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16

Ein paar gelbe Blätter – man wußte eigentlich nicht, woher sie kamen, denn die Bäume waren alle noch ganz grün – taumelten an den Fenstern des Ecks vorüber. Niemand hatte Zeit ihnen nachzusehen. Joseph Stauffer lag in seinem Bett und litt die ganze Tücke der Krankheit, die ihm keinen Ausblick auf andere Dinge mehr gestattete; Frau Cilli hielt seinen flackernden Puls in ihren leichten, mädchenkühlen Fingern, und Marlise sprach unten im Wohnzimmer mit Doktor Zech.

»Es steht schlecht, Herr Doktor, nicht wahr? Ach, es ist so überflüssig, daß ich frage, ich müßte ja blind sein, um nicht zu sehen, wie sehr es sich in den letzten vierzehn Tagen verschlimmert hat! Diese fürchterlichen Erstickungsanfälle, – und er wird ja von Tag zu Tag schwächer! Aber – man möchte sich immer noch sträuben –« Das Zittern ihrer Lippen brach ihr das Wort entzwei.

Doktor Zech war nicht der Mann der billigen und unehrlichen Trostworte. »Das Krankheitsbild war von Anfang an nicht harmlos, Fräulein Stauffer. Indessen waren wir vollauf berechtigt, von der zähen Natur Ihres Herrn Onkels und bei seinen verhältnismäßig jungen Jahren auf einen weit kräftigeren Widerstand zu hoffen. Die beschleunigte Entwicklung, die das Leiden in den letzten Wochen gezeigt hat, ist jedoch nicht zu verkennen –«

»Gibt es denn – gäbe es denn gar kein Mittel –?« flüsterte Marlise verzweifelt.

Doktor Zech schwieg einen Augenblick. Dann sagte er langsam: »Ein operativer Eingriff kommt bei dem Sitz des Leidens nicht in Frage. Eins hätte man wohl versuchen können, eine besondere Art der Behandlung, – das heißt, früher; jetzt ist es viel zu spät. Aber damals – hat Ihr Herr Onkel selbst es verhindert.«

»Er – hat es –«

»Ja, Fräulein Stauffer. Sie sollen nicht denken, es sei von ärztlicher Seite irgend ein Versäumnis geschehen. Geheimrat Berend wünschte, auf die bösartige Bildung im Rippenfell mit einem gewissen Bestrahlungsverfahren einzuwirken, das sich in wiederholten Fällen erfolgreich erwiesen hat. Aber Herr Stauffer hätte sich dazu für eine Reihe von Wochen in eine Freiburger Klinik begeben müssen; und das wollte er nicht. Er erklärte uns in völliger Gelassenheit, er möge nicht um eines Erfolges willen, den er selbst ohne weiteres als ungewiß ansah, das Einzige aufgeben, was ihm das Leben noch lebenswert mache: den Aufenthalt in diesem Hause, im Kreise seiner Lieben. Der Geheimrat und ich nicht minder haben unser Möglichstes getan, um ihn umzustimmen, aber – Herr Stauffers Persönlichkeit ist so geartet, daß sie über die beste und redlichste Meinung eines Außenstehenden immer das Übergewicht behält.«

Marlise schwieg. Sie war so weiß wie ihr Kleid und stand in einer solchen Abgeschlossenheit innerer Erstarrung, daß der Arzt es nicht wagte, ihr mit einer gutmütig helfenden Gebärde nahe zu kommen. Auf seinem kantigen Bauerngesicht lag der strenge und einfache Ernst der unabänderlichen Dinge. »Fräulein Stauffer, ich habe auf Ihre Gefaßtheit gerechnet,« sagte er beinah rauh. »Mir schien, Sie müßten dies wissen, auch um Ihres Herrn Onkels willen. Denn darüber werden Sie nun erst recht nicht mehr im Zweifel sein: daß er sich mit bewunderungswürdiger Entschlossenheit in sein – Leiden ergibt.«

Für eine kurze Weile ruhte Marlises Blick in dem des Arztes. »Ja, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Ja; es ist besser so.«

Als der Arzt gegangen war, stieg sie in ihr Zimmer hinauf und schloß hinter sich ab. Sie blieb am Türpfosten stehen, sie wäre nicht weiter gekommen, ohne sich auf den Boden zu werfen. Von nebenan hörte sie den schrecklichen Husten, im Pfeiler des Hauses glaubte sie die Stöße des mühseligen, rasselnden Krankenatems zu spüren. Sie biß die Zähne aufeinander, um nicht schluchzend aufzuschreien und stand so, eingeklammert in das vergehende Leben des Ecks, Minuten? Viertelstunden? sie wußte nicht wie lange, das aber wußte sie, daß in diese armselige Zeitspanne ein solches Maß des Leides hineingepreßt war, wie sie bisher nicht für ausdenkbar gehalten hatte. –

Wenige Stunden später trat sie zu Onkel Joseph ins Zimmer und setzte sich mit ihrer Handarbeit ans Fenster, wie er es gern hatte. Er nickte ihr zu, ein Lächeln in den Augen, und folgte unverwandt den Bewegungen ihrer Hände mit Nadel und Schere. In all dem kühlen, wohlgeordneten Weiß des Bettes lag er sehr still, den Kopf gegen die hochaufgeschichteten Kissen zurückgelehnt, in einer Haltung stolz abwartender Ergebenheit. Es war die goldschimmernde Stunde vor Sonnenuntergang, in der er sich wie meist am wohlsten fühlte.

Vor dem weitgeöffneten Fenster stand ein Strauß von wilden Spiräen und großen Waldglockenblumen. Ein später Schmetterling, ein herrlich gefärbtes Pfauenauge, taumelte herein, hing für ein Weilchen an den Blumen und erhob sich wieder. Marlise, die sich umwandte, bemerkte, daß Onkel Joseph dem Tierchen nachschaute, wie es sich draußen in der schimmernden Luft verlor. Dann kehrte er seinen Blick zu ihr und sagte: »Ja, Marlise; nun ist es bald so weit.«

Ihr Herz erzitterte. Sie stand auf und ging zu ihm. Die fünf Schritte durch das Zimmer schienen ein Meilenweg zu sein, so viele Gedanken durchstürmten sie in diesen Sekunden. Sie wußte, es sei vernünftig und nötig, daß man einem Kranken jegliche Todesgedanken mit heitrer Selbstverständlichkeit abstritte. Aber zugleich schämte sie sich, es auch nur zu versuchen. Es wäre eine erbärmliche Verstellung gewesen, feige und lieblos gegen die schlichte Gefaßtheit dieses Wissens, vor dem man nichts als Ehrfurcht empfinden konnte.

Sie war bei ihm; sie hockte demütig auf dem Bettrand und zog seine Hand, die wächsern und abgezehrt von einer unbeschreiblich friedvollen Schönheit war, behutsam an ihre Wange. Und sie konnte nichts als schweigen.

Auch Joseph Stauffer blieb lange still. »Ich habe mir früher eingebildet,« sprach er endlich fast wie zu sich selbst, »ich hätte Grund, mit meinem Leben sehr unzufrieden zu sein; weil es mir verwehrt war, das zu leisten, was ich am liebsten geleistet hätte. Jetzt sehe ich, was für ein Irrtum das war! Ich habe, wie man so sagt, viel durchgemacht. Aber wer etwas durchmacht, sollte gerade zufrieden sein, denn er hat, was das wertvollste ist: Erlebnis, Bewegung, inneres Wachsen und Vergehen. Nur die in ewiger Regungslosigkeit der Seele dahindämmern, sind die wahrhaft Unglücklichen.« Er drückte Marlises Hand, daß sie zu ihm aufsehen mußte. »Auch du trägst das Glück der wachen Seele in dir, Marlise. Sei dankbar dafür! Auch du wirst immer mit redlichem Bewußtsein spüren, was mit dir und in dir vorgeht, sei es Stille oder Sturm. Nur nicht das Erleben der Seele feig verhängen! Nur nicht dumpf werden! Ich war einmal nahe daran; aber da kamst du mit deinem unverzagten Kinderschritt und den Augen, die groß von Kinderfragen waren. Und es kamen die langen, guten Jahre mit dir. Nur zuletzt, – das – nein, das war etwas andres – etwas Falsches –« Er bewegte sich unruhig, seine Brauen zogen sich schmerzhaft zusammen, als könne er das rechte Wort nicht finden. Ein stöhnender Seufzer stieg aus seiner mühsam arbeitenden Brust.

Marlise richtete ihn sacht empor. In ihren Arm gelehnt saß er eine Weile, der Husten schüttelte ihn, dann ließ die Beklemmung nach. Er machte ein Zeichen, daß er wieder liegen wolle und lächelte ihr zu, als sie ihn sanft zurückbettete.

»Ist's besser?« fragte sie leise. Er nickte und sah ihr mit einem glänzenden, liebevollen Blick in die Augen. Und während er den Kopf seitwärts ins Kissen sinken ließ, versuchte er ein Stückchen Melodie vor sich hinzusummen, ein paar hauchschwache, zerbrochene Töne nur, aber Marlise wußte, was er meinte. Ein fern verwehter, rührender Klang schien durch den Abend zu schweben: »Schließe mir die Augen beide mit den lieben Händen zu –«

Und ganz zart legte sie ihre Hand über seine Stirn und Lider. –

Noch eine Reihe von Tagen zog vorüber, lautlos, als halte die Stille des Ecks den Atem an, um noch tiefer zu werden. Um Joseph Stauffers Bett war nichts von der angstbeflügelten Geschäftigkeit schwerer Krankheiten, die durch angestrengte Mühe vielleicht noch zum Guten zu wenden wären. In stillschweigendem Einverständnis taten alle nur ihr Möglichstes, um das sanfte Gleichmaß des Lebens unverändert aufrecht zu erhalten und nichts sichtbar werden zu lassen, was das Zeichen der allzu bedeutsamen Unruhe, der Erschütterung oder Auflösung an sich trug. Frau Stauffer und Marlise empfanden es als ein Glück, daß sie die Pflege des Kranken ohne fremde Hilfe bewältigen konnten, und trotzdem niemand über den Ernst der Lage im Unklaren bleiben konnte, war beschlossen worden, weder Frau Franziska Klotz noch sonstige auswärtige Verwandte herbeizurufen, ehe die endgültige Lösung eingetreten war. Der rotgoldne Spätsommer lag schweigsam um das weiße Haus, Duft der Reife kam von den Feldern im Tal, und des Nachts sandten die Wälder das Rauschen ihres unendlichen Friedens herüber, als sei unter dem Sternhimmel keine andere Stimme zu sprechen ernannt als nur diese.

Joseph Stauffer starb am letzten Tage vor Herbstbeginn, wie er gelebt hatte: in klarer und gefaßter Erkenntnis dessen, was mit ihm geschah. Und als alles vorüber war und Marlise ihm die Augen zugedrückt hatte, war die Qual der letzten Stunden wie weggewischt von seinem Antlitz. Sein edles, reingemeißeltes Haupt ruhte auf dem Kissen mit jenem Ausdruck hoheitsvoller Unnahbarkeit, den die stillen Überwinder auf den Grabmälern alter, dämmeriger Kirchen auf ihren steinernen Gesichtern tragen. –

Es kamen die Tage, die voll trauriger Unruhe hinter der großen Einsilbigkeit des Todes dreinziehen, überladen mit Geschäftigkeiten und Pflichten, deren Erledigung allein noch über das Bewußtsein einer schrecklichen Leere hinwegtäuscht. Joseph Stauffers vergängliches Teil wurde ins Tal hinabgetragen und in die herbstkühle Erde des Beurenbacher Friedhofs gebettet. Oben am Berg aber stand das Eck verlassen und beraubt, und die Stille zwischen seinen Wänden war wie ein unaufhörliches, lautloses Weinen.

Marlise ging zum zehnten Male aus ihrem Zimmer in Onkel Josephs Zimmer hinüber, wo das weiß überdeckte Bett und alles übrige Gerat sich in trostloser Aufgeräumtheit an den Wänden reihte. Mit verlorenen Blicken stand sie unter den leblosen Dingen, und ihre Hände hingen herab, als wüßten sie nicht, wo sie sich hinlegen sollten. Sie kehrte in das Wohnzimmer zurück. Da war noch alles wie vor acht Tagen: Onkel Josephs Stuhl und Fußschemel, die Decke, die über seinen Knien gelegen hatte, auf dem Schreibtisch sein Tintenfaß und Schreibzeug, darüber an der Wand das Böcklinsche Selbstbildnis mit dem geigenden Tod, das er sehr geliebt hatte und das er sich aus dem Musikzimmer hatte heraufbringen lassen, als er nicht mehr nach unten gehen konnte.

Marlise setzte sich an den Schreibtisch, schloß die Augen und horchte. Was war es für ein Schweigen im Hause! Nebenan die Mutter, die sich seit Onkel Josephs Tode wieder gänzlich in ihre gegenwartsfremde Abgeschlossenheit zurückgezogen hatte, mochte ebenso unbeweglich in sich hineindämmern wie Marlise selbst. Unten im Wohnzimmer saßen Tante Franze, Stephan und Niemeyer über den Schriftstücken, die in mustergültiger Ordnung Joseph Stauffers letzte Bestimmungen enthielten; auch dabei ging es leise zu –

Marlisen war es gleichgültig, was dort unten eröffnet und verhandelt wurde. Es war ihr überhaupt völlig gleichgültig, was mit ihr und um sie her geschehen würde, es schien ihr unglaublich, daß sie je wieder Anteil und Beziehung zu den äußeren Dingen gewinnen könne. Ihre Hände lagen fröstelnd auf der großen, rotledernen Schreibmappe, – vor wenigen Wochen noch hatten Onkel Josephs Hände sie berührt! Marlise sah auf, schlug den Deckel der Mappe zurück und fuhr mit liebkosenden Fingern über das kühle Leder.

Ein paar Löschblätter und leere Bogen, weiter war nichts darin. Aber in dem Innenfach, dessen kleines Schloß nur eingeschnappt war, lag etwas; ein dicker Brief, und darauf stand von Onkel Josephs kleiner, klarer und gedrängter Schrift: »An Marlise nach meinem Tode.«

Ihr Herz blieb stehen vor freudigem Erschrecken, ihre Hände bebten, als sie nach dem Brieföffner griff, aber dann wagte sie es doch nicht gleich, den Umschlag zu erbrechen, ein Weilchen hielt sie ihre Wange dagegen, als sei es die freundliche Hand, die diesen späten Gruß für sie bereitet hatte.

Es war ein langer Brief, mehrere enggefüllte Bogen, und wie die Ungleichheit der Schrift verriet, in Absätzen geschrieben. Das Anfangsdatum gab den 25. Juli an, am Schluß stand ein Tag verzeichnet, der um fast drei Wochen später lag. Onkel Joseph hatte also das Schreiben hier vollendet und verwahrt in der sichern Voraussicht, daß er nicht mehr sein werde, wenn Marlise dazu kam, ihren Schreibtisch wieder in Besitz zu nehmen.

Dies war der Brief:

 

»Mein Kind Marlise!

Nun spreche ich noch einmal zu dir; dein liebes Gesicht wird sich über meine Zeilen neigen mit dem Ausdruck heller und furchtloser Wißbegier, mit dem du tausendmal zu mir aufgeblickt hast. Ich habe diesen Ausdruck an dir immer so geliebt, es war eine Lust, zu deiner erwartungsvollen Jugend zu sprechen, und oft habe ich davon geträumt, dir das zu erzählen, was ich heute sagen werde. Es kam nie dazu, vielleicht weil ich deine allzu eifervolle Anteilnahme fürchtete und die Wünsche, die du aussprechen möchtest. Jetzt habe ich nichts mehr zu fürchten und du nichts mehr zu wünschen. Es ist dein Eigentum, nicht mehr meins, um das es sich handelt.

Geh an den mittleren Notenschrank, Marlise. Es ist ein Geheimfach darin, du hast es nie bemerkt, der Schlüssel liegt in meinem Schreibtisch. Dort findest du meine Geige. Sie ist sehr wertvoll, eine Stradivari von 1726. Sie gehört dir.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte meiner Geige – meine Geschichte! – dir von fremden Leuten irgendwann bereits zugetragen wurde; wenn ja, so jedenfalls nur in den gröbsten Umrissen. Das Wichtigste daran, das Letzte und Verhängnisvolle weiß niemand. Aber du sollst alles wissen.

Laß mich beginnen, – nicht mit mir selbst, sondern mit meinem Vater. Du hast ihn noch gekannt und genug von ihm gehört, um dir ein Bild von ihm zu machen: ein unermüdlicher Mann von hartem Zielbewußtsein, dem in seinem Leben nur eins von Bedeutung war, das Unternehmen, das er in jahrzehntelanger, weitschauender Arbeit geschaffen und hochgebracht hatte, die Webereiwerke Heinrich Stauffer. Er war ein erfolgreicher Mann; aber das Schicksal meinte es doch nicht gut mit ihm, insofern nicht, als er in mir, seinem einzigen Sohn, nicht den Nachfolger fand, der sein Lebenswerk mit demselben Eifer fortsetzen wollte.

Ob ich meinem Vater wirklich so unähnlich war, wie ich mir in der Jugend einbildete, erscheint mir heute zweifelhaft. Jedenfalls aber, wenn die leidenschaftliche und verschlossene Eigenwilligkeit meines Wesens ein Erbteil von ihm ist, so richtete sie sich von Kindheit an auf Dinge, die ihm ganz fern lagen, auf geistige Bereicherung, Schönheitswerte, vor allem auf die Musik. Die musikalische Veranlagung hatte ich von meiner Mutter mitbekommen, einer gütigen, wenig gesprächigen Frau, die neben meines Vaters beinah herrschsüchtigem Selbstbewußtsein immer in einer gefaßten Schüchternheit erhalten wurde. Solange ich Kind war, stand ich ganz unter ihrem Einfluß, ohne daß mein Vater dem wesentlich entgegengewirkt hätte, – vermutlich hatte er keine Zeit dazu, – und so lange ging alles gut. Aber meine Mutter starb, als die Verschiedenartigkeit in meinen und meines Vaters Lebenszielen eben erst sichtbar zu werden begann und ich ihrer stillen Unterstützung gerade bedurft hätte.

Ich hatte schon als ganz kleiner Bursch eine Geige in die Hand bekommen, und der Zufall führte in jenen Jahren einen Lehrer in unseren Beurenbacher Winkel, der befähigt war, mir die Grundlagen einer sehr guten Technik beizubringen. Ich entsinne mich, daß ich als Zwölfjähriger ein Bachsches Duo mit ihm spielte und dabei plötzlich das Gefühl hatte, es gelänge mir hier endlich ein Ausdruck meines inneren Wollens und Sehnens, der mir als schlechtweg vollkommen erschien. Ob ich damals schon die Vorstellung hatte, daß ich Musiker werden müsse, weiß ich nicht mehr zu sagen; als ich aber die Schule hinter mir hatte und nun, wie es für meinen Vater das allein Denkbare war, im Fabrikbureau der Weberei meine erste Berufsausbildung erhielt, fingen widerspenstige Hoffnungen und Wünsche an in mir zu arbeiten.

Meine Mutter war tot. Ich hatte also weder Vermittler noch Helfer, um meine Sache bei meinem Vater anzubringen. Gleich der erste Versuch mißglückte völlig, das heißt, meine von vornherein wenig zuversichtliche Frage, ob es denn nicht möglich sei, daß ich Künstler werde, begegnete einer solchen eisigen Verständnislosigkeit, daß ich kaum dazu kam, meinen Gedanken zu verfechten. Die folgenden Jahre schweben mir als ein Zustand unaufhörlicher, stiller Kämpfe vor; Kämpfe gegen meinen Vater, der meine Wünsche zwar höchst selten mit Worten berührte, sie jedoch Tag für Tag anfeindete und verächtlich machte in meiner mangelhaften Arbeitslust, meiner Unaufmerksamkeit und geschäftlichen Unbegabtheit; Kämpfe mit mir selbst, wenn ich vorübergehend mürbe geworden war und es mir als meine Sohnespflicht einreden wollte, ich müsse meinen Künstlerträumen entsagen. Zu einer Entscheidung kam es erst, als ich mit neunzehn Jahren in ein fremdes Industriewerk dicht bei Frankfurt getan wurde. Nun konnte ich, jeder Überwachung ledig, Musik hören und in meinen Mußestunden geigen, soviel ich wollte. Es war ein Aufleben voll ungeahnten Glücks; ich war frei, war jung, ich fand den Mut meiner Eigenart und meiner Sehnsucht. Nach einem halben Jahr fuhr ich heim und erklärte meinem Vater mit einer Entschlossenheit, die er mir sicher niemals zugetraut hatte, ich wolle nicht Fabrikherr der Webereiwerke Heinrich Stauffer werden, sondern Musiker.

Das gab einen bösen Kampf. Mein Vater betrachtete mich als einen Fahnenflüchtigen, einen pflichtvergessenen Leichtfuß, wenig fehlte, daß er mich als ehrlos bezeichnete. Die Werke, die Werke! Er begriff es nicht, ja, es empörte ihn, daß ich der Möglichkeit, sie in fremde Hände übergehen, den Namen Stauffer von seinem Lebenswerk gestrichen zu sehen, gleichmütig gegenüberstand. Als er einsehen mußte, daß er so nichts gewann, versuchte er meine Künstlerhoffnungen zu erschüttern, das Vertrauen auf meine Begabung als kindische Selbstüberschätzung hinzustellen, und ich war nicht willenshart oder nicht eitel genug, um diesem Angriff standzuhalten. Daß ich ungewöhnlich begabt sei, glaubte ich zu wissen; aber mit fast zwanzig Jahren war ich recht spät daran, um jetzt erst zum Musikerberuf überzugehen. So schloß ich mit meinem Vater einen Vergleich: ich wollte auf ein Jahr nach Frankfurt gehen und mich bei dem damals berühmtesten Geigenmeister ausbilden lassen. Der Mann galt für einen unfehlbaren Erkenner des Talents: sprach er mir die Fähigkeit zur erfolgreichen Künstlerlaufbahn ab, so wollte ich meine Träume begraben und zu den Werken zurückkehren.

Das Jahr ging hin, das schönste, reichste, mutigste meines Lebens. Ich war meiner Sache ganz sicher. Mein Lehrer, ein überaus wortkarger alter Mann, lobte so gut wie nie, aber sein Eifer für meine Studien, der zuweilen etwas komisch Wütendes hatte, schien mich als einen fraglos Berufenen zu kennzeichnen.

Es war mein Unstern, der den alten Meister kurz vor Ablauf meiner Zeit erkranken ließ und mich dadurch veranlaßte, heimzufahren, ehe ich die vollgültige Bestätigung meiner Berufswahl erlangt hatte. Mein Vater empfing mich mit großer Gelassenheit, aber so, daß ich sofort erkannte: er sah in mir einen Gescheiterten, schwer Enttäuschten, der den Webereiwerken nun keinen Widerstand mehr entgegensetzte.

Ich begehrte auf, ich lachte, ich widersprach. Eine Weile redeten wir heftig aneinander vorbei, ich um ihn aufzuklären und zum Abwarten zu bestimmen, er als begriffe er nicht, daß ich nicht längst unterrichtet sei. Und endlich erzählte er: er sei vor wenigen Wochen, ohne mein Wissen also, in Frankfurt gewesen und habe bereits mit meinem Lehrer Rücksprache genommen. Dieser habe sich unmißverständlich dahin geäußert, daß mein Talent zwar eine sehr hübsche Dilettantenbegabung sei, für eine einigermaßen über dem Durchschnitt stehende Künstlerlaufbahn jedoch keinesfalls ausreiche.

Wenn ich jetzt sage, das, was über mich kam, sei eine innere Lähmung unter unerträglichen Schmerzen gewesen, so ist das nur ein matter und künstlicher Vergleich. Dergleichen läßt sich nicht aussagen; man muß es erlebt haben, – und wohl dem, der es ungebrochen übersteht. Anfangs wehrte ich mich noch, ich glaubte es einfach nicht, ich war überzeugt, daß irgend ein blödsinniger Irrtum im Spiel sei. Ich reiste nach Frankfurt zurück, um selbst mit meinem Lehrer zu sprechen, ich war fest entschlossen, bis an sein Krankenbett vorzudringen; als ich hinkam, erfuhr ich, daß man ihn in eine entfernte Heilanstalt überführt hatte, und ehe ich ihn dort einholen konnte, war er tot.

Damit war alles zu Ende. Ich hatte nicht den Schein eines Rechtes mehr, meinem Vater zu trotzen. Und meine eigne Überzeugung war erschüttert, verdunkelt, tödlich getroffen. Ich widerrief und wurde der gehorsame Sohn der Webereiwerke Heinrich Stauffer.

Noch einmal, viel später, kam etwas wie ein Neuaufflammen der alten Träume. Das war als dein Vater, Marlise, in die Werke eintrat. Er war der Berufene, fraglos Hingehörige an dieser Stelle, die ich nur unter steter Selbstüberwindung, zwischen aufreibender Mühsal und dumpfer Gewöhnung ausfüllte. Er hätte den Namen Stauffer in den Werken würdig fortgeführt, und ich hoffte noch einmal, meine eignen Wege gehen zu können. An den Künstlerberuf durfte ich nicht mehr denken, aber der eintönig freudlosen Enge von Beurenbach den Rücken kehren, ein Stück von der Welt sehen und in einem nach eignem Ermessen aufgebautem Leben der geliebten Musik einen Platz einräumen, so klein und so groß er eben sein konnte, – das war es, was mir als Freiheit vorschwebte. In Orlandos Hause wurde ein Kind erwartet, ein Sohn, wie ich mir blindlings einbildete, ein dritter Stauffer, der mich der Pflichten gegen meinen Namen noch mehr entbunden hätte. Ich wurde beinah kühn; am Tage, da du geboren wurdest, Marlise, gab ich in Berlin den größeren Teil meines mütterlichen Vermögens hin, um die Geige zu erstehen, die jetzt dein ist. Wie mit einem geraubten Schatze kam ich heim und hörte, daß ein Mägdlein geboren sei, – das war wie ein Nein gegen meine heimlichen Fluchtgedanken. Auch die Stradivari brachte mir eine Enttäuschung: unter dem Druck meiner tiefen Mutlosigkeit hatte ich jahrelang keinen Bogen angerührt, nun wußten meine entwöhnten Finger die Seele des edlen Instrumentes nicht mehr zum Singen zu bringen, und ich kränkte mich bis zum bitterlichen Weinen über meine gestorbene Kunst.

Es war als müsse ich bleiben, und ich blieb, denn ich mißtraute meiner Kraft, es noch mit einem eignen Leben aufzunehmen. Dann wurde Orlando hingerafft, zwei Jahre später starb mein Vater, und nun lag alles unabänderlich auf mir, die Werke und dein kleines Leben, mein Kind Marlise! Was konnte es jetzt noch ausmachen, daß mir unter den Papieren meines Vaters ein Brief in die Hände fiel, in welchem mein alter Meister meinem Vater auf dessen Anfrage hin mitteilte, daß meine musikalische Begabung sowohl wie mein technisches Können zu den allergrößten Hoffnungen berechtigte und daß er nur ein bedauernswertes Unrecht darin sehen könne, wenn meinem Talent die volle Entfaltung im Künstlerberuf versagt bliebe? Es war nur noch ein letzter Stoß, und vielleicht der härteste von allen. Warum mein Vater, nachdem ihm der Betrug gelungen war, nicht wenigstens die Barmherzigkeit gehabt hat, den Brief zu vernichten, das habe ich nie enträtseln können. Mag sein, er hat den Brief als eine erledigte Angelegenheit einfach vergessen; mag sein auch, es saß in irgend einem Winkel seines Herzens doch ein klein wenig Stolz auf das, was aus mir hätte werden können.

Das alles hat mich zerbrochen. Nicht den ganzen Menschen, aber das beste Teil: die freudige Zuversicht, die an das eigne Leben glaubt. Ich bin in meiner Jugend zu unglücklich gewesen, das heilt sich nicht mehr aus. Mein Leben hier im Eck, wie du es gekannt hast, Marlise, und wie es bis heute ist, war die selbstgewählte Einsamkeit des Verletzten, dem jede Berührung weh tut. Meine Stille war Schwäche, – die deine, Kind Marlise, ist Kraft und Wärme, wie das Sonnenlicht sie hat.

Es wurde alles besser –, nein, es wurde ganz gut und hell und wunderhaft schön, seitdem du bei mir warst! Meine Marlise, – dies eine Mal nenne ich dich so und fühle es in tiefster Seele, du warst doch mein, und daß du es nicht werden konntest in jenem heißeren Sinne, wie ich es einmal wollte, war das nicht nur, weil wir einander allzu ähnlich geworden sind? Laß es versunken sein mit meinem Leben, mein Liebling, daß ich dich so gewollt habe! Es war ein Irrtum, ein kranker Wahn, es war, – so begreife ich es heute, – der Anfang meines Sterbens. Man sagt, der Mensch, der dem Tode entgegengeht, verändre sein Wesen auf geheimnisvolle Art. So mag es mit mir gewesen sein: im Anschauen deiner beseligenden Jugend wollte ich hinausgreifen über das mir Zugeteilte, noch einmal mich hinauswerfen über meines Geschickes Rand. Du trugst in deinem jungen Blute die Warnung, daß ich unrecht tat. Verzeih es mir, wie auch ich es mir heute verzeihen darf, wo ich sehe: es war nur die Erscheinung meines nahen Todes.

Nun habe ich dir alles gesagt. In deine Hände lege ich mein Leben mit meiner Geige. Und ich will: du sollst sie nicht im Schranke liegen lassen wie in einem Sarge, sollst nicht meinen, es sei deine fromme Pflicht, daß du ihr weiterhin das Singen verbietest. Ich habe es nicht fertig gebracht, sie wegzugeben, du kannst es und sollst es. Ich will, daß sie wieder in eines guten Künstlers Hand komme, am liebsten in eine junge Hand. Und kann es sein, daß du sie dem Manne mit Freuden gibst, so ist es umso besser.

Lebwohl, Marlise, mein geliebtes Kind Marlise. Von sehr weit her spreche ich diese Worte zu dir. Ich füge nicht hinzu ›werde glücklich‹, denn dir wird das Glück nicht von außen kommen. Ein paarmal, während ich an diesem Briefe schrieb, war es mir, als sähe ich, wohin dein Herz schaut. Wenn es so ist, mir wäre es lieb gewesen. Ich glaube, er ist treu und feinen Herzens; er wird ein Empfinden haben für den Reichtum in dir.

Ich bin müde, und es will dunkel werden. Gute Nacht, mein Kind Marlise.

Joseph Stauffer.«

 

Das letzte Blatt sank raschelnd in Marlises Schoß. Sie neigte Haupt und Hände darüber wie über eine unermeßliche Kostbarkeit. Und sie brach in ein stürmisches, erlösendes Weinen aus, wie sie seit Onkel Josephs Tode noch nicht hatte weinen können.


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