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Die folgenden Tage waren erfüllt vom breiten Gewese der Klotzschen Pläne, Wünsche, Aussichten und Absichten. Tante Franziska und Adelina bauten mit solcher Begeisterung an ihren Luftschlössern, daß Marlise in den allgemeinen Eifer hineingerissen wurde und kaum zu eigenen Gedanken kam.
Stephan sollte seine Stellung in dem großen Bankgeschäft sogleich antreten, und Tante Franze wollte ihn begleiten, um die Stadt in Augenschein zu nehmen und eine Wohnung zu suchen. Allein die Aussicht auf eine Reise, Ortsveränderung, Umschau in neuer Umgebung und unter neuen Gesichtern belebte sie auf glücklichste Art, sie entwickelte in diesen letzten Tagen eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit und bedachte das Eck mit so vielen schmeichelhaften und dankbaren Worten, wie sie während ihres ganzen, zehnwochenlangen Aufenthalts nicht gefunden hatte.
»Glückliche Menschen!« sagte Onkel Joseph lächelnd zu Marlise, neben der er abends durch den Garten schlenderte. »Da stürzen sie sich kopfüber und unter Jubelgeschrei in eine neue Lebenslage, wie badende Kinder in den kalten Fluß! Und dabei wissen sie noch gar nicht, wie tief und reißend er sein mag und ob sie überhaupt schwimmen können. Aber sie werden schon den Kopf über Wasser behalten, sie sind von der beneidenswerten Sorte, denen nichts wirklich mißglückt.«
»Meinst du?« fragte Marlise zurück. Sie sah auf Stephan, der ein Stück vor ihnen mit Mutter und Schwester den Weg hinabschritt. »In Brasilien ist es ihnen aber doch mißglückt,« fügte sie nachdenklich hinzu.
»Ach, keineswegs!« widersprach Onkel Joseph. »Nennst du das mißglückt, wenn einer den verfahrenen Karren einfach stehen läßt und sich mit ein bißchen schlechter Laune davonmacht, um anderswo in Gemütlichkeit abzuwarten, daß sich ihm eine neue Weide eröffnet?«
»Onkel, warum redest du so?« rief Marlise, von einer unklaren Pein berührt. »So ist es denn doch nicht gewesen! Stephan –«
»Ja, Stephan!« fiel Onkel Joseph mit Betonung ein, »Stephan, das ist etwas anderes. Ihn meinte ich gar nicht. Schade um den Jungen, – daß er immer übertönt wird vom Kling und Klang der weiblichen Familie. Er kommt nie zu Worte, und so bleibt ihm nur die schweigende Korrektheit, um sich irgendwie abzuheben.«
Marlise hätte gern etwas gesagt, um Stephan gegen dieses leise spöttische Urteil in Schutz zu nehmen; aber sie konnte das überzeugende Wort nicht finden. Da sagte Onkel Joseph in dem warmen, nachdenklichen Ton, den sie als seinen eigensten kannte: »Schade um ihn, – und schade für uns! Hätten wir besser kennen gelernt, was unter der spröden Schale verborgen ist, es hätte sich wohl gelohnt. Mir war ein paarmal, als sähe ich ein echtes Stauffergesicht aufleuchten.«
Marlise lächelte, entspannt und erfreut. Es war ein seltsam wohltuendes Besserwissen, daß sie den verborgenen Kern kannte, im Schlimmen wie im Guten. Aber sprechen mochte sie darüber nun doch nicht.
Als sie bald darauf Stephan allein an der Gartenmauer stehen sah, wo man von einer kleinen Terrasse den Blick ins Tal genoß, trat sie zu ihm. »Bist du zufrieden?« fragte sie, »meinst du, daß es das Richtige für dich sein wird, dort in der Stadt?«
Er verzog den Mund. »Wie soll ich das sagen, wo ich überhaupt noch nicht weiß, was das Richtige für mich ist? Es ist ein Versuch. Mißlingt er, so wird sich etwas anderes finden. Nur daß ich erst einmal auf ein Sprungbrett komme.«
Marlise war betreten; dies klang recht anders als Tante Franzes und Adelinas rosigmalender Eifer. Es war, als erriete Stephan ihre Empfindung, er fügte halb scherzhaft hinzu: »Daß mir der Himmel so voller Geigen hängt wie meiner optimistischen Mutter und dem kleinen ungeduldigen Schaf, wirst du nicht erwarten, Marlise.« Er sagte »Marlise« seit dem Tage der Berglinger Straße; und sie hatte nichts mehr dagegen, daß er ihr um diesen Schritt näherrückte.
Jetzt blickte er in das abendliche Land hinaus, in seinen Augen war der goldne Widerschein des weiten, sonst leuchtenden Himmels. »Es ist schön hier,« sagte er gedämpft, »das habe ich nun doch begriffen –« Mit einem ernsten Lächeln wandte er sich ihr zu: »Leb wohl, Marlise! Ich sage es jetzt, morgen früh ist es doch nur die belanglose Redensart. Leb wohl und – hab' Dank –«
»Nein, – wofür?« wehrte sie befangen ab, sie dachte: »Dank für das Almosen, an langer Stange gereicht –?« Aber die häßliche Erinnerung versank, sie ergriff freimütig seine ausgestreckte Hand. »Leb wohl, Stephan, –« sie hätte hinzusetzen müssen: »und laß es dir gut gehen, –« aber sie brachte es nicht über die Lippen, es schien so schal und unzutreffend. Es war auch, als vermisse er nichts, er drückte ihre Hand und sah ihr mit einem stillen, guten Blick in die Augen, ehe er sich wieder der Aussicht ins Tal zuwandte. –
Dann waren sie fort, Stephan und Tante Franze. Und es fiel Marlise nur noch die Aufgabe zu, Adelinas quecksilberne Ungeduld, ihre hochfliegenden Träume und Zukunftshoffnungen über sich ergehen zu lassen.
Das war durchaus nicht immer leicht. Denn was eigentlich Adelina sich vom Großstadtleben versprach, war reichlich unklar, ihr Plänemachen nicht gehauen und nicht gestochen. Allein der Rahmen – menschenvolle Straßen, Läden, Konditoreien, Kinos, Sportplätze –, in den sie ihre buntglänzenden Bilder hineinmalte, mochte einigermaßen der Wirklichkeit entsprechen, die Bilder selbst jedoch, von anregendem Verkehr mit einem Schwarm interessanter Leute, eleganter Geselligkeit, modernsten Toiletten, einer kleinen, kokett gepflegten Häuslichkeit, boten äußerst wenig Aussicht auf Verwirklichung. Wie sollte ein zahlreicher Bekanntenkreis sich so schnell einfinden? Woher sollten die Mittel für Kleidereleganz und kostspielige Vergnügungen kommen? Woher Zeit und Hilfskräfte, die Häuslichkeit auf großem Fuße zu erhalten? Marlise schüttelte heimlich den Kopf. Aber sie gab sich nicht sonderliche Mühe, Adelinas Phantastereien zu widerlegen. »Sie wird bald genug in die dürre Wirklichkeit zurückmüssen, warum ihr nicht den Spaß des Fabulierens gönnen?« Marlise sagte sich, daß es sie ja nicht mehr soviel anginge, wie Adelina sich nachher mit der Wirklichkeit abfand.
Schon Tante Franziskas erster Brief goß ein wenig Wasser in Adelinas Wein. Zwar besagte er, daß Tante Franze von dem reichen und lebhaften Bilde der Stadt sehr entzückt sei und daß sich sogar schon erfreuliche Beziehungen zu einer gleichfalls aus Brasilien heimgekehrten Familie angebahnt hätten. Anderseits aber hatte Tante Franze bereits die Erfahrung gemacht, daß man dort auf recht teurem Pflaster wandeln werde und daß besonders die Wohnungsfrage nicht leicht zu lösen sei. Hübsche Wohnungen gäbe es wohl, aber immer sei irgendwo ein Haken, und Stephan mache bei der Wahl mancherlei Schwierigkeiten.
»Was hat er für Schwierigkeiten zu machen, wo die Sache ihn doch am allerwenigsten angeht?« schalt Adelina. »Er wird den ganzen Tag nicht zu Hause sein, wir aber, Mutter und ich, können verlangen, daß die Wohnung nett und behaglich ist. Ich kenne ihn: er findet natürlich alles zu teuer, was Mamas Geschmack entspricht! Oh, ich fürchte, wir erleben noch allerlei mit Stephan –«
Sie erlebte es, und zwar sehr bald. Der nächste Brief war von Stephan selbst. Er schrieb, daß eine leidliche Wohnung gefunden sei, zwar nicht gerade billig und auch größer, als es ihren bescheidenen Verhältnissen eigentlich entspräche, es werde Mühe machen, sie ohne Dienstmädchen in Ordnung zu halten. Sie läge aber günstig zu seiner Arbeitsstätte und dem Stadtinnern, so daß Adelina, wenn sie eine Handelsschule, Frauenschule oder was sonst besuche, keine allzu langen Wege zurückzulegen haben werde. Da die Wohnung sofort zu beziehen sei, wolle die Mutter nicht, wie anfangs beabsichtigt, noch einmal nach Beurenbach zurückkehren, die hohen Reisekosten könne man sparen; Adelina solle so bald wie möglich mit dem noch zurückgebliebenen Gepäck nachkommen.
Der Brief war trocken vor Sachlichkeit, nicht unfreundlich, aber sicher nicht aus rosiger Laune heraus und in Eile geschrieben. Adelina saß mit hochrotem Kopf darüber, noch unentschlossen, ob ihre Empörung größer war oder ihr jämmerliches Mitleid mit sich selbst. Endlich fing sie an zu weinen, das war ihr allzeit bereites Ausdrucks- und Erleichterungsmittel.
So fand sie Marlise, und selbst sie war erschrocken über die Härte des Umschwungs, der über Adelinas Hoffnungen hereinbrach. Eine Wohnung, die sicher nicht sehr vornehm war, – ohne Dienstmädchen wirtschaften, – die Handelsschule oder Frauenschule im Hintergründe, – und überall so lieblose, ungemütliche Begriffe, wie Sparsamkeit, Einschränkung, bescheidene Verhältnisse –! Was Wunder, wenn ein lebenslustiger, verwöhnter Kindskopf fassungslos vor solchen Aussichten stand.
»Ich habe Angst!« schluchzte Adelina, »oh, Maria, ich habe gräßliche Angst! Wie soll das mit uns werden, wo wir es doch so ganz, ganz anders gewöhnt sind? Wie sollen wir so ein Leben überhaupt angreifen, noch dazu, wo wir dort ganz fremd sind und keinen Menschen haben, der uns Bescheid sagen könnte? Ich bin sicher, Mama kann gar nicht kochen, und wie man ein Zimmer reinmacht, davon habe ich keine Ahnung! Und ich soll womöglich fertig gekaufte Röcke und selbst genähte Blusen tragen und einen Hut fürs ganze Jahr und tagaus, tagein in einer muffigen Schulklasse sitzen, zwischen schmierigen Mädchen, die Nägel kauen und nach Zwiebeln riechen! Jawohl, – sparen, – bescheiden leben: Stephan sagt das kaltlächelnd hin und denkt, es ginge nur so –«
»Das wird er nicht,« begütigte Marlise. »Denke doch, daß es auch ihm recht sauer werden mag, sich in seine Tätigkeit hineinzufinden, unter Bedingungen und Verhältnissen, die natürlich ganz andere sind als in Brasilien.«
»Ach was, er! Er sitzt in seinem Bureau, da wird ihm gesagt: dies und das ist zu tun, und es ist alles vorgeschrieben und festgesetzt! Aber wir, – ich, – ich habe niemand, der mir sagt, wie ich es anfangen soll und der mir ein bißchen hilft –«
»Du hast doch deine Mutter!«
»Mutter, – nun ja –! Aber – siehst du, Mama ist lieb und nett und vergnügt, wenn alles glatt geht, aber wenn ihr selbst etwas in die Quere kommt, ist sie ganz davon eingenommen und hat gar keine Aufmerksamkeit und guten Willen mehr für mich. Ach, ich weiß schon, wie es gehen wird, genau so wie in Sao Paolo in der letzten Zeit und auf dem Schiff und dann hier: Mama wird herumsausen und zwanzig Bekanntschaften anknüpfen und wird überall sehr viel reden und so tun, als stehe es herrlich mit uns, aber zu Hause wird sie sich um nichts kümmern und alles laufen lassen wie es will, – und ich kann unterdessen in so einer Schule hocken und daheim Aufgaben lernen wie ein dummes Gör –«
»Adelina! Wie kannst du so reden?« rief Marlise entsetzt. Aber heimlich mußte sie zugeben, daß Adelinas lieblose Äußerungen leider das Richtige treffen mochten. In bangem Mitgefühl umschlang sie die Weinende, die sich leidenschaftlich in ihre Arme schmiegte. »Oh, Maria, ich habe Angst! Hier war es ja langweilig, aber es war doch alles so bequem, und dann warst du doch da, Maria! und wo du bist, da kann man, glaube ich, nie ganz unglücklich sein! Maria, du –« Adelina hielt inne, atmete schluchzend auf und warf das glühende Gesicht heftig zu Marlise empor. »Maria, komm mit! Komm mit mir in die Stadt, nur für ein paar Wochen, nur für die allererste Zeit! Du bist so gut und klug und ruhig, du wirst gewiß nie den Kopf verlieren, wie es mir jeden Tag sechsmal passiert, und es wäre alles nicht halb so schauderhaft, wenn du dabei wärest, – o ja, Maria, liebste, süße, einzige! Sag, daß du es tun willst, sag es jetzt gleich, daß du mitkommst!«
Marlise stand in starker Betroffenheit, unwillkürlich wandte sie sich zur Seite vor Adelinas brennendem, bettelndem Blick. »Herzenskind, wie kann ich ja sagen, jetzt im Augenblick? Dir wollte ich ja gern beistehen, aber weißt du denn, ob es deiner Mutter und Stephan recht wäre? Und – ich kann doch hier nicht so einfach weg –«
»Wie du nur redest!« quengelte Adelina. »Meinst du etwa, Mama würde nicht entzückt sein über jede Schwierigkeit, die du ihr abnähmest? Und Stephan, – ach, der kümmert sich doch gewiß nicht um uns, der wird gar nicht gefragt! Und warum solltest du nicht für ein paar Wochen hier weg können? Für deine Mutter sorgt Fräulein Sophie, und Onkel Joseph, – ja, sag nur: was hat Onkel Joseph denn überhaupt für einen Anspruch darauf, daß du immer bei ihm sitzest und ihm die Zeit vertreibst?«
»Sei still!« schrie Marlise auf, »wie darfst du so etwas aussprechen, – oh, wie bist du grob und taktlos –«
»Nein, nein, Maria! Verzeih mir, so meinte ich es doch nicht!« Vor zerknirschter Bestürzung flossen Adelinas Tränen aufs neue. »Ich wollte ja nur, – oh, sei gut, Maria, liebe Maria! Nein, du sollst es nicht gleich entscheiden, überleg es dir, – bis morgen, nicht wahr? Aber morgen sagst du ja, oh, bitte, bitte! Und dann telegraphieren wir gleich an Mama, und ich werde so froh sein –«
Marlise lief davon. Sie lief in den Garten hinunter, der in der Mittagsonne reglos und duftend glühte, bis in den äußersten Winkel zu jener Mauerterrasse, wo sie am letzten Abend mit Stephan gesprochen hatte. Sie wollte überlegen, wollte alles Für und Wider abwägen, um einen vernünftigen Entschluß zu fassen und begriff doch, sowie sie nur in ihr Inneres hinabhorchte, daß sie bereits entschlossen war.
Ja, sie würde mitgehen, sie mußte, – wollte es, sie konnte Adelina nicht im Stich lassen –
Herrgott, dieses Kind! Dies unbeherrschte, launenhafte Geschöpf, aus spielerischer Torheit und überraschendem Scharfblick, aus Zärtlichkeit, Leichtsinn, Hilflosigkeit und Draufgängertum so buntfarbig gemischt, wie sollte es sich denn zurechtfinden in einer wirren und weglosen Zukunft? Auf eine verständige Beeinflussung von Tante Franzes Seite war unglücklicherweise nicht zu rechnen, zu Stephan hatte Adelina nicht das geringste Vertrauen, – »ich bin die einzige, auf die sie ein wenig hören würde,« dachte Marlise, »und wenn ich sie nur in eine leidliche Bahn bringen könnte, die Schul- und Berufsfrage entscheiden helfe, ihr die veränderte Lage ein wenig mundgerecht machen kann, so wäre doch immerhin einiges gewonnen!« O ja, man würde sie dort brauchen können; und ein paar Wochen, längstens ein Vierteljahr, – so lange konnte das Eck sie wohl entbehren. Die Mutter war ja nicht krank, und Onkel Joseph, – wann hätte er wohl schief geblickt zu einer Sache, die ihr am Herzen lag?
Aber sie empfand doch eine deutliche Befangenheit, als sie abends bei Onkel Joseph im Musikzimmer saß. Sie waren allein, Frau Stauffer war zur Ruhe gegangen, Adelina mit Packen beschäftigt. Am Nachmittag hatte es gewittert, im Garten tropfte Regennässe von allen Zweigen, und die Erde duftete schwül zu den Fenstern herein.
Onkel Joseph saß vor seinem Notenschrank, er hatte eine Partitur aufgeschlagen, las aber nicht darin, und Marlise bemerkte plötzlich, daß er sie ansah, mit einem guten, freundlichen, beruhigten Blick –
Da sagte sie es. Sie machte gar nicht viele Worte. Onkel Joseph mußte ja auch ohne das verstehen, wie ihr ums Herz war, er, der doch Menschen und Dinge noch klarer und klüger durchschaute als sie! Wenn auch ihr Wunsch ihn anfangs ein wenig überraschte –
Das mußte er wohl, denn Onkel Joseph schwieg vollkommen, so lange sie sprach, schwieg auch noch, als sie längst geendet hatte. Endlich sagte er, und seine Stimme klang ganz ruhig: »Daß sie dich dort brauchen können, ist ja nur zu einleuchtend – ein denkender Kopf und zwei flinke, arbeitswillige Hände sind recht viel wert, wo alle übrigen Köpfe an Überhitzung und Wetterfahnenähnlichkeit leiden und die Hände zu weich und zu träge zum Zufassen sind! In der Wohnung scheinen sie sich ja schon stark vergriffen zu haben, und wie Stephan seine kleine Schwester in eine Handelschule hineinbringen will, ist mir auch schleierhaft.«
Marlise dachte, es sei recht gut, daß Onkel Joseph gleich die praktische Seite der Angelegenheit ins Auge fasse; seine Worte schienen ein deutliches Einverständnis zu enthalten. – »Also ich darf fahren?« fragte sie.
»Darf?« wiederholte er, »Kind Marlise, weißt du nicht, daß du Herrin deiner Entschließungen bist? Ich dagegen weiß, daß deine Entschließungen immer vernünftig sein werden. Fahre also in Gottes Namen, wenn du ein gutes Werk tun möchtest. Aber – bist du dir auch klar, daß du dort in eine sehr krause – sehr geräuschvolle – sehr wenig geordnete Welt hineingeraten wirst? Hier im Eck mußten Klotzens notgedrungen ein wenig von der Farbe des Ecks annehmen, die wird sehr schnell wieder abgehen, dazu tut die Großstadt und die Gesellschaft, mit der sie dort in Berührung kommen, reichlich das ihre. Wie wird es dir in dieser Welt ergehen, Marlise?«
Sie sah ins Leere, sehr nachdenklich, mit kindlich vorgeschobenen Lippen. Aber plötzlich ging ein helles Lächeln über ihr Gesicht, und ohne den Blick aus dem Ungewissen zu lösen, erwiderte sie: »Wie es mir ergehen wird? Nun, Onkel, so gut und so schlecht es will! Adelina meinte zwar, ich würde nie den Kopf verlieren, aber ich bin gar nicht so sicher, ob es nicht doch einigemal geschehen könnte, und mir ist gar nicht bange davor! Ich finde ihn auch schon wieder, meinen Kopf, irgendwie, und weiß dann doch, wie es tut! Und, Onkel, du hast gesagt, mein Entschluß sei vernünftig – ich weiß nicht, ob das zutrifft, ich habe jedenfalls nicht ans Vernünftigsein gedacht, als er mir kam. Dazu hatte ich einfach keine Zeit, denn ich war auf einmal schon mitten drin in dem Entschluß! Es ist auch gar nicht, daß ich ein gutes Werk tun möchte, nein, nein, Onkel, wie kommst du nur darauf? Gute Werke sind langweilig und muffig und schwunglos, ich will nichts davon hören, ich will – ja, was will ich denn eigentlich –? Adelina helfen, freilich! Aber nicht auf so tugendhafte, blutlos uneigennützige Art; nein, ich werde mich weidlich herumschlagen mit ihrem vertrackten Kindskopf, meine Kraft will ich versuchen und meinerseits erleben, wie ich mit ihr fertig werde – und mit Tante Franze und Stephan und der großen Stadt und all dem unbekannten, ungeordneten Kram! Siehst du, so ist es, es ist gar nicht viel daran zu loben, es klingt beinah leichtsinnig, und – ich habe bis jetzt auch gar nicht gewußt, daß es so ist, es kommt mir erst in diesem Augenblick so vor, und ich muß es dir sagen –«
Sie brach ab und starrte ihn an: was ging da vor auf Onkel Josephs Gesicht? Ein halbes Lächeln und ein Staunen, ein tiefes Aufleuchten in seinen Augen und dies kleine, wehe Zucken um seinen Mund – »Onkel?« fragte sie eingeschüchtert, ganz leise, »was denkst du? Soll ich nicht –«
Aber da war es schon vorüber, nur das Lächeln blieb, das gut und warm und heimatlich war. Er kam zu ihr und nahm ihre Hand. »Ja, ja, Marlise, du sollst! Alles sollst du – versuchen und erleben. Ich hab' es immer gedacht, du mußt einmal hinaus – und hindurch –; nur daß es so kommen würde, gerade durch diese Menschen, das wäre mir nie eingefallen –«
Er wandte sich und schritt ein paarmal durchs Zimmer hin und her. Marlise sah zu, wie seine schöne, schmale Gestalt im Lampenlicht auftauchte und wieder in die Dämmerung versank, sah sein Gesicht, in jedem Zug ihr so tief vertraut wie kein zweites, aufschimmern und entschwinden. Sie sah den traulichen, edlen Raum um sich und ihn geschlossen, die Notenschränke, den Flügel, ihren Stuhl bei der Lampe und die Bilder rechts und links – und ein heißes, singendes Erzittern, Schreck und rätselhaftes Glücksgefühl zugleich, erfüllte langsam ihr ganzes Herz: war ihr Entschluß und diese Stunde nicht am Ende viel bedeutsamer, für sie und für alle, als es dem äußeren Geschehen nach aussah?
Sie saß wie betäubt, schwach und glühend unter dieser ahnenden Erkenntnis; da trat Onkel Joseph zu ihr, seine Hand glitt liebkosend über ihr Haar. »Du wirst dich schon hindurchbringen, Marlise! Und du wirst mit deinem guten Willen nicht ganz auf dich selbst gestellt sein. Stephan ist ernst und zuverlässig, ich denke, an ihm wirst du einen Rückhalt haben gegen die Leichtfertigkeit der anderen Seite.«
Marlise stimmte lebhaft zu: ja, das hoffe sie auch – und dann besprachen sie ruhig und sachlich, was es an äußeren Umständen zu ordnen und vorauszusehen gab.
Als Marlise sich spät von Onkel Joseph getrennt hatte, trat sie noch ein paar Schritte in den dunklen Garten hinaus. Als lichter Nebelstreif stieg die Milchstraße über der Bergwand auf, schwang hoch durch die sternglitzernde Weite und verlor sich jenseits im perlmutterfarbigen Gewölk, das der unsichtbare Mond durchleuchtete. »Möchtest du hinauf?« flüsterte irgendwo eine Stimme. Marlise nickte bejahend in die schimmernde Nacht hinauf, sie hörte nicht, daß hinter ihr ein zartes Klirren in der Luft war, wie das Brechen feiner, gläserner Wände.
Unterdessen saß Joseph Stauffer noch im Musikzimmer, er hielt ein kleines Bild in das Lampenlicht und betrachtete es lange. Es war das Bild Orlando Stauffers, dessen sehnsüchtige Augen die blaue, erlebnisreiche Ferne suchten.