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7

Der schöne Tag war gewesen wie eine Blume, die man in den Fluß geworfen hat: jetzt siehst du sie noch, hell und bunt auf den dunklen Wellen treibend, und nun ist sie schon versunken. Was danach kam, war grau, trübe und einförmig, aber wie das ziehende Wasser hatte es seine verborgene Bewegung und Unrast, und Marlise fühlte sich unbehaglich davon umgetrieben. Nicht Adelinas Launen und Tante Franzes stets gleichbleibende Redensarten waren es, die ihre Tage schwer machten, nicht Onkel Josephs verstimmte und verschlossene Haltung und Stephans Benehmen, das wieder ganz zur alten, nichtssagenden Förmlichkeit zurückgekehrt war. Aber daß sie sich über diese Unerfreulichkeiten nicht mehr hinwegsetzen konnte mit dem Gedanken: es dauert nicht mehr lange, und dann ist alles wie früher – das war es, was sich ihr so seltsam dunkel in das Licht jeden neuen Morgens stellte.

Denn sie wußte, es konnte nie wieder werden wie früher. Ein Stein war hart hineingeschleudert worden in die schimmernde Wand des Glasberges. Und obgleich Marlise recht wohl begriff, daß Stephan ihr eine geheime Abbitte hatte leisten wollen, indem er sich an jenem Nachmittag ihr anschloß und sich für ein paar Stunden ritterlich und vorbehaltlos umgänglich zeigte – sein feindseliger Ausbruch war dennoch nicht ungeschehen zu machen. Alle die Worte, die er damals gesprochen, hatten sich unvertreibbar in Marlises Seele eingenistet, in mancher lautlosen Nachtstunde schlug sie sich verzweifelt mit ihnen herum wie mit einer Schar wilder, böser Vögel, und selbst wenn der helle Tag, das unaufschiebbare Tun und die Gesellschaft anderer Menschen sie ablenkten, schwang und summte ein peinvoller Widerhall unaufhörlich in ihr fort.

Und sie fühlte sich sehr verlassen in dieser Anfechtung, der schwersten, die sie bisher erlebt hatte. Früher – ja, da war Onkel Joseph gewesen, dem man alles hatte sagen können, und jede Unsicherheit und mühevolle Grübelei, jeder hitzige Widerstreit der eigenen Empfindungen schien immer schon halb geschlichtet, indem man sie vor dem aufmerksam und gütig Zuhörenden auskramte. Aber dies hier? – Nein, es war unmöglich, es wäre rücksichtslos und schamlos gewesen, Onkel Joseph mit diesen Dingen zu behelligen, die doch auch ihn nur allzu nah betrafen. Marlise empfand sehr deutlich, daß Stephans Feindschaft sich in womöglich noch schärferem Maße gegen Onkel Joseph richtete als gegen sie, denn er hatte die Welt geschaffen, die nun auf einmal so verdammenswert schlecht sein sollte.

Schlecht – die Welt des Ecks! Hätte man wenigstens darüber lachen können; hätte man den Angriff mit einem kräftigen Ärger und den Angreifer mit einem achselzuckenden »dummer Junge« abtun können. Aber man konnte es nicht. Der Wahrheitsfunke, der in Stephans Gehässigkeit verborgen lag, glühte sehr deutlich, ein nicht einzuschläferndes, heißes und helles Auge, und zuweilen fühlte Marlise eine dumpfe Angst, es könne aus diesem einen Funken ein Brand entstehen, der eine ganze Welt verzehrte.

Wenn das Spital nicht gewesen wäre, das steile, braune Dach und die zerzauste Tannengruppe, die immer wie ein dunkler, sicherer Weiser aus dem von Sommersonnenglast blendend erfüllten Tal heraufwinkte! Marlise saß auf dem harten Sofachen in Frau Beates Zimmer, lehnte ihre Wange gegen deren kühle Hand und sagte mit geschlossenen Augen: »Wie Mutter doch recht geahnt hat, damals, als ich Sie kennen lernte! Frau Beate, wie kommt es, daß man Ihnen so vieles sagen kann und daß man sich hinterher nie schämt, über sich selbst geschwatzt zu haben?«

Frau Beate sah mit großen, stillen Augen vor sich hin. »Ist es nicht etwas Gutes, der Stein am Wege zu sein, auf dem müde Leute ihre Last für einen Augenblick absetzen mögen? Es ist mir oft geschehen, daß Menschen – zuweilen waren sie mir fast fremd – mich für solch einen Stein ansahen. Ich bin dann immer froh gewesen; warum sie es aber taten, gerade bei mir, das weiß ich nicht.«

»Ich weiß es,« dachte Marlise in plötzlicher, dankbarer Hellsichtigkeit, »weil du nie von dir selber sprichst! Und doch meint man immer, du müßtest alles ebenso erlebt haben und alles begreifen –« Sie streichelte Beates Hand und seufzte gequält. »Sie sind so ruhig, Frau Beate! Ich war's ja bisher auch, aber daß ich's war und so sorglos umherlief in der sicheren Überzeugung, es sei alles gut wie es war und es könne mir gar nichts geschehen, das kommt mir jetzt so unbegreiflich leichtsinnig vor. Mir ist als müsse irgend etwas in mir und mit mir anders werden, und doch weiß ich nicht, wie! Wenn es wahr ist, daß ich lieblos bin und selbstsüchtig und ungütig – was soll ich – was kann ich tun, um mich zu ändern? Liebe, Selbstlosigkeit, Güte – müssen gerade sie nicht ungewollt und unbeeinflußt aus unserem Wesen aufsteigen? Und wenn man sie von sich erzwingen könnte, durch Willenskraft und Vernunft und gute Vorsätze, wäre dann nicht das Beste an ihnen dahin? Kann man gut sein wollen? Kann man – lieben wollen? Oh, das ist alles so kalt und nüchtern und erklügelt, und ich glaube gar nichts davon!«

»Ich auch nicht,« sagte Beate Michaeli leise. »Man kann nicht lieben wollen – man kann nur lieben müssen. Und wenn wir dies nicht hätten, diese Unbeirrbarkeit unseres innersten Gefühls, wovon sonst sollten wir uns leiten lassen? Wir müssen nur den Mut dazu haben und das Vertrauen darauf, – Sie auch, Marlise! Warum wehren Sie sich so verzweifelt gegen diesen ersten Stoß, der Ihr Erdreich erschüttert?«

»Ich kann nicht anders! Eben diese Erschütterung ist mir unerträglich; ich komme mir so erbärmlich vor, daß ich mir meine ganze Seelenruhe in Stücke hauen ließ!«

»Warum? Ist Seelenruhe denn so kostbar – ist Ruhe überhaupt so wichtig? Ich meine nicht – Unruhe ist uns wichtiger und nötiger! Denn Unruhe ist inneres Erleben, ist Kampf, Arbeit an uns selbst, ist Entwicklung. Unruhe der Seele zeitigt alles Wertvolle, Sie sollten sich nicht so sträuben, Marlise! Ist's denn nicht gut, sich einmal so recht durchrütteln und umtreiben zu lassen vom stürmischen Wind des Lebens und unsere kluge, wohlgeordnete Gelassenheit darüber zu vergessen? Nur aus solchem Vergessen kann dann die neue Unbefangenheit entstehen, die wir brauchen, wenn ein Entschluß, eine Tat von uns gefordert wird.«

Marlises Wangen hatten sich heiß gerötet – aber nun preßte sie beide Hände in die Augen. »O Frau Beate! – Gerade davor fürchte ich mich! Ich bin so unsicher geworden. Jetzt schon, wenn ich zu Tante Franziska freundlich bin oder Adelina gut zurede, frage ich mich oft, ob ich es nicht nur tue, weil ich es mir vorgenommen habe und weil Stephan nicht Recht behalten soll! Wenn es aber so wäre, was ist dann meine Freundlichkeit und Güte wert? Und wenn wirklich ein schwerwiegender Entschluß, eine Tat der selbstlosen Liebe vor mir läge – würde ich sie erkennen? Würde ich nicht wieder zaudern und grübeln und mich qualvoll fragen, ob es das rechte ist?«

»Nein, Marlise, nein! Wie denken Sie auf einmal so gering von sich selbst! Kind, vertrauen Sie doch auf den hellen Ruf Ihres Herzens, der nicht stumm bleiben kann zu seiner Zeit! Die heißen, stillen Seelen, die nichts leicht nehmen können und mit allen Dingen immer in die Tiefe gehen – und so ist Ihre Seele, Marlise! – die werden aus ihrem gläsernen Berge nur ausgetrieben durch jenen hellen Ruf, der das Unbeirrbare, das innere Müssen ist.«

»Meinen Sie?« fragte Marlise zweifelnd zurück.

»Ich weiß es, Kind! Sehen Sie, auch ich habe meinen Glasberg gehabt – er sah anders aus als der Ihre und war doch ebenso fest verschlossen und unangreifbar. Ich habe auch heraus gemußt; und das – ist Glück und Erfüllung meines Lebens geworden.«

»Oh!« sagte Marlise ganz leise, und ihre Augen hingen sich fragend und bittend an Beates Gesicht, in dem ein seltsames Leuchten war.

»Mir war meine Kunst der gläserne Berg, in den ich all meine Hoffnungen und Wünsche, meine Willens- und Lebenskraft hineintrug. Es war kein Wunder so. Ich stammte aus kleinen Verhältnissen, war früh verwaist, arm wie eine Kirchenmaus, nichts besaß ich als meine Stimme – diese Stimme, der überall eine große Zukunft geweissagt wurde. Durch die Studienjahre habe ich mich hindurchgehungert; aber dann fing es an bergauf zu gehen. Ich gab meine ersten Konzerte, bekam gute Kritiken und zahlungsfähige Schüler, mein Name erregte schon Aufmerksamkeit im Musikleben der Hauptstadt. Da lernte ich Georg Michaeli kennen – es war, wie man so sagt, meine erste Liebe und Liebe auf den ersten Blick. Bis dahin hatte ich an Gefühlssachen, Herzenserlebnisse nicht einen einzigen Gedanken verschwendet, – denn so wäre es mir vorgekommen: wie eine Verschwendung kostbarer Kraft und Zeit. Ich wollte singen, dem glühenden Künstlertum in mir leben, wollte berühmt werden, sonst nichts. Nun, da ich den tiefen, bezaubernden Eindruck spürte, den ein anderer Mensch auf uns ausüben kann, war mein erstes Empfinden fast ein Zorn, Zorn auf die Hemmung, die mein Schicksal – mein Herz mir in den Weg warf. Aber es hatte mich zu schnell und zu heiß ergriffen, und zugleich mußte ich bemerken, daß es ihm ebenso erging, – ernsthaft wehren konnte ich mich nun nicht mehr. Wollte es auch nicht mehr. Ich war nur noch glücklich, als Georg mir – sehr bald – von seiner Liebe sprach, glücklich, daß ich ihm antworten konnte: ›ich liebe dich‹. Wir träumen ja alle davon und sehnen uns danach, ob offen oder verborgen: von einer ganz großen, herzausfüllenden Liebe, – daß ich sie erlebte, das machte mich stolz auf eine rauschhafte, taumelig erschütterte Weise. So stand es um mein Herz; mein Kopf aber blieb dabei kühl, eigenwillig und hart.«

»Ich wußte es vorher, und Georg bestätigte es mir rückhaltslos: daß einer Heirat zwischen uns hundert Schwierigkeiten im Wege standen. Er stammte aus alter, hochgestellter Familie, lebte unter Menschen von strengsten Grundsätzen, deren eisige Vornehmheit Ansprüche stellte. Seine Laufbahn – er stand im diplomatischen Dienst – war keineswegs danach angelegt, daß er in jungen Jahren ein mittelloses Mädchen von einfacher Herkunft zur Frau nehmen konnte. Er war entschlossen, alle diese Bedenken zu überwinden, er wollte den Beruf wechseln, seiner Welt den Rücken kehren, seine Angehörigen durch Ausdauer und liebevolle Mühe gewinnen, es mußte werden, es sollte werden! Nur in einem Punkt sollte ich ihm und den Seinen entgegenkommen: ich sollte meinen Künstlerberuf aufgeben. Künstlerin – es hing daran eine leise Verächtlichkeit, nicht in seinen Augen aber in den Augen seiner Welt.«

»Ich war zuerst starr vor Staunen; dann lachte ich; lachte ihn herzhaft und zärtlich aus, daß er den Gedanken überhaupt hatte fassen können. Ich war ihm nicht böse; ich wußte ja, er konnte nicht begreifen, was mir mein Beruf – meine Stimme, meine Kunst, alle meine Hoffnungen, Pläne, Ziele bedeuteten. Das begriff völlig nur ich selbst. Ich liebte ihn sehr. Aber ihm das alles – mein Alles opfern? Nein. Und ich sah auch nicht ein, warum. Wir waren jung, hatten ein ganzes Leben vor uns. ›Laß uns warten,‹ sagte ich, ›laß mich berühmt werden – ich werde es, ganz bestimmt! In drei, vier Jahren kann ich ein Stern sein, vor dessen Glanz selbst deine hochvornehme Sippschaft sich beugt. Dann verderbe ich dir auch nicht mehr die Karriere, im Gegenteil, es hebt dich womöglich in den Augen der Welt, daß du die gefeierte Sängerin zur Frau hast! Und bis dahin – das Warten kann so schwer nicht sein, wenn wir uns lieben und wissen, daß wir einander gehören.‹ So fest und stolz und glänzend hatte ich ihn mir aufgebaut, meinen gläsernen Berg, daß selbst meine Liebe mir nichts dagegen galt. Nur ein Stückchen von ihr wollte ich mit hineinnehmen, es drinnen in einem Winkel niederlegen und in müßigen Stunden damit spielen, wie man sich an Blumen und gefangenen Vögeln erfreut; mehr nicht.«

»Georg kämpfte mit mir, versuchte alles, um mich umzustimmen. Wir hatten lange, leidenschaftliche Aussprachen. Zuweilen litt ich sehr unter dem Gefühl, seine heißesten Wünsche nicht erfüllen zu können, nicht täglich und stündlich bei ihm sein zu dürfen, aber das andere blieb dennoch stärker. Und war es nun, daß das erhöhte Gefühlsleben auch meine Kunst beeinflußte – ich hatte nie so singen können wie jetzt, nie mit so inbrünstiger Beseelung des Tons, mit so erschöpfender Durchdringung des musikalischen und dichterischen Gehaltes meiner Lieder. In mehreren Konzerten hatte ich glänzende Erfolge, Georg war jedesmal dabei und küßte mich danach hingerissen und verzweifelt: ›Nein, nein, du kannst es nicht aufgeben, ich sehe es ja ein – wie könntest du –‹«

Das dauerte fast ein Jahr. Und im Grunde war es schrecklich. Dazu kam, daß Georgs Berufung ins Ausland nahe bevorstand, also eine Trennung auf lange Zeit, und ich fing an mich zu fragen, wie ich sie würde ertragen können. Da, während ich auf einer Konzertreise war, erkrankte Georg an einer Grippe, die sich auf die Lunge warf. Als ich heimkam, wurde ich zu ihm geholt, in sein Elternhaus, das ich bis dahin nie betreten hatte: daraus ersah ich mit Entsetzen, wie ernst es stand.«

»Nun durfte ich täglich an seinem Bett sitzen. Nun duldete man mich dort, mit eisiger Herablassung, aber man duldete mich doch! Und der Arzt sagte mir unbarmherzig deutlich die Wahrheit: ›Davos oder Arosa, so bald wie möglich, vielleicht bringt er's dort noch auf sechs, acht Monate –‹«

»Marlise, es war furchtbar. In mir waren nur noch diese zwei Vorstellungen lebendig, wie ein zweitöniges Schellengeläut, unaufhörlich, unerbittlich, zum Rasendwerden: daß ich ihn verlieren sollte und daß ich ihn, uns beide, betrogen hatte um ein ganzes Jahr des Zusammenseins, Zusammengehörens! Wo war nun das andere, das mir bisher Halt und Stolz und Rechtfertigung gewesen war? Zertrümmert lag es hinter mir, ich dachte mit keinem Gedanken mehr daran. Ich dachte nur immer, wie es möglich zu machen sei, daß ich bei ihm bliebe, für die letzte, kurze Zeit noch. Und so tief gedemütigt war ich, so schuldbewußt vor seiner Liebe, die so viel mutiger gewesen war als meine, daß ich kaum wagte – an dem Tage, als der Arzt ihn für reisefähig erklärt hatte –, daß ich kaum wagte ihn zu bitten: ›Nimm mich mit –‹ Aber er war gar nicht überrascht. Er drückte meine Hand und sagte: ›Ja, Beate, selbstverständlich. Es kann doch gar nicht anders sein. Und dies wenigstens mögen sie mir gönnen –‹«

»Sie gönnten es uns. Einem Todkranken wird ja jeder Wunsch erfüllt; und sie waren vielleicht auch froh, daß sich eine zuverlässige Pflegerin für ihn fand. Denn sie selber waren natürlich unabkömmlich, wie solche Menschen es ja immer sind, die mit allen Fasern in ihr dürres, hochachtbares Erdreich eingewurzelt leben.«

»In aller Stille wurden wir getraut und reisten; nach Arosa; unter aller nur erdenklichen Vorsicht, Bequemlichkeit, Schonung für Georg; und doch fürchtete ich immer, er werde nicht lebend hinkommen. Aber endlich waren wir doch da. Und da – ja, Marlise, da geschah das Wunder. Georg erholte sich; so weit wie ein Mensch mit schwer beschädigter Lunge sich erholen kann. Er hat es nicht auf sechs, acht Monate, wie der Arzt daheim voraussagte, sondern auf vier Jahre noch gebracht, und diese Jahre waren fast schmerzlos. Bis auf vorübergehende, kurze Zeiten der Schwäche durfte er sich für gesund halten.«

»Es war ja eine Verbannung, in der wir lebten; denn Georg hätte die dünne Luft des Hochgebirges nicht verlassen dürfen. Aber gerade das war unsäglich schön, unsäglich wertvoll für uns beide, die wir nun nichts mehr hatten als eins das andere. Die Welt und alles, was wir früher von ihr gewollt, erhofft, erstrebt hatten, war versunken, es gab nur noch sein Herz und das meine und das inbrünstige Verlangen, das andere Herz so mit Liebe und reinem Glück zu erfüllen, daß es nichts mehr fürchten konnte. Es ist in diesen vier Jahren nicht ein Tag gewesen, an dem ich nicht deutlich gewußt hätte: es kann der letzte sein. Und je länger es anhielt, dies Wissen, umso weniger machte es mich unglücklich, sondern heiter und still. Denn jeder Tag war so schön, so leuchtend angefüllt mit Frieden, Freude, innerem Zueinanderwachsen und seligem Sichfinden, daß jeder der letzte hätte sein dürfen, und ich hätte nicht zu klagen gewagt.«

»Im Hause eines Arztes hatten wir unser abgeschlossenes kleines Heim, in dem ich hausmütterlich walten konnte. Wir lasen viel zusammen, und Georg hatte sich während der langen Ruhestunden im Freien einer regen geistigen Verarbeitung seiner früheren Welt- und Berufserfahrungen zugewandt, ich schrieb feine Ausführungen nieder, und er hatte Freude daran, daß sie in Deutschland veröffentlicht und gewürdigt wurden. Wir lebten still, aber nicht einsam; es gibt an diesen Ruheorten der kranken Lungen ja Menschen aller Länder und Arten, die alle viel Zeit haben, und so hatten wir Freunde, gute Bekannte mindestens, die uns manche angeregte, heitere Stunde brachten.«

»Und dann, wie viele Abende sind gewesen – die kostbarsten von allen –, wenn ich in unserem traulichen Wohnzimmer am Flügel saß und sang. Meine Stimme hatte nichts eingebüßt, nicht das geringste. Und Georgs Lieblingslieder waren nun alle auch die meinen geworden. Ich wußte nichts mehr von meinem früheren Ehrgeiz, ich sang nur für ihn.«

»Er starb am vierten Jahrestag unserer Ankunft in Arosa; fast ohne daß eine merkbare Verschlimmerung seines Zustands vorausgegangen war. Ein Blutsturz – das war das Ende. Einer seiner Brüder kam und holte die Leiche nach Deutschland, sie ist in der Familiengruft irgendwo im märkischen Sande beigesetzt worden. Ich bin nicht dabei gewesen, kenne sein Grab nicht und überlasse es neidlos den Menschen, die ihn dort als den Ihrigen betrachten. Ich habe auch nichts von dem behalten, was sein äußerliches Eigentum war, sein Vermögen nicht, auch nicht den Adelstitel, den er trug. Ich bin zurückgekommen, wie ich zu ihm ging: arm und frei. Was ich empfangen habe an unverlierbarem Reichtum des Erlebens, das liegt in mir; dort, wo er auch seine wahre Ruhestätte hat; wo er – lebt, heute noch, wunderbar lebendig. Und das ist fast mehr, als ein Mensch an verborgenen Schätzen fassen kann.«

Lange blieb es still. Dann flüsterte Marlise und wagte nicht aufzusehen: »Wie Sie das Leben noch ertragen können, Beate, nach diesem allen – allein –«

Beate seufzte auf. Sie strich sich über die Stirn, die so klar und gelassen war. »Ich kann es, Marlise. Ich kann es sogar – ziemlich gut Sehen Sie: mein Haar ist grau geworden, ganz schnell, seitdem Georg tot ist, aber ich bin doch am Leben, bin gesund und sehe noch ein langes Wegstück vor mir. Ich habe immer das deutliche Gefühl gehabt, daß mein Glück etwas Unverdientes – etwas im Grunde Unglaubliches war; daß es etwas war, wie nur ganz, ganz wenige Menschen es je erleben. Und wenn einem solch ein Gnadengeschenk zufällt, darf man da jammern und verzweifeln, weil es nicht von längerer Dauer war? Wenn es so ist, daß uns Menschenkindern das Lebensglück zugemessen und ausgeteilt wird, dem einen in winzigen Brocken dann und wann, dem anderen in gleichmäßig rieselndem, bescheidenen Rinnsal, so hab' ich das meine in zusammengeballter, vor Kostbarkeit glühender Substanz empfangen in diesen vier Jahren. Mein Teil hab' ich dahin – und mit dem leeren Rest muß ich mich einrichten und zufrieden sein. Bin's auch und möcht' es nicht anders.«

»Aber – wie nun weiter –?« fragte Marlise scheu.

»Weiter? Das ist sehr einfach. Hier bin ich nur für ein Weilchen eingekehrt, um Atem zu schöpfen und mich wieder an die Wirklichkeit zu gewöhnen. Später aber – wann, das weiß ich noch nicht – kehre ich in meine erste Welt zurück, und ich habe keine Angst, daß sie mir wieder zum Glasberg werden könnte. Ich will wieder singen – was sollte ich auch sonst tun? Ums Berühmtwerden ist es mir nicht mehr, nur meinen Lebensunterhalt will ich verdienen und mit meiner Kunst Freude schaffen; und hie und da in eine junge Seele den Funken legen, der Kunst und Freude weiterträgt. Das könnte meine Zeit noch befriedigend ausfüllen – darum, liebe Marlise, war es mir wie eine Verheißung und ein Geschenk, als Sie mir dort im Walde so ehrlich begeistert entgegensprangen und mich baten, von mir lernen zu dürfen! Und wenn ich Ihnen noch mehr geben kann als nur meine Kunst, so wissen Sie heute, wie unendlich viel mir das bedeuten muß.«

Sie nahm Marlises Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihre Stirn – und Marlise fühlte eine heiße Ergriffenheit unter der Berührung dieser Lippen, die so wissend – so glück- und leidgesegnet waren.

Ein heißer Abend lag über dem Tal, rotgoldner, flimmernder Dunst um die sinkende Sonne und eine schwere Stille der Luft, die das Atmen mühsam machte. Marlise schlug den Heimweg ein, aber nicht wie sonst durch die Beurenbacher Straßen, sie bog vor der Bahnlinie in die Wiesen ab und umging in weitem Bogen das Tal, am Waldsaum entlang, wo es still war und nur unermüdlicher Grillengesang in ihre Gedanken hineintönte.

Sie ging wie im Traum, tief erregt von dem Frauenschicksal, das sich vor ihr ausgebreitet hatte. Daß es so etwas gab – nicht in Büchern, in romantisch verklärender Ferne, sondern nah und wirklich, im gestrigen Leben eines Menschen, der schlicht und still neben ihr einhergeschritten war und dem sie sich voll harmloser Traulichkeit angeschlossen hatte! Beate war ihr auf eigentümliche Art entfremdet, war ihr staunenswert und leise einschüchternd geworden, es mischte sich etwas hinein wie sehnsüchtiger Neid, aber auch eine erhöhte, bedingungslose Zuneigung. Man hatte sich stets so geborgen gefühlt in Beates Nähe; nun aber – ja, nun wußte man es ganz deutlich: sie würde alles verstehen können, später, wenn erst das kam –

– wenn was kam?

Was war es denn, dies Ungreifbare, das man inmitten der allgemeinen großen Spannung auf das Leben als das Eigentliche empfand? »Wir träumen alle von einer herzausfüllenden Liebe –,« hatte Beate gesagt, – träumte sie, Marlise, davon?

Sie blieb stehen; an einen einsamen Lindenstamm gelehnt, blickte sie über das vom Abendschein erfüllte Tal und sah drüben vor dem Waldberg das Eck wie eine rosige Perle schimmern. Dies war ihre Welt – hatte sie Raum für eine große Liebe, für ein Gefühl, wie Beate es erlebt hatte? Es schien so unmöglich. Und plötzlich empfand Marlise ein rätselhaftes, heißes und maßloses Verlangen nach einer Ferne, die höher, weiter und unruhvoller war als dies Tal und das Eck – sie seufzte auf, schüttelte den Kopf über sich und umklammerte in unwillkürlicher Bewegung den heimatlichen Lindenstamm, der sich mit hundert jungen, wilden Schößlingen an sie drängte.

Dann ging sie heim, müde, mit verschwommenem Denken.

Als sie ins Haus trat, war es schon von tiefer Dämmerung erfüllt. Sie blieb in der Diele stehen und lauschte, in einer jähen, zitternd empfindlichen Hellhörigkeit: das Erdgeschoß, Speisezimmer, Onkel Josephs Zimmer und der Musiksaal lagen finster, lautlos, wie erstorben; von oben aber, aus dem Treppenschacht, fiel ein greller Lichtstrahl, und die Stimmen der Familie Klotz klangen herab, in lautem und lebhaftem Gespräch, das keinen Augenblick abriß.

Marlise hatte mit einem Male einen würgenden Knäuel im Halse, Wut oder Schluchzen, sie wußte es nicht. Die ganze, krasse Veränderung, die während der letzten Wochen mit dem Eck vor sich gegangen war, fiel ihr mit unbarmherziger Deutlichkeit aufs Herz. Wie eine Muschel war das Haus, aus der einem immer das friedsame, zaubervolle Meeresrauschen entgegentönte, und nun klirrt und zetert das wirre Geschwätz der Gassen darin.

Da klang über ihr ein leichter, tanzender Schritt. »Maria, bist du da?« rief Adelina von der Treppe herab.

Marlise riß sich widerwillig aus ihrer Dunkelheit los, mit schweren Knieen stieg sie die Stufen hinauf.

Oben stand Adelina im hellen Licht, im weißen, losen Kleid, im Schimmer ihres goldigen Schopfes, im Funkeln ihrer erregten Augen. »Maria! weißt du es schon? Stephan hat eine Stellung in einer großen, schönen, lustigen Stadt, wir fahren hin, bald! O Gott sei Dank, nun fängt doch wieder ein anderes Leben an, nun kann man wieder etwas erwarten, sich auf etwas freuen, auf lauter entzückende, ungewisse Dinge!«

Marlise sagte nichts. Das Längsterwartete überraschte sie nun doch in beinahe schreckhafter Weise, und erst viel später fiel es ihr ein, daß sie eigentlich hätte erleichtert aufatmen sollen, weil nun die Stille wiederkommen konnte und das schöne Gleichmaß der Tage. Aber jetzt dachte sie mit keinem Gedanken daran. Sie sah auf das junge, glühende Geschöpf, sah die ungezügelte Lebensgier in Adelinas Augen, in jedem Glied ihres freudegespannten Körpers, und eine brennende Sorge stieg in ihr empor: »Herrgott, was wird aus ihr –? Was alles kann ihr geschehen, dort hinten in der Welt, wenn niemand über sie wacht –«

»Ich freue mich!« jubelte Adelina und wirbelte sich auf der Fußspitze herum. Die wirren, weichen Haarsträhnen flogen wie zarte Flämmchen um ihr lachendes Gesicht.


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