Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13

Frühlingstage voll verschleierter, sanft atmender Lauheit der Luft, Tage, in denen die Sonne sich behutsam hinter lichtem Gewölk hielt und alles Wachsen nur wie verstohlen vor sich ging, solche Tage halfen dem heimgekehrten Kinde des Ecks sich in die alte, geliebte Stille zurückzufinden. Marlise ging umher wie zwischen lauter zerbrechlichen Dingen, Seele und Sinne weit geöffnet, um das Glück des Wiederdaseins nur ja mit jedem Atemzug und Herzschlag deutlich einzusaugen. Zuweilen mußte sie stehen bleiben und in die Stille hineinhorchen, ob sie nicht zu klingen beginne wie früher, und vielleicht war ihr Gehör noch stumpf vom Lärm des Draußen, denn es kostete jedesmal ein wenig Mühe, bis sie das altvertraute, schwebende Singen erfaßte, wie früher, wie immer –

Ja, – ja! Es war alles wie immer! Es galt nur noch, die seltsam eingeschlossene, kühldumpfe Luft aus den Zimmern des Ecks hinauszujagen, den Rest des alten Winters, und sobald die Sonne schien, konnte Marlise nicht Fenster genug öffnen. Sie lief stundenlang durch den erwachenden Wald, über die Wiesen und Hügelhänge, füllte sich Haar und Kleid mit Frühlingswind und dem Duft der lebendigen Erde, sie brachte Arme voll knospender Zweige, Anemonen und Primeln heim und verteilte sie durch alle Zimmer. Und sie war glücklich, wenn die Mutter ihr über den blumengeschmückten Tisch hinweg dankbar zulächelte: »Mein Herzenskind, nun ist es wieder schön bei uns –«

Marlise hatte die Mutter in durchaus befriedigendem Zustand wiedergefunden, frischer und ausgeruhter als im Herbst, als habe die Zeit der noch größeren Einsamkeit ihr nur wohlgetan. Nicht so gut stand es um Onkel Joseph. Marlise fand, daß sein Haar grauer geworden sei, auch hörte sie jetzt, was niemand ihr nach der Stadt berichtet hatte, daß er kurz nach Weihnachten krank gewesen war, an einem heftigen Fieberanfall, mit dem der Beurenbacher Arzt nichts Rechtes anzufangen wußte. Er selbst wollte der Sache keinerlei Gewicht beilegen, erklärte auch den Husten, der ihn häufig des Nachts peinigte, für belanglos und lachte, als Marlise einmal von Schonung und Pflege sprechen wollte. »Dummes Zeug!« meinte er fröhlich, »nun geht das Jahr aufwärts, und alles wird von selber gut.« Man mußte ihm wohl glauben, denn er ging mit straffem Schritt und klaren, tief leuchtenden Augen durch die Tage, war heiter und aufgeschlossen auf eine fast verschwenderische Art und legte auch gegen die Tätigkeit in den Werken keinerlei Abneigung an den Tag, so daß Marlise zu dem Schluß kam, Beate und der alte Niemeyer müßten damals wohl allzu schwarz gesehen haben.

Beate, – ja, auch sie war noch da und war wie früher. Gleich beim ersten Wiedersehen war beschlossen worden, daß Marlise nun wieder singen solle, ungestörter und fleißiger als im vorigen Jahr, und der Vorsatz wurde zur beiderseitigen Freude ernsthaft durchgeführt. Aber nach dem Lernen und Üben kam das kleine, harte Plaudersofa jedesmal ausführlich zu seinem Recht. Nur hier, unter Beates gütigen, gelassenen Augen, neben ihrer klugen und geduldigen Aufmerksamkeit, konnte Marlise ihr von Erlebnissen volles Herz ausschütten, hier konnte sie sprechen über alles, was ihr monatelang brennend nah und wichtig gewesen war und was noch täglich ihre sorgenden und verlangenden Gedanken bewegte. Im Eck war es anders damit; oft genug verschluckte Marlise den Satz, der mit »bei uns in der Stadt« anfing, weil sich kein williger Hörer dafür gefunden hätte. Frau Stauffer war teilnahmslos für alles, was außerhalb ihres Kreises stand, und vor Onkel Joseph mochte Marlise den nicht durchweg erfreulichen Kleinkram ihrer Erlebnisse und Erfahrungen im Hause Klotz ungern ausbreiten. Überhaupt schien es wie eine stillschweigende Übereinkunft in der Luft des Ecks zu liegen, daß man Marlises Ausflug in die andere Welt kaum noch erwähnte, wie man einen glücklich beseitigten Mißgriff nicht mehr für beachtenswert hält.

Es war etwas Bequemes, Ausruhsames in dieser Auffassung, – aber Marlise freute sich doch jedesmal ungeduldig auf die Stunde, wo sie rückhaltslos die Begebnisse des Winters hervorholen durfte, die unter der Decke des Schweigens und der verstrichenen Zeit mit seltsam neuen Gesichtern wieder ans Licht traten.

»Jetzt erst komme ich zum Nachdenken,« sagte Marlise und hielt Beates Hand, »und nun begreife ich vieles, – o so vieles! Beate, wie hatten Sie recht, als Sie einmal von dem Unbeirrbaren in uns sprachen, von diesem dunklen und starken Gefühl, das aus uns heraustritt, wir wissen nicht wann noch wie, und uns zwingt zu handeln, wir wissen nicht warum! Jetzt ist mir, als hätte ich alles nur unter diesem Zwange getan: daß ich überhaupt mitging und all die unfrohe, enge Alltäglichkeit dort auf mich nahm, daß ich Adelina einmal gestreichelt und einmal durchgebeutelt habe, daß ich Tante Franze nie in die Quere gekommen bin und daß ich – Stephan doch ein klein wenig habe helfen können. Sehen Sie, Beate: ich hatte dort nie Zeit zum Überlegen. Ganz blindlings bin ich auf alles zugetappt, wie mir gerade ums Herz war, oft bin ich sehr ängstlich gewesen und hätte manches wohl gescheiter machen sollen. Aber jetzt, wo alles vorbei ist, glaube ich doch: ich hab' getan, was ich konnte, und hab' auf meine blinde Art vielleicht mehr als einmal das Rechte getroffen! Denn das hab' ich gespürt, besonders am letzten Tage, daß sie mich nun lieb haben, alle –«

Etwas wie ein Tränenschleier lag über den blauen Augen, und Frau Beate nahm Marlisen sacht in den Arm. »Kind, ich bin glücklich für Sie, daß es so ausgegangen ist. Ich wußte es wohl; aber daß Sie es ganz empfinden, wie reich Sie heimkehren: reich an Liebe, die Ihnen gegeben wird, und jener wertvolleren, die Sie selber geben, – das ist das Beste. Wir wachsen immer; aber ohne Liebe zu wachsen, das ist wie ein Baum, der nicht blühen könnte.«

Marlise schwieg. Ein kleines, zaghaftes Lächeln war um ihre Wangen.

»Und nun –?« fragte Beate leise.

»Nun –? Was meinen Sie, Beate? Nun, – ich weiß nicht; ich bin ja zu Hause und brauche fürs erste nicht weiter zu denken. Nur den Frühling und die schöne, schöne Stille will ich genießen und glücklich sein, daß das Eck auf seinem alten Platz steht und Onkel Joseph gesund und zufrieden ist, und – und ja, mich auf den Sommer freuen, wenn Klotzens herkommen! Denn das haben wir schon ausgemacht: Stephan und Adelina sollen alles daransetzen, daß sie zu gleicher Zeit Urlaub erhalten, dann kommt Tante Franze auch mit, und ich habe sie alle drei hier und kann es ihnen so hübsch und traulich machen!«

»Sehen Sie, daß Sie sich mit dem Heute nicht mehr begnügen mögen?« lächelte Beate.

Marlise sah sie in leichter Betroffenheit an, – dann lächelte auch sie. »Mag sein, ja! Aber ich muß nun heim. Onkel Joseph ist gewiß schon zu Hause. Oh, nun haben wir wieder die lieben, unversehrt schönen Abende miteinander, wie früher, und doch ist mir, als seien sie früher so schön nicht gewesen! Onkel Joseph, – warum haben Sie mir seinetwegen solche Angst gemacht, Beate? Ich meine, ich hätte ihn nie so frisch gesehen.«

Beate schwieg einen Augenblick. Dann streichelte sie freundlich Marlises Haar. »Um so besser, Kind. Nehmen Sie an, ich hätte ein wenig übertrieben, aus Sorge, Sie möchten allzu lange fortbleiben! Und das wußte ich schon damals: daß Ihre Heimkehr das beste Mittel sei, um das Eck wieder in die Sonne zu rücken.«

Das Eck lag in der Sonne. Eine klargoldene, überschwenglich leuchtende Frühlingslichtflut badete seine Mauern, aus dem Garten winkten die rosigweißen Schleierwolken der blühenden Bäume, die Matte war davor ausgebreitet wie ein Teppich mit ihren tausend hellen Blumen. Das Eck rief und lockte: »Komm! Komm!«

Marlise ging hinein. Auch zwischen den Wänden hing das goldwarme Licht, gedämpft und sanft verhalten. Und als sie die Tür ihres Zimmers öffnete, lag der stille, lichte Raum mit weißumhangenen Fenstern und vielen Frühlingsblumensträußen in solch heimlicher Freudigkeit vor ihr, als solle man in ihm die Erfüllung aller liebsten Wünsche abwarten.

Auf dem Tisch lag ein Brief, er war von Adelina, Marlise öffnete ihn begierig. Da war es wieder, das Vergangene, mit all seinen vertrauten Worten und Namen!

Adelina schrieb nicht fröhlich. »Ich denke immer an dich, Maria, du liebe, und wie schön es war, als du bei uns warst! Jetzt bin ich ganz allein, ›er‹ ist auch fort, für immer und mir ist kläglicher zumute, als ich vorher geglaubt hätte. Es ist zum Heulen langweilig, wenn man nichts mehr hat, um sich darauf zu freuen –«

Marlise überflog die Seiten. Am Schlusse hieß es: »Mama grüßt dich. Seit du fort bist, singt sie dein Lob in allen Tonarten. Sie ist jetzt mehr zu Hause, aber ich glaube, sie langweilt sich auch –« Von Stephan nichts; kein Gruß, »kein Wort; gar nichts.

Marlise starrte in ihr lichtes Zimmer hinein, ohne etwas zu sehen. Sie war weit fort, – aber die Ferne war dunkel und verschlossen und wollte ihre fragende Seele nicht einlassen. Das machte so verzagt, – und wie Heimholung und Bergung der verflogenen Seele war es, als plötzlich Klavierspiel durch das Haus klang. Das war Onkel Joseph; er spielte den Klavierpart der Beethovensonate Opus 24.

Adelinas Brief war vergessen, Marlise saß an ihrem Fensterplatz, untätig, die Blicke im Grün der Hügelweiten verloren, und lauschte. Sie befand sich hier gerade über dem Musiksaal und hörte jeden Ton aufs deutlichste. Wie seltsam das klang, das da unten! Trotzdem Marlise die Sonate genug kannte, um sich die abwesende Geigenstimme hinzuzudenken, blieb der Eindruck von etwas Halbfertigem, Lückenhaftem schmerzhaft in ihr bestehen. Es war eine unruhvolle, sehnsüchtige Leere um diese Begleitharmonien, denen das singende Hauptthema fehlte, eine Verlassenheit und arme Schmucklosigkeit in der Melodie, wenn das Klavier sie übernahm, ohne daß die perlenden Lieblichkeiten der Geigenfiguren hinzutraten. Onkel Joseph mußte das wohl nicht so empfinden; er spielte die ganze Sonate durch, und die wunderselige Gesangsmelodie des letzten Satzes blühte in hellster Schönheit auf, ging durch hundert Wandlungen des klingenden Gedankens und steigerte sich zu einer Innigkeit, die selbst der einsam suchenden Stimme eine eigentümliche Vollendung gab.

»In welche vergessene Tiefen der Notenschränke bist du hinabgestiegen, Onkel?« fragte Marlise beim Abendessen.

Er lächelte fast verlegen. »Ja, – kurios, nicht wahr? Ich habe die Geigenliteratur in letzter Zeit wieder ein bißchen durchstöbert. Es sind so viel Herrlichkeiten darunter, – man sollte das nicht ganz in Vergessenheit geraten lassen –«

»Beinah als müsse er sich entschuldigen, vor mir!« dachte Marlise in einer kleinen, zarten Rührung. Sie nickte ihm herzlich zu, und als sie später ins Musikzimmer hinübergingen, machte sie sich sofort an die Notenbücher, die auf der Flügelplatte verstreut lagen und deren leicht vergilbte und zerknitterte Blätter verrieten, daß sie irgendwann viel gebraucht worden waren. Ja, da war alles: Geigensonaten von Beethoven, Mozart, Brahms, Grieg, Strauß, Duos für zwei Geigen von Händel, Bachs Ciaconna.

»Eine ganze alte Zeit liegt da begraben,« sagte Onkel Joseph, der Marlisen über die Schulter sah, mit undeutlich bedrängter Stimme.

Sie hielt im Blättern inne. »Warum begraben, Onkel? So viel Schönes kann niemals tot sein!«

Joseph Stauffer sah sie an; der Widerschein einer leidenschaftlichen Bewegtheit ging über sein Gesicht. »Ja, Marlise,« sagte er langsam, »es gibt Wundergeschichten, in denen Tote auferweckt werden –« Dann zog er sie sacht vom Flügel fort. »Komm, Liebling, laß die alten Scharteken! Setz' dich in deinen Stuhl. Mich dünkt, heut ist ein guter Abend, um Musik zu machen; aber nicht solche, von der wir erst den Staub der Jahrzehnte wegblasen müssen.«

Wenige Minuten später stieg die Appassionata auf dunkel gebreiteten Flügeln empor.

Marlise saß in ihrer Lieblingsstellung des Lauschens, den Kopf in den aufgestützten Arm gebettet. Wie von großen, tief und gewaltig rauschenden Fluten fühlte sie sich gewiegt, sie verlor sich widerstandslos in ihnen, es tat wohl, sein kleines Ich in dieser übermächtigen Schönheit aufzulösen ohne Frage und Zweifel. Sie hörte zu, ohne eigentlich der Musik zu folgen, und als die Appassionata zu Ende gegangen war und Onkel Joseph nach einer Pause, in der niemand sprach, das zärtlich schwärmerische Andante in F-Dur anstimmte, glitten ihre Gedanken auf anderen, fernen Bahnen hinweg. Adelina, – armes, kleines, heißes Herz; nun lernte sie wohl fühlen, wie ein Kummer tut, und niemand half ihr ein wenig! Und – Stephan; man hörte nichts von ihm. – Sinnloses Leben, das so traulich nahe Begegnungen schuf, und dann wieder war alles wie ausgelöscht –

In wundervoll gelassener Klarheit, einfältig und süß, legte sich das Andante zur Ruhe. Eine zitternde Stille war im Zimmer: »Wo bist du, Marlise?« fragte Onkel Joseph zart.

Sie fuhr auf, wie verloren – und sah in sein warm belebtes Gesicht, das sich zu ihr neigte, sie fühlte seine gute, leise Hand auf ihrem Haar. Es war eine tiefe, wohlige Heimatlichkeit in diesem Antlitz und in dieser Berührung, – »bei dir!« antwortete sie einfach.

Ein gleichsam erschreckter, heiß fragender Blick brach aus Joseph Stauffers Augen. Er atmete hörbar auf, – dann ließ er sich auf der Seitenlehne von Marlises' Sessel nieder, so daß sie seine Stimme halb hinter sich, halb über ihrem Haupte vernahm.

»Ja, Marlise, du bist bei mir, ich habe dich und muß dich immer wieder ansehen, um es ganz zu glauben. Dieser Winter, – er war sehr böse, du weißt nicht wie sehr! Du hast oft von unserer Stille hier gesprochen, und wie schön sie sei, – ich aber habe erst diesen Winter durchmachen müssen, um ganz zu begreifen, daß die Stille nur schön war, weil dein Wesen in ihr schwang wie eine glückselige Morgenglocke! Ohne dich, – nein, es ging nicht, Marlise. Ich war erbittert und verzagt in einem Maße, daß, – ach, ich will nicht davon sprechen, es war eine elende Feigheit, Feigheit und Furcht, du möchtest nicht wiederkommen –«

»Ich – nicht wiederkommen?« rief Marlise in einer fremden Erschütterung, »Onkel, warum sagst du das? Das hast du doch nicht glauben können, – ich – und das Eck, und du, – Onkel, wer hätte mich zurückhalten sollen?«

»Konnte ich es wissen, Marlise? Ich ahnte ja nichts von allem, was dort hinten mit dir vorging. Du fingst erst an zu leben, eigentlich zum erstenmal, – konnte ich wissen, ob du dich nicht ganz von mir fortleben würdest? Jugend ist so erstaunlich wandelbar –«

Sie bewegte sich ungeduldig. »Sprich nicht so – so von oben herab, Onkel Joseph, so als wärst du uralt!«

»Ich habe graues Haar, Kind Marlise. Den Jahren nach könnte ich dein Vater sein –«

»Aber du bist es nicht, bist nie etwas dergleichen für mich gewesen, das haben wir irgendwann einmal klargestellt, hier im Zimmer, ich entsinne mich –«

»Ich auch, Marlise. Es war Frühling wie heute – und doch anders, ganz anders. Du glaubst also, du meine süße Jugend, daß wir uns über die Kluft unserer Jahre hinweg auf gleichem Boden zusammenfinden könnten?« Er hielt inne, denn er sah am Erzittern ihrer Schultern, daß ihr ein Begreifen kam. Leise nahm er ihre Hand in die seine. »Erschrickst du, Liebling? Ja, ich weiß, daß dich der Gedanke überraschen muß, du warst ja so völlig unversehrt in deiner freibeschwingten Ahnungslosigkeit! Aber es kann ja kein ungutes Erschrecken sein, – weißt du es nicht, Marlise, daß wir uns immer verstanden haben, auf so sichere und mühelose Weise, wie nur zwei Menschen einander verstehen können? Soll ich dich daran erinnern, daß mein und dein Leben schon lange, lange im gleichen Klange schwingt, im schönen, reinen Klänge unserer tief verwandten Wesensart? Und ist es ein sehr vermessener Wunsch, wenn ich unser Zusammengehören noch fester, noch inniger gestalten möchte, untrennbar für dies Leben? Es fehlt nur wenig daran, – gar nichts auf meiner Seite, denn ich – weiß mir kein Leben mehr außer dir. Du aber, kleine, traumweiße Seele, wartest vielleicht nur auf die weckende Hand, und es erscheint mir nicht völlig unglaublich, daß ich – das Wunder vollbringen könnte –« Er brach ab, heiser vor innerer Bewegung, sah einen Augenblick in unendlicher Zärtlichkeit auf ihren gesenkten Scheitel und fuhr dann ruhiger fort: »Dies hat viel Zeit, Liebling; ich weiß, daß es nur sehr leise kommen könnte. Laß es fürs erste meine Sorge und – Sehnsucht bleiben! Du bist bei mir, ja, – aber – willst du bei mir bleiben, wie ich es möchte? Marlise, willst du meine Frau werden?«

Sehr langsam, wie mit gebundenen Gliedern, wandte sie sich nach ihm um, jedoch ohne die Augen bis zu den seinen zu erheben, und er sah ihr Gesicht so blaß und verstört, gleichsam aufgelöst in Hilflosigkeit, daß er nur noch ein unaussprechliches Mitleid empfand. Schnell stand er auf, befreite sie schonend von seiner allzu traulichen Nähe. »Lassen wir es für heute, Marlise! Ich will keine Antwort von dir, die aus deiner ersten Verwirrung herausgerissen ist. Du sollst ruhig werden und überlegen, – nein, überlegen nicht, das ist nicht nach deiner Art, du sollst mir antworten, wie dein Herz es dir eingibt, wenn es eben aus dem Schlaf erwacht, unbeeinflußt und unverzagt! Und noch eins, mein geliebtes Kind: du sollst nicht denken, du habest irgend eine Pflicht der Dankbarkeit an mir zu erfüllen. Ich habe nichts für dich getan, was nicht mir zum lieblichsten Segen geworden wäre. Du hast mich glücklich gemacht, nicht ich dich, – damit möchte ich jetzt erst recht beginnen, wenn du es willst! Und wenn du nicht, – wenn es Nein sein muß, dann, – ich bitte dich, daß du dich auch davor nicht fürchtest!«

Er sprach mit so gelassener Innigkeit, daß sie die Augen voll zu ihm aufschlagen konnte, und die edel beherrschte Erregung in seinen Zügen griff ihr heiß ans Herz. Vielleicht ahnte er, was sie empfand, er fuhr leise fort: »Es hat vieles in mir brach liegen müssen, Stärkstes und Kostbarstes, unter dem Druck trüber und feindlicher Fügungen. Aber seit du heimgekommen bist, Marlise, ist mir zuweilen gewesen, als hätte ich trotz meiner dreiundvierzig Jahre noch eine ganze Jugend nachzuholen, die ich aufgespart habe, – für dich? Das wäre die wunderbarste aller Fügungen,« – er stockte, schüttelte den Kopf, als wolle er sich das Weiterdenken verbieten. »Genug, Liebling. Bleib sitzen und sag' nichts! Heute nicht. Ich werde Geduld haben, – das wenigstens habe ich ja vom Leben lernen müssen. Bis morgen, Marlise.«

Damit ging er. Hinter der sacht zufallenden Tür blieb eine solche Stille zurück, daß ein ferner, klagender Vogelruf von draußen hereindrang und das schwache, seltsam dürre Rauschen der noch unbelaubten Wipfel. Marlise hatte die Hände krampfhaft gefaltet, sah ins Leere und regte sich nicht. –

Am nächsten Morgen, als sie herunterkam, lag ein Zettel von Onkel Josephs Hand auf ihrem Frühstücksplatz: »Liebes Kind, ich werde soeben in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit telephonisch nach auswärts gerufen und komme erst spät abends zurück. Leb' wohl indessen!«

Marlise atmete auf. O er war so klug und zartfühlend, er fand immer das Richtige, wie diese unglaubhafte Geschäftsreise, die ihr und ihm Zeit gewinnen und den langen Tag leichter erträglich machen sollte. Aber wie qualvoll lang der Tag auch schien, so lief doch jede einzige seiner Stunden fürchterlich eilfertig hinter der anderen drein, und sie zerrannen wie Sand, diese Stunden, die man doch so nötig brauchte zum Überlegen und Denken, Denken und Überlegen! Am Spätnachmittag, als Marlise zur Gesangstunde ins Spital ging, fühlte sie ihr Hirn todmüde, schwer und schwimmend wie geschmolzenes Blei. Es war eine Erlösung, die Aufmerksamkeit für eine Weile auf etwas Außenliegendes lenken zu müssen, die eigene Not hinter der Wichtigkeit von Solfeggien und Tonstudien, Atemführung und Stimmansatz zurückzudrängen.

Die hellen, reinen Klangfolgen stiegen, schwebten und fielen wie Taubenschwärme, sie perlten wie gläserne Kugeln, die man spielend hin und her rollt –

»Sind Sie abgespannt, Marlise?« fragte Beate vom Klavier aufblickend, »Sie sehen blaß aus –«

»Ich habe schlecht geschlafen letzte Nacht,« antwortete Marlise der Wahrheit gemäß. Sie nahm sich zusammen und sang weiter, die Solfeggien wurden erledigt, Beate stellte den Schubert aufs Pult.

»Also, lassen Sie hören, wie es heute geht! Tapfer! Ruhig atmen, breiten Ton geben und keine Angst vor dem Portamento!«

Die einleitenden Takte, in Harmonie und Rhythmus dunkel schaukelnd wie ein Wiegenlied, zogen vorüber, dann warf sich Marlise in den Wohllaut der eigenen Stimme wie in ein Bad des Vergessens.

»Du bist die Ruh, der Friede mild,
Die Sehnsucht du, und was sie stillt.
Ich weihe dir voll Lust und Schmerz
Zur Wohnung hier mein Aug' und Herz.«

In lichter, schwebender Klangspannung wurde das Portamento überwunden, aber eine zitternde Trübung war in der Stimme, als der zweite Vers einsetzte:

»Kehr' ein bei mir und schließe du
Still hinter dir die Pforten zu.
Treib andern Schmerz aus dieser Brust,
Voll sei dies Herz von deiner Lust –«

Das Portamento brach mit einem schluchzenden Mißlaut entzwei, Marlise wandte sich weg, um ihr Gesicht zu verbergen, ihre Schultern zuckten. »Verzeihen Sie,« sagte sie nach einer Weile tonlos, »ich kann heute nicht, dies nicht –«

Beate führte sie leise vom Klavier fort. »Kind, was ist Ihnen geschehen? Mögen Sie es mir sagen? Sonst, – Sie wissen, daß ich Ihnen auch Ihr Schweigen lasse, wenn es Ihnen besser tut.«

Aber Marlise weinte plötzlich; große, eilige, brennend heiße Tränen, die auf ihre Hände herabtropften und ihre Brust mit wehem Schluchzen erschütterten. Und sie weinte noch, als sie anfing zu sprechen, kaum verständlich. »O Beate, wenn Sie wüßten! Aber ich will es Ihnen sagen, alles, – ich werde ja damit nicht fertig, ich allein! Beate, was soll ich tun? Onkel Joseph, – er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will, und ich – ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll!«

Beate saß ganz still, in ihren Augen war ein trauriges Erschrecken. Dann nahm sie Marlisen sacht in ihren Arm. »Liebes Kind! – und darüber müssen Sie so weinen?«

Marlise nickte und schluckte an ihren Tränen. »Ich weiß nicht, – ich weiß ja nicht –«

»Ja, das ist schwer und schmerzlich! Aber – nehmen Sie einmal Ihren Mut zusammen, Kind: daß Sie nicht wissen, was Sie antworten sollen, – ist das nicht schon eine Antwort?«

Marlise sah auf, so betroffen, daß ihr Weinen versiegte. Aber dann bog sie sich schaudernd zusammen. »Nein –« hauchte sie, »Gott! Onkel Joseph –!«

Beates Hand glitt besänftigend über ihr Haar, leicht und gleichmäßig. »Arme Marlise! Ich habe dies kommen sehen, seitdem Ihr Onkel mich im Winter aufsuchte, hier im Spital, überraschend und ohne Vorwand, nur aus dem offenbaren Verlangen heraus, mit einem Menschen, der Sie lieb hat, von Ihnen zu sprechen. Damals freute ich mich, ihm den kleinen Dienst zu erweisen, aber nun, – Marlise, warum sind Sie so fassungslos? Ist es das Ja, was Ihnen so schwer fällt, oder das Nein?«

»Wenn ich das nur unterscheiden könnte! Wenn ich nur erst wußte, was ich möchte und will! Ich habe gegrübelt und gegrübelt, die ganze Nacht und den ganzen Tag, aber in mir ist alles durcheinandergeworfen und zerbrochen! Ich weiß es doch ganz genau, daß kein Mensch auf der Welt mir so nahe steht wie Onkel Joseph, daß ich nie und nirgends so zufrieden, so glücklich gewesen bin wie bei ihm im Eck, und daß ich mir hundertmal nichts gewünscht habe, als daß alles so bleiben möchte, zwischen mir und ihm und in unserm schönen, stillen Leben! Und er hätte mich auch nicht daran zu erinnern brauchen, gestern abend, daß wir uns immer so gut verstanden haben, das weiß ich doch, weiß es ja so gut, und wie lieb und treu und fürsorglich er immer zu mir gewesen ist, all die langen Jahre, und nun diese letzten Wochen, wo er so fröhlich und herzlich war! Ach, es könnte ja so schön sein, und ich –, ja, ich gäbe wer weiß was darum, wenn ich ihn glücklich machen könnte? Und doch – und doch –, warum kann ich mich nicht entschließen? Warum bin ich so furchtbar ratlos und verzweifelt? Warum –, oh, Beate, – warum kann ich nicht seine Frau werden?«

Es blieb eine Weile sehr still, Marlise hielt ihr Gesicht tief in den Händen verborgen. Endlich sagte Beate leise: »Weil Sie fühlen, daß dies alles – doch nicht Liebe ist; und weil Sie eine große, große Angst davor haben, sich ohne Liebe zu verschenken.«

»Ich weiß nicht –« flüsterte Marlise.

»Doch, Marlise; Sie wissen, – und Sie haben recht, in Ihrem Gefühl und in Ihrer Angst, wenn Sie auch noch nicht klar erkennen, was Liebe ist, – nicht die Liebe, die wir ahnungslos und freigebig einem uns wesensnahen Mitmenschen geben, sondern die andere, die einmalige und schwer bedeutsame Liebe, die so unberechenbar und eigenwillig ist, so dunkel und voll fremder Wunder. Es ist ein Irrtum, sie von Vernunft und Achtung abhängig zu machen und zu glauben, sie könne oder dürfe nur da entstehen, wo zwei Menschen aus den gleichen Kreisen der Erziehung und Lebensauffassung herkommen, – es ist auch ein Irrtum, und ein schmerzlich verhängnisvoller, wenn man meint, Liebe müsse da sein, wo geistiges Verstehen ist, gemeinsame Freude am Schönen und der gleiche gute Wille zu Freundlichkeit und Rücksicht. Ach nein, Liebe ist so schwer zu bestechen, und das alles bleibt klein und wertlos vor ihrem Willen, der oft nicht einmal danach fragt, ob der geliebte Mensch uns wesensähnlich ist oder ein Fremder, Weithergekommener, zu dem wir uns erst mit Mühe hinsuchen müssen. Eine Kluft mag liegen zwischen uns und ihm, breit wie ein Meer und ohne Brücke, und es zwingt uns doch hinüber, wir können nicht anders als den Sprung wagen, um bei ihm zu sein, ihm zu helfen, ihm Freude und Zuflucht und Heimat zu werden! Wir fragen auch nicht mehr, ob gerade dieser der Rechte für uns sei, der uns zweifellos glücklich machen werde, denn es geht ja gar nicht mehr um unser Glück, es geht um unsere Liebe! Wir wollen nichts als ihn, den Andern, mit unserem Sein erfüllen, ihn reich machen mit uns selbst, wir mögen uns selber nicht mehr gehören, und in uns ist eine stete, heimlich brennende Sehnsucht, uns dem geliebten Andern nahe zu bringen, nicht nur mit Gedanken und Worten, sondern mit jeder Zärtlichkeit unsrer Hände und Lippen –« Beates Augen schauten blicklos nach innen, es war schon längst, als spräche sie nur zu sich selbst. Sie brach ab, weil ihre Lippen zitterten.

»Ja –!« flüsterte Marlise plötzlich in ihre Hände hinein, »ja –«. Es war wie ein Stammeln aus dem Traum heraus, ungelenk und sinnlos. Dann richtete sie sich langsam auf. Der Schimmer eines unbewußten, staunenden Lächelns lag auf ihrem Gesicht.

»Ich muß nun nach Hause,« sagte sie fast scheu.

Beate küßte sie zum Abschied. Sie sagte nichts mehr; aber sie stand am Fenster und blickte Marlisen nach, wie sie mit ihrem stillen, sicheren Schritt über den Spitalhof davonging, ohne sich noch einmal umzusehen. »Als habe sie ihren Weg gefunden,« dachte Beate Michaeli.

Aber Marlise war nicht nach Hause gegangen. Als sie die Beurenbacher Gassen hinter sich hatte, schlug sie die Straße nach Berglingen ein, trotzdem die Sonne im Untergehen war. Sie ging sehr schnell, ohne nach rechts oder links zu blicken, bis zu der hochgelegenen Bank, von der aus man in das Stromtal hinübersah. Jetzt lag es in weiter, fremder Ferne, von blaufahler Dämmerung erfüllt, und darüber verbrannte ein schweres Abendgewölk mit rauchenden, rotglimmenden Säumen.

Marlise schaute lange hinaus; ihre Augen waren dunkel ihre Lippen hart geschlossen. Sie fror in der schneidenden Kühle, die über die Wiesenhügel fegte, daß es sie schüttelte. Es war finster, als sie endlich heimkam.

Dann galt es noch Stunden hinzubringen. Marlise saß bei der Mutter im Zimmer, an der Mutter Bett, und war nur froh, daß sie nicht sprechen mußte; Frau Cilli Stauffer lag still in den Kissen, mit ihrem blonden, zarten Kopf fast wie ein Mädchen, ihre verschleierten Augen sahen in Träume vergangenen Glücks, während neben ihr ein heißes, junges Herz von Frühlingsnot durchstürmt wurde. Und als ihre Atemzüge tief und sanft und regelmäßig gingen, blickte Marlise auf die Mutter nieder, wie man auf ein ahnungslos schlummerndes Kind blickt.

Von der Beurenbacher Kirche hatte es elf geschlagen, als Onkel Joseph kam. Marlise hörte seinen Schritt auf dem Wiesenweg, leise stieg sie ins Wohnzimmer hinunter und setzte sich zur Lampe, aber es dauerte noch lange, bis er zu ihr eintrat. Er sah sehr blaß aus, begrüßte sie jedoch mit einem Lächeln und machte ihr die ersten Minuten leicht, indem er sich Tee und Zwieback von ihr bringen ließ und einiges von seiner Fahrt erzählte.

Dann aber mußte es kommen; und Marlise fühlte ihre Hände kalt werden, als er sich am Schreibtisch, wo er saß, ein wenig vorbeugte, um sie unter dem Lampenschirm hinweg anzusehen. »Mir ist dieser Tag sehr lang geworden,« sagte er, »und ich denke, wir machen ein Ende – oder: einen Anfang? Welches von beiden soll es sein, Marlise?«

Sie glaubte vor Herzklopfen nicht antworten zu können und wußte nicht ein Wort mehr von den hunderten, die sie sich im Lauf des Abends mühselig zurechtgelegt hatte. »Onkel –« brachte sie endlich hervor und kam nicht weiter. –

Aber es war auch genug. Joseph Stauffer hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und bog den Kopf weit in den Nacken, damit sie sein Gesicht nicht sehen könne. Es wäre freilich nicht nötig gewesen, denn ihre Augen waren blind von jäh aufschießenden Tränen. Sie hörte nur, nach einer langen Weile, daß er aufstand und hörte seine Stimme, leise wie aus weiter Ferne: »Laß, Marlise. Ich weiß. Dies eine Wort –; du hättest sonst einen andern Namen für mich gefunden.«

Langsam kam sein Schritt zu ihr, er stand neben ihr, hoch und steil. »Weinst du, Kind Marlise? Nein, das sollst du nicht, du sollst keinen Kummer davon haben, du nicht! Und um mich – laß, Kind! Es war eine Verwegenheit, nur ich habe die Schuld daran –«

»Onkel!« schluchzte Marlise auf, »wenn ich könnte –! Aber – du weißt nicht, – es ist –« Sie hätte seine Hand nehmen mögen, seine sanfte, gütige Hand, die ihr immer Halt gewesen war, aber sie wagte es nicht, glaubte es nie wieder wagen zu können.

»Willst du dich entschuldigen, daß ich – ein Tor war?« fragte er mühsam. »Nein, Marlise, quäle du dich nicht. Es ist genug, daß ich dich einen Tag lang gequält habe. Und nun – darf ich dich wohl bitten, daß du mich allein läßt? Verzeih, – es ist besser, wir sprechen nicht weiter. Geh, Liebling –«

Das Wort brach heiser ab. Joseph Stauffer trat tief ins Zimmer zurück, wo es fast dunkel war. Dort wartete er, bis die Tür sich geschlossen hatte.


 << zurück weiter >>