oh, Maria, was ist es für ein tugendhaftes, altmodisches, unglaubliches Städtchen, ein Bilderbuchstädtchen, – ja, ich hatte als Kind ein Bilderbuch, es stammte noch von Stephan aus Deutschland, darin gab es solche Häuserchen und Gärtchen und Hühnerchen und Blümchen! Ich habe es immer zum Totlachen albern gefunden, mit all den Geschichten von braven, frommen Kindern, die für ihre armen Mütter Holz suchen und Strümpfe stricken, – und nun stehe ich selber mitten drin in dem dummen Bilderbuch! Ach, es ist so wahnsinnig lächerlich, dieser Sprung von Sao Paolo nach Beurenbach, es ist so affendumm, daß man es immer noch nicht glaubt, und vielleicht – vielleicht ist es überhaupt ganz und gar zum Wüten –« Sie griff plötzlich mit beiden Fäusten in ihr wirres Haar, ihr Gesicht verzog sich halb weinerlich, halb böse. Marlise erriet eine trotzige Verzweiflung, unverstandenes Heimweh und Ratlosigkeit, ihr war, als müsse sie helfen, trotzdem keine Bitte sie herbeirief wie zu dem mißratenen Kleide. Sie nahm Adelinas geballte Hand sanft herab. »Komm, du zausest dich ja, daß es dir weh tun muß! Es ist alles nicht so schlimm, auch das Bilderbuchstädtchen, du wirst sehen, – und nun ziehst du dich an, nicht wahr, es geht ja auf Mittag. Ja, nimm nur das grüne Kleid, es ist nett, und nach Tisch helfe ich dir ein bißchen einräumen, daß endlich die Koffer hinauskommen.«
»Bleib hier!« bettelte Adelina, »mach du mir das Haar, bitte! Ich kann es so schlecht allein, in Sao Paolo hatte ich die Seraphina, meine Jungfer, sie war so geschickt im Frisieren –«
»Ich muß mich selber anziehen, Adelina, und hab vor Tisch noch allerlei zu tun –«
»Zu tun? Was hast du zu tun? Immer habt ihr hier etwas zu tun! Ich hasse das; es ist langweilig und ist nicht vornehm. Ich habe nie etwas getan in Sao Paolo, Mama auch nicht und keine von den Damen. Zu tun, das ist für die Herren bis zur Dinerzeit und für die Dienstleute, die Neger!«
»Wir haben keine Neger im Eck, zum Glück,« erwiderte Marlise und lachte, »und ich möchte nicht einmal die fremden Finger von einem Wesen, das Seraphina heißt, in meinem Haar haben. Sao Paolo mag ganz schön sein, aber Beurenbach und das Eck sind auch gut, sieh einmal hinaus, wie wundervoll unsere Wiese blüht, und was für ein entzückender Sonnenduft über den Bergen liegt! So, nun tummle ich mich, und nachmittags haben wir Zeit zu einem großen Spaziergang.«
Sie hörte nicht mehr, was Adelina vor sich hin knurrte, sie sprang in ihr Zimmer hinüber und flog eine halbe Stunde später die Treppe hinab, das dunkle Seidenhaar geordnet, wie es sich in schönen Wellen von selber schmiegte, und den perlweißen Nacken aus dem Ausschnitt des lila Batistkleides leuchtend, das Onkel Joseph vor kurzem selbst für sie ausgesucht hatte. Sie duftete vor zarter Frische, – und Joseph Stauffer, dem sie auf den letzten Stufen in die Arme lief, blickte mit glücklichen Augen in ihr belebtes Gesicht.
»Kind Marlise! Wie geht es dir? Aber das sehe ich ja und brauche nicht zu fragen –«
»Man schlägt sich durch, alter Ohm! Alle Hände voll zu tun, aber das macht Spaß. Und du bekommst heute mittag dein Fleisch besonders angerichtet, gut durchgebraten, mögen die Brasilianer das blutige Zeug essen, ich habe Sophie auf die Finger gesehen.«
»Kleine Hausfrau! Und –?« er blinzelte und deutete nach oben, »wie steht es heute? Plagen sie dich auch nicht allzusehr mit ihren exotischen Launen?«
»Ach, ein bißchen Übellaunigkeit kann man ihnen gern zugute halten, bei der Mißlichkeit ihrer Lage! So zwecklos dazusitzen im fremden Hause, ohne von morgen und übermorgen zu wissen, – es muß bedrückend und demütigend genug sein.«
»Bedrückend? Demütigend? So würdest du an ihrer Stelle empfinden, Marlise. Sie empfinden es nicht.«
»Wer weiß? Adelina, – sie ist innerlich verstört; wenn es sich auch auf kindliche Art äußert. Aber sie ist auch wohl kindlich beeinflußbar, – ich möchte versuchen, ihr ein wenig zu helfen.«
Er nickte ihr schweigend, in halb wehmütiger Nachdenklichkeit zu.
»Mit Tante Franze dagegen komme ich nicht vom Fleck,« fuhr sie flüsternd fort, »sie ist furchtbar königlich, und ich habe immer etwas wie schlechtes Gewissen für das Eck und uns alle und für ganz Deutschland, daß nichts darin ihr gut genug ist. Tante Franze mußt du auf dich nehmen, Onkel!«
»Das will ich, Marlise; und so haben wir die Last unter uns geteilt!«
Sie lachten sich an, in einer geheimen Spießgesellenschaft, die ihnen beiden das Herz warm machte.
Als Marlise ins Eßzimmer trat, um den gedeckten Tisch zu begutachten – das neue Hausmädchen konnte keinen Löffelstiel gerade hinlegen, wie Fräulein Sophie behauptete –, wandte sich Stephan Klotz vom Fenster zurück und begrüßte sie mit der tadellosen Zuvorkommenheit, die ihm eigen war und die dennoch nicht liebenswürdig wirkte. Sie blickte in sein hartes, dunkles, junges Gesicht, das zu der höflichen Redensart kein Lächeln gefunden hatte, und dachte plötzlich, wie in leisem Schuldbewußtsein: »– und wer kümmert sich um ihn, wenn Onkel Joseph die Tante auf sich nimmt und ich Adelina?«
Sie hatte bisher wenig mit dem Vetter gesprochen, überhaupt wenig von ihm gemerkt, die Damen Klotz nahmen den weitaus größten Teil der Aufmerksamkeit in Anspruch. Aber Stephan sah nicht aus wie ein Mensch, der sich aus Dummheit oder Bequemlichkeit beiseite schieben läßt, und jetzt erst fiel es Marlise ein, daß er sich absichtlich zurückgehalten haben müsse. Sie wußte nur, daß er mehrfach in der Fabrik gewesen war –, zu welchem Zweck, das begriff sie nicht ganz, aber es war ihr jetzt ein willkommener Vorwand, um ein paar freundliche Worte an ihn zu richten: wie ihm die Werke gefielen, und ob er Ähnliches fände wie in der Weberei, die sein Vater in Brasilien besessen hatte. Er antwortete irgend etwas, es war so belanglos, daß Marlise es im nächsten Augenblick vergessen hatte, und nach wenigen ebenso nichtssagenden Hin- und Widerreden war sie froh, das Gespräch, das ihr geradezu Mühe machte, abbrechen zu können.
Bei Tische ging es lebhafter zu, als das schöne, dunkelgetäfelte Speisezimmer mit dem kostbaren alten Steinzeug und Zinngerät auf den Schränken und Wandsimsen es seit langem gewohnt war. Frau Franziska Klotz beherrschte die Unterhaltung. Sie schien durchaus heiter, mit sich und der Welt zufrieden und keineswegs gesonnen, ihre Stimmung durch irgendwelche ernsthaften Dinge herabdrücken zu lassen. Sie erzählte von »drüben«, wortgewandt, anschaulich und nicht ohne gescheite Drolligkeit; von dem geselligen Leben in Sao Paolo, dem Sprachen- und Landsmannschaftengemisch in Rio, dem bunten, prächtigen Straßenleben und Geschäftsbetrieb der Hafenstadt. Ihr Gebärdenspiel hatte eine südlich anmutende, vielleicht nicht ganz natürliche Lebhaftigkeit, überhaupt war ihre Erscheinung von der Art, die unvermeidlich die Aufmerksamkeit auf sich zieht: stattlich und anspruchsvoll gepflegt, Kleid und Haartracht von nicht bescheidenem, aber guten Geschmack, die weißen, hübschen Hände mit kostbaren Ringen überladen. Ihr Gesicht, frisch und beweglich unter dem kastanienbraunen Wellenscheitel, der gefärbt sein mochte, zeigte in den regelmäßigen, noch schönen Zügen Ähnlichkeit mit Joseph Stauffers Zügen, im Ausdruck waren ihr Gesicht und das seine sich völlig fremd.
Marlises Blick ging vergleichend zwischen den beiden hin und her, streifte Adelinas rosigen Jungmädchenkopf, dessen andersartige Bildung und Farbe dem Vater Klotz nachgeraten sein mußten, und blieb endlich an Stephan hängen: das war wieder ein ganzer Stauffer, mit dem schmalen, gewölbten Schädel, dem scharfen und reinen Gesichtsschnitt. Sie entsann sich eines Jugendbildnisses ihres Großvaters Heinrich Stauffer, an welches Stephan sie stark erinnerte, und im plötzlichen Gefühl einer kleinen Zusammengehörigkeit lächelte sie –, da schien er ihren Blick zu spüren, er sah auf, stutzte – und schob ihr in vollendeter Diensteifrigkeit die Kompottschale zu, die in seiner Nähe stand. Marlise empfand eine kleine ärgerliche Betroffenheit. »Was hat er?« dachte sie, »es ist als wehre er sich –, gegen mich, gegen uns alle?«
Auf der Veranda, wo nach dem Essen der Kaffee getrunken wurde, erörterte man, was jeder am Nachmittag vorzunehmen gedenke. Das heißt, es war hauptsächlich wieder Tante Franziska, die sprach. Sie habe Briefe zu schreiben, Papiere durchzusehen; es würde ihr auch lieb sein, eine Unterredung geschäftlicher Art mit Joseph zu haben –, ob er Zeit dazu habe, fragte sie nicht. Adelina, deren zwitscherndes Schwatzen und Lachen sich stets wie ein helles Echo in die Gesprächigkeit der Mutter mischte, war mit dem Waldspaziergang, den Marlise vorgeschlagen hatte, nicht einverstanden; die Wege seien so steil und so schlecht, man verdürbe sich nur das Schuhzeug darauf, und überhaupt sei das Spazierengehen ein sonderbarer deutscher Sport, der ihr durchaus nicht läge. »Drüben geht nur das ganz gewöhnliche Volk zu Fuß. Wenn wir ein Picknick in den Bergen hatten, sind wir geritten, und sonst fährt man im Auto. Wie merkwürdig, Onkel, daß du kein Auto hast! Wo ihr so abgelegen wohnt, wer weiß wie weit bis zur nächsten Stadt –, wie kann man da nur ohne Auto auskommen?«
Onkel Joseph runzelte heftig die Stirn, und Marlise, die ganz blaß geworden war, blickte bestürzt auf die Mutter: Gottlob, sie hatte nicht gehört oder nicht verstanden, in geistesabwesender Gelassenheit lehnte sie im Stuhl. Wenn Adelina nur nicht noch einmal davon anfing –
»Ich denke, wir gehen,« sagte Stephan und stand schnell auf, »komm, Adelina.«
»Schon? Warum denn nur? Du bist ungemütlich, Stephan. Laß mich doch meinen Kaffee in Ruhe austrinken!« Sie schmiegte sich träge in die Stuhlkissen und griff nach einer neuen Zigarette.
»Nein, bitte, komm jetzt!« Das »bitte« war kaum noch höfliche Redensart, ein heimlicher harter Befehl saß darunter. Er faßte ihr weiches Handgelenk, da ließ sie sich emporziehen, schmollend und beleidigt, aber folgsam wie ein kleines Tier, das Schlage bekommen hat.
Als sie zu dritt in der Diele standen – Marlise war mit den Geschwistern hinausgegangen –, sagte Stephan: »Verzeih, Maria! Mir scheint, Adelina hat irgend ein Gespenst geweckt –, willst du uns nicht aufklären, damit man den peinlichen Gegenstand künftig vermeiden kann?«
Marlise vermochte nicht gleich zu antworten. Sie war schmerzvoll empört, und einen Augenblick haßte sie diese beiden, das rosige, kindisch eigensüchtige Geschöpf und den Mann, der mit so schonungslos zweckmäßigen Fragen vorging. Sie hätte ihnen prüfen mögen: »Die Gastfreundschaft des Ecks nehmt ihr als selbstverständlich in Anspruch und seid so unwissend über das, was darin vorging und vorgeht?« Aber sie bezwang sich; was konnte die Art dieser fremden Menschen ihr schließlich anhaben? Die Mutter war nicht verletzt worden, alles andere rührte nicht an den innersten Kern. Ruhig antwortete sie: »Mein Vater verunglückte auf einer Autofahrt. Wir vermeiden jedes Wort, das Mutter daran erinnern könnte.«
»Verzeih!« sagte Stephan noch einmal, »das wußten wir nicht.« Adelina, die mit einem mehr törichten als verlegenen Gesicht dabeigestanden hatte, lief die Treppe hinauf: »Kommst du, Maria?«
Marlise folgte –, aber sie wandte sich noch einmal zu Stephan zurück; immerhin, er war ihr zu Hilfe gekommen –, »hast du Lust mit uns zu gehen?« fragte sie.
Sie stand um drei Stufen von ihm getrennt und erhöht, im flimmernden, feurigem Licht des bunten Treppenfensters. Ein seltsamer Blick aus seinen dunklen, nahe zusammenstehenden Augen ging zu ihr empor, eindringlich und feindselig forschend –. »Danke,« sagte er und verbeugte sich, »meine Mutter wird mich vielleicht brauchen.« Er drehte kurz um und ging.
Oben im Zimmer hielt Adelina Marlisen ein Paar zartgraue, beängstigend hochhackige Wildlederschuhchen entgegen. »Du kannst wirklich nicht verlangen, Maria, daß ich mit den Absätzen auf eueren schauderhaften Waldwegen herumstelze; und andere Schuhe habe ich nicht, solche wie du trägst, sie sind abscheulich unelegant. Überhaupt möchte ich ein paar Besorgungen machen, mir fehlt Briefpapier und Seife und Wäscheband. Das wird man doch in euerem Nest finden können –«
»Schwerlich so, wie du es brauchst,« meinte Marlise. »Die paar Lädchen hier sind ganz dörflich. Man muß nach Schnepfheim fahren, wenn man etwas Besseres braucht.«
»Aber so fahren wir doch nach Schnepfheim!« rief Adelina begeistert. »Ja, das ist ein guter Gedanke! Oh, bitte, Maria, sag, wann der nächste Zug geht und daß wir fahren wollen! Es wird sicher dort ein paar hübsche Geschäfte geben mit erstaunten Verkäufern, die sich ein Bein ausreißen, und auf der Straße ein paar anständig angezogene Leute und ein Café, eine Konditorei, wie ihr das nennt, wo wir im Fenster sitzen können und Tee und Likör trinken und uns mit Süßigkeiten für ein paar Tage versehen. Oh, liebe, goldene Maria, nur einmal etwas unternehmen, ein kleines Stückchen Eisenbahn fahren, nur endlich etwas anderes sehen als dies ewige grüne Tal und Bäume und Berge –, und wenn es nur ein zweites Bilderbuchstädtchen ist, das Schnepfheim heißt –«
Das Züglein nach Schnepfheim pfiff und pustete eilfertig zwischen den Wiesenhügeln davon. Im Eck war es still. Nur im Wohnzimmer wurde gesprochen; jetzt laut und lebhaft, mit eigensinniger Geläufigkeit –, das war Frau Franziska; dann wieder sprach Joseph Stauffer, in der kühl überlegenen Ruhe, die ihm eigen war.
Sie saßen am Schreibtisch, auf dem allerlei Papiere umherlagen. Am entferntesten Fenster lehnte in unbeteiligter Haltung Stephan.
»Erlaube: wie groß war die Summe, die beim Verkauf der Weberei übrig blieb?« sprang Joseph in den Redestrom seiner Schwester hinein. »Es hat keinen Zweck, liebe Franze, daß wir uns über diese Dinge nur in Andeutungen unterhalten! Du mußt einsehen, daß es mir unmöglich ist, dir irgend einen Rat zu geben, solange ich deine Geldverhältnisse nicht klar übersehe.«
»Aber, bester Joseph! Ich habe dir schon zehnmal gesagt, daß meine Verhältnisse ganz und gar kläglich sind, sie liegen so ziemlich auf dem Nullpunkt, das ist doch klar genug, scheint mir! Was beim Verkauf der Fabrik übrig blieb –, du mein Gott, es ist jämmerlich zusammengeschmolzen, wo die Auflösung des Haushalts, die Reife und hundert andere Verpflichtungen noch Unsummen verschlungen haben! Ich will dich ja gar nicht mit diesen Dingen langweilen, das alles liegt hinter mir und ist nicht mehr zu ändern, ich bitte dich nur um ein wenig Verständnis für meine heutige Lage und um einen Vorschlag, wie ich mein und meiner Kinder Leben nun einrichten könnte.«
»Ganz recht; ich kann aber einen Vorschlag, wenn er nicht völlig in der Luft hängen soll, nicht machen, ehe ich nicht weiß, ob du über irgend welche Mittel verfügst oder ob du lediglich auf eigener Hände Arbeit – und meine Hilfe angewiesen bist.« Frau Franziska fuhr auf, ob entrüstet oder nur ungläubig belustigt, blieb ungewiß, denn er legte ihr beschwichtigend seine Hand auf den Arm, ehe sie zu Worte kam. »Versteh mich nicht falsch, Franze: mein Wille ist es nicht, der deine Lage zu schwarz malt! Du hast Unglück gehabt, gut, wir müssen uns damit abfinden und den Ausweg suchen, meiner Teilnahme und Unterstützung dabei bist du sicher. Aber wir wollen doch die Zukunft so aufzubauen suchen, daß sie dir – und uns allen möglichst wenig Enttäuschungen bietet.«
Frau Klotz lachte, freimütig und unbarmherzig. »Ach, Joseph, das sind Redensarten. Ja, in denen warst du immer groß. Laß mich offen sein,: deine zartfühlenden Umschweife kommen mir ein bißchen kleinlich vor –, nun ja, wir von drüben sind wohl großzügiger gewöhnt, in Geldfragen wie in persönlichen Dingen. Übrigens wollen wir doch diese Unterhaltung nicht ins Endlose ausdehnen! Sage mir, bitte, deine aufrichtige Meinung, was ich von dem gesegneten Deutschland zu erwarten habe.«
In Joseph Stauffer kochte es. Dieser behaglichen Anmaßung gegenüber fühlte er sich unerträglich gedemütigt, ohnmächtig und feige. »Warum dulde ich dies?« fragte er sich, »in meinem Hause, in unserm Eck? Grob werden müßte man – aber das kann ich nicht –« Er blickte wie hilfesuchend um sich – da stand ein Kinderbild Marlises vor ihm auf dem Schreibtisch, das schmale, süße Gesicht noch vom losen Haar umhangen. »Ich möchte versuchen, ihr zu helfen –,« die warme Stimme klang in Joseph nach – er atmete auf und hatte sich wieder.
»Stephan wird eine Tätigkeit finden,« wandte er sich in herzlichem Ton an Frau Franziska, »ich werde ihm behilflich sein, nötigenfalls mit Fürsprache für ihn eintreten. Am besten, er sieht sich nach einer Stellung in einem überseeischen Exportgeschäft um, da er die Vorkenntnisse dafür besitzt, sein Verdienst dürfte sofort hoch genug sein, daß er sich selbst erhalten und auch für dich ein wenig mitsorgen kann. An einem unserer großen Handelsplätze wird dergleichen am ersten zu finden sein –«
»Und ich?« unterbrach Frau Klotz, »und wir? Ich möchte es weder mir selbst noch Adelina zumuten, daß wir in einem Nest wie Beurenbach hängen bleiben –«
»Ich glaube es dir,« lächelte Joseph mit leisem Spott, »und würde dafür stimmen, daß ihr Stephan begleitet, wenn irgend seine Stellung aussichtsreich genug ist. Du könntest deinem Sohn eine bescheidene Häuslichkeit schaffen, anstatt ihn dem Elend des »möblierten Herrn« zu überlasten, anderseits bietet die große Stadt am ersten kleine Erwerbsmöglichkeiten für gebildete Frauen. Auch Adelina wird dort die beste Gelegenheit finden, sich auf einen Beruf vorzubereiten.«
»So –!« sagte Frau Franze nach einer Pause, »also in diesem Stil denkst du dir unser zukünftiges Leben.« Sie betonte das »du« mit einer gewissen feindseligen Schärfe. »Mir scheint, lieber Joseph, daß du dir eine recht hinterwäldlerische Vorstellung machst von dem Lebenszuschnitt, den wir von drüben gewöhnt sind. Eine bescheidene Häuslichkeit – kleine Erwerbsmöglichkeiten – Adelina und ein Beruf – mein Gott, was sind das für engherzige Begriffe! Du kannst doch nicht verlangen, daß wir unsere ganzen Gewohnheiten, unsere gesellschaftliche Stellung, unsere berechtigten Ansprüche an Behaglichkeit und Ansehen zum alten Eisen werfen, nur weil die widrigen politischen Verhältnisse unsere Existenz drüben vernichtet haben. Nein, Bester, so weit bin ich denn doch noch nicht! Ganz abgesehen von dem, was ich drüben war und vorgestellt habe, bin ich wie du ein Kind des Hauses Heinrich Stauffer und habe als solches wohl keineswegs nötig, mich in den dunkelsten Winkel zu verkriechen.«
»Du vergißt vielleicht, daß unser Vater dir dein Erbteil ausgezahlt hat, als dein Mann das Geschäft in Sao Paolo übernahm –« sagte Joseph Stauffer undeutlich, mit dem ganzen gequälten Widerwillen, den ihm die Wendung des Gesprächs verursachte.
»Ach die alte Geschichte!« meinte Frau Franziska leichthin, »Vater machte schon damals Aufhebens genug davon, als gewähre er uns eine unverdiente Gnade! Aber die Werke haben doch seitdem glänzend weiterverdient, und ich sehe nicht ein, warum ich den Vorteil davon nicht mitgenießen soll, jetzt wo ich es brauchen kann –«
»Du sollst es ja!« rief Joseph und sprang auf. »Ich bitte dich, Schwester, laß und nicht in diesem Ton fortfahren – hast du denn nicht das Vertrauen zu mir, daß ich dir helfen werde, soweit es irgend in meinen Kräften steht? Aber du mußt doch ein Einsehen haben – die Werke haben in den letzten Jahren nicht mit so großem Gewinn gearbeitet, wie du wohl annimmst, und wenn ich deinen Haushalt in einer großen Stadt aus meinen Mitteln bestreiten will, so kann ich es nur, sofern mir etwas Bescheidenheit und guter Wille von deiner Seite entgegenkommen. Ein Krösus bin ich nicht –«
»Nun,« lächelte Frau Franziska und sah sich im Zimmer um, »die Lebenshaltung im Eck macht immerhin den Eindruck, recht aus dem Vollen geschöpft zu werden, und ich habe doch noch kein Wort davon gehört, daß etwa Maria Elisabeth sich auf einen Broterwerb vorbereitet.«
Josephs Gesicht wurde grau. »Orlando war Teilhaber der Webereiwerke Heinrich Stauffer,« sagte er eisig, »und seinen Hinterbliebenen sieht das Recht der Versorgung aus den Mitteln der Firma zu. Das hat unser Vater festgesetzt –« Er brach ab. Eine wütende Scham überkam ihn, daß er sich zu dieser Erklärung hatte zwingen lassen, und er wäre wortlos aus dem Zimmer gegangen, wenn Stephan nicht plötzlich herangetreten wäre.
»Onkel Stauffer, du bist nicht genau unterrichtet,« sagte der junge Mann, »meine Mutter und Adelina sind nicht in dem Maße von deiner Güte abhängig, wie du annimmst. Es ist aus dem Verkauf der Weberei und unseres Wohnhauses in Sao Paolo ein kleines Kapital gerettet worden, das Mutter in Werten der Vereinigten Staaten angelegt hat und das ihr hier eine nicht ganz unbeträchtliche, nach jetzigen Verhältnissen sichere Einnahme verschafft.«
»Stephan! Was fällt dir ein?« rief Frau Klotz heftig entrüstet, »du bist durchaus nicht berechtigt –«
»Verzeih meine Einmischung, Mutter! Aber diese Klarstellung erschien mir im Augenblick unerläßlich.« Stephan wandte sich zu Joseph, der aufs peinlichste betreten, fahl und schweigend dabeistand. »Wir sind dir zu großem Danke verpflichtet, Onkel; allein daß wir hier sein dürfen, in diesem Hause, dem wir so wenig wesensverwandt sind, bedeutet sehr viel – ich bitte dich zu glauben, daß wir das empfinden. Übrigens habe ich bereits verschiedenes unternommen, um so schnell wie möglich zu Arbeit und Verdienst zu kommen, und hoffe, dir und der Mutter bald ein günstiges Ergebnis mitteilen zu können.«
Sie standen sich gegenüber, der junge und der ergrauende Mann, und es wäre schwer zu entscheiden gewesen, welcher von beiden beherrschter und verschlossener sich zu zeigen bemüht war. In Stephans dunklen Augen glühte ein Funke – Stolz? Hatz? Oder war es der Trotz heimlicher Verzagtheit? Joseph Stauffer sah es, und ein aufspringendes Mitleidsgefühl zog ihn von der eigenen Verstimmung ab. Er reichte dem Neffen mit festem Druck die Hand. »Gut, Stephan. Ich stehe zu deiner Verfügung, wenn du mich irgend brauchst.«
Frau Franziska raffte unter lebhaftem Geknister ihre Papiere zusammen. Sie war gekränkt und empört. Was war dem Jungen nur zu Kopf gestiegen? Aber immerhin, Joseph wußte nun Bescheid, wie sie über den Stand der Dinge dachte, und daß es ihm nicht gelingen werde, sie in kleinbürgerliche Beschränktheit einzusperren. Damit schien ihr für heute genug gewonnen, und sie brachte es im Handumdrehen fertig, wieder ihre kleidsame Miene großartig überlegener Heiterkeit anzunehmen. –
»Wie war's in Schnepfheim?« erkundigte sich Onkel Joseph bei Marlise, als man nach dem Abendessen im Garten umherschlenderte. Seitdem er sie wieder im Haus wußte, schien ihm alles Unerfreuliche nicht mehr einer ernsten Beunruhigung wert.
Marlise zog ihn den Weg hinab, wo man vom Hause her nicht gehört werden konnte. »Ach Onkel, es war höchst unterhaltend und – höchst bedenklich. Ich hätte nie daß man in einem Nest wie Schnepfheim an einem Nachmittag so viel Geld ausgeben könne. Und die Schnepfheimer haben ihren Spaß noch obendrein gehabt – weißt du, sie ist unglaublich frech und leichtsinnig und – süß dabei! Wie sie im Vorgärtchen der Konditorei Wegele am Markt gesessen hat, in ihrer verrückten roten Seidenjacke und dem weißen Bubenmützchen, mit hoch übergeschlagenen Beinen, rauchend und Kuchen stopfend und jeden Vorübergehenden, Mann und Weib und Kind und Hund als Publikum und Zeitvertreib betrachtend – Onkel, es war zum Wüten und zum Entzücken!«
Joseph Stauffer lachte von Herzen. »Laß sie, Marlise! Ein bunter Zugvogel. Ich schätze, Beurenbach und Schnepfheim brauchen sich nicht lange darüber aufzuregen.«
»Mag sein. Aber – ich bin doch ein bißchen schuldbewußt. Darf man es denn zulassen, daß sie so sinnlos viel Geld vertut? Und jetzt bearbeitet sie gar ihre Mutter, daß sie mit ihr nach Freiburg fahren soll, um einzukaufen, Kleider und Hüte und, was weiß ich! Ihre Garderobe sei zu drei Vierteln unbrauchbar –«
»Laß sie, Marlise! Das mit der Unbrauchbarkeit ist das erste Zeichen von gesundem Menschenverstand, das ich bemerke. Laß sie nach Freiburg fahren, und ich will ihr einen Geldschein extra zum Vertun zustecken – nur damit wir ein paar Tage wieder Ruhe und das Eck für uns allein haben.«
»O Onkel, du bist herzlos –« aber Marlises Augen lachten doch in der Aussicht auf diese stillen Tage.
Und sie fuhren nach Freiburg, Tante Franze und Adelina; beide in erhöhter Stimmung vor Wichtigkeit, Neugier und Lust eines kleinen Über-die-Stränge-Schlagens.
»Du fährst nicht mit, Stephan?« fragte Onkel Joseph.
»Um Einkäufe zu machen?« gab er zurück, die Worte gleichsam in Anführungsstriche setzend.
»Nein – um das Münster zu sehen, die köstlichen, alten Straßen, die ganze wunderschöne Stadt! Solltest du, deutschgeborenes Kind, gar kein bißchen Sinn dafür haben?«
»Verzeih, Onkel Stauffer – nein! Fürs erste kann ich noch wenig Neigung für diese Seite des Daseins aufbringen.«
Er steckte fast den ganzen Tag in der Fabrik, hatte sich seltsamerweise an den alten Niemeyer an geschlossen und durch ihn eine Art unauffälliger Mitarbeit in den Webereiwerken Heinrich Stauffer gefunden. Joseph ließ es geschehen ohne sich einzumischen. »Laß ihn!« so war sein unwillkürliches Gefühl auch Stephan gegenüber. Aber es berührte ihn doch angenehm, daß der junge Mann offenbar dem Müßiggang keinen Geschmack abzugewinnen wußte.
Dann war, nach einem Tage, an welchem das Eck in der wiedergewonnenen Ruhe wohlig aufzuatmen schien, ein Abend da mit goldrosigen Lichtfluten eines unsäglich klaren, hohen Himmels, der zu den Fenstern des Musikzimmers leuchtend hereinschaute und die Notenschränke, den geöffneten Flügel und Marlises weiße Gestalt wunderhaft anstrahlte. Draußen lag das weite, grüne Land in Blüten und seliger Frühlingsmüdigkeit. Und Marlise sang:
»Es grünet ein Nußbaum vor dem Haus,
Luftig, duftig breitet er blättrig die Äste aus.«
Sie sang in zart jubelnden Tönen, aus reinster, heiterster Herzensfülle heraus. Und Joseph Stauffer ließ die sanft wogenden Harpeggien der Begleitung liebevoll behutsam die süße, helle Stimme umperlen.
»Das Mägdlein horchet, es rauscht im Baum –« In seliger Frühlingsmüdigkeit glitt die Melodie in tiefere Lagen hinab und versank in Träume.
»O – Stephan, du bist hier?« fragte Marlise verwundert, als sie sich vom Flügel umwandte. Er war so leise hereingekommen, daß niemand ihn gehört hatte; und Marlise nicht, wohl aber Onkel Joseph sah auf seinem Gesicht eine Versonnenheit, die aus den harten, dunklen Zügen etwas Neues, Heißes und Weiches auftauchen ließ.
»Wenn ich hierbleiben darf –?« fragte Stephan mit spröder Stimme.
»Aber ja! Warum nicht? Such dir einen bequemen Stuhl!« Marlise nickte ihm freundlich und eilfertig zu, schon halb über ein neues Notenheft gebeugt. Sie war viel zu sehr von eigener Freude erfüllt, als daß sie irgend jemand hätte etwas abschlagen können.
Sie musizierten bis in die Nacht.