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11

Auch dies Weihnachtsfest ist vorübergegangen, trotzdem Marlise zuweilen meinte, man werde es nie überstehen. Nichts hat es geholfen, daß ein wunderschöner, kleiner Tannenbaum aus dem Beurenbacher Walde im Wohnzimmer stand, daß Fräulein Sophies berühmte Lebküchlein und Pfeffernüsse in Fülle vorhanden waren, und man am Heiligen Abend nach einer eilfertig hergerichteten Bescherung bei Lichtergeflimmer und Weihnachtsduft beisammensaß, – denn Tante Franze hat schließlich doch auf die Festfeier im Hause Steffensen mit deckenhohen, elektrisch beleuchteten Bäumen, Sekt und Kaviar und »Stille Nacht« aus dem erstklassigen Grammophon verzichtet. Aber Tante Franze hat es wohl überhaupt verlernt, deutsche Weihnachten zu feiern, und ob Stephan und Adelina es besser verstehen, muß dahingestellt bleiben, da die frostige Mißvergnügtheit, die seit Adelinas Abenteuer im Familienkreise herrscht, eine rechte Weihnachtsstimmung nicht aufkommen läßt. Der erste Feiertag ist nicht besser; und als gegen Abend Tante Franze doch zu Steffensens abgewandert ist, Adelina sich mit dem Pfefferkuchenteller und einem Schmöker ins Schlafzimmer verkrochen hat und Stephan und Marlise allein und todschweigsam bei der Lampe sitzen, Stephan über ein Buch, Marlise über ihr Schreibzeug gebeugt, – da tropfen ein paar ganz heimliche Tränen auf den Brief an Beate Michaeli herab.

Aber Frau Beates stille Anteilnahme muß auch aus der Ferne Wunder wirken können. Denn als der Brief fertig ist, erklärt Marlise urplötzlich und sehr vernehmlich, mit einer Wendung nach der Schlafzimmertür, sie ihrerseits mache morgen eine Waldwanderung in die Umgegend, und wer etwa mitwolle, möge es gleich sagen, da sie jetzt die mitzunehmenden Butterbrote zurechtzumachen gedenke.

Es gibt einen kleinen Aufstand und ein großes Durcheinanderreden, und der Abend geht sehr geschäftig hin über Fahrplan und Wanderkarte und Proviantrüstung und Kleider- und Schuhzeugfragen, die besonders Adelina bewegen. Aber am nächsten Morgen ist doch alles rechtzeitig aus den Federn, und der Tag, so lang er ist bis zur frühen Dunkelheit, erfüllt alle drei mit Fröhlichkeit wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk.

Es sind nicht die rauschenden Wälder von Beurenbach, nicht die sanften, reichen Hügel und die unermeßlich schimmernden Fernsichten. Aber der Wind weht ebenso beflügelnd über die braunen Felder, die sich hinter der Großstadt dehnen, und im freundlichen Waldgebiet, das sie durchwandern, spielt der Wintersonnenschein silbrig in den Fichten, die ein wenig Schnee weiß überstäubt hat. Wenig Menschen sind unterwegs, alles sitzt ja daheim in den Weihnachtsstuben; nur die Meisen zirpen im Gezweig, es duftet nach Wald, nach Frische und schöner Einsamkeit.

»Die Berglinger Straße war es nicht,« sagt Stephan, als sie im überfüllten Eisenbahnwagen heimfahren, »aber es war etwas dergleichen –,« und er lächelt Marlisen zu in freundlichem Einverständnis, das zwischen ihnen ist wie ein kleines, liebes Geheimnis. Man hat nur Belangloses gesprochen, den ganzen Tag, geschwatzt, gescherzt und einander zu dritt geneckt, auch Adelina hat sich von ihrer gutlaunigsten Seite gezeigt. Das hat alle mühsame Bedrücktheit gelöst, und alles Leben scheint leichter.

Tante Franze ist baß erstaunt, als ihre Heimkehrer begeistert verkünden: »Das machen wir öfter! Jeden Sonntag, wenn's nicht Bindfaden regnet!« Am Neujahrstag wird der Entschluß schon ausgeführt; da liegt reichlich Schnee, und Stephan hat, »als nachträgliches Weihnachtsgeschenk zum allgemeinen besten«, wie er sagt, einen Rodelschlitten gekauft. Der hilft der guten Laune noch kräftiger auf, und man kommt in wahrer Schulbubenausgelassenheit heim, heißgetollt und gänzlich zerlacht, mit unterschiedlichen Beulen und einem Hunger, der selbst Tante Franzes nicht ganz einwandfreiem Mittagessen noch alle Ehre antut.

Es gilt, sich für den kommenden Ernst des Lebens ein wenig schadlos zu halten, denn am nächsten Morgen tritt Adelina ihre Stellung an.

Sie hat es durchgesetzt, daß die verhaßte Handelsschule hinter ihr blieb, es ist gar nichts zu machen gewesen; und nur aus Bequemlichkeit hat sie sich Stephans Mitwirkung bei der Stellungssuche gefallen lassen. Was er für sie ausfindig gemacht hat, erregt glücklicherweise keinen Widerspruch bei ihr, ja, sie ist nach ganz kurzer Zeit schon aufs beste eingelebt an ihrer Arbeitsstätte, von der sie zehnmal am Tage mit großartiger Selbstverständlichkeit sagt: »Bei uns im Büro.«

Die hellen, großen Arbeitsräume, zweckmäßig eingerichtet und gut geheizt, die Vorgesetzten, welche die hübsche Anfängerin noch mit wohlwollender Nachsicht behandeln, zwei, drei andere junge Mädchen, mit denen zu schwatzen sich immer einmal Zeit findet, ein paar junge Leute, die dienstwillig schmachtend, scherzhaft galant oder einfach kameradschaftlich je nach Art und Temperament zum harmlosen Zeitvertreib dienen, – das ist die Umwelt, in der Adelina sich recht wohl fühlt. Die Rückenschmerzen, die das stundenlange Maschinenschreiben anfangs verursachte, überwindet ihr junger, gesunder Körper bald, und die geistige Bewältigung ihrer Arbeit fällt ihr nicht schwer; sie hat sogar Freude daran, ihre englischen, italienischen und spanischen Kenntnisse, helle Erinnerungen an Sao Paolo, zu verwerten. Bis auf das vermaledeite Frühaufstehen, – dessen Mühseligkeiten Marlise übrigens treulich teilt, indem sie weckt, anziehen und frisieren hilft, Frühstück bereitet, sorgt, erinnert und tröstet, – hat das Leben für Adelina jetzt ein freundlicheres Gesicht als vorher. Es ist unstreitig ein erhebendes Gefühl, am Wochenende »sein Gehalt« nach Hause zu tragen, man kann sich entzückend wichtig und unabhängig dabei vorkommen, und zu den ewigen wehleidigen Vergleichen mit »früher«, zu übellaunigem Herumfaulenzen und dem nörgelnden Kleinkrieg mit Mama, Stephan, Marlise fehlt jetzt einfach die Zeit.

»Im Grunde bewundere ich sie,« meint Stephan zu Marlise. »Sie schlägt sich wirklich sehr tapfer durch, und wenn von dieser Tapferkeit auch ein gut Teil Leichtsinn und Gedankenlosigkeit ist, so packt sie doch das Leben auf ihre Weise an und wird damit fertig. Schließlich hat sie ja auch ganz recht gehabt, daß sie sich mit diesem Mindestmaß von Vorbildung begnügte! Hinterher frage ich mich, was sie wohl begriffen hätte von Buchführung und kaufmännischem Rechnen, sie, die zum kleinen Einmaleins die Finger zu Hilfe nimmt und vom großen vollends keine Ahnung hat. Sie kann vieles später nachholen, wenn sie mehr zu Verstande kommt; fürs erste ist sie an guter Stelle untergebracht und – sorgt wenigstens zum Teil für sich selbst.«

Er seufzt ein wenig, indem er das sagt, und Marlise seufzt leise mit. Sie, vor der alle Schwierigkeiten des Hauses Klotz immer zuerst ausgebreitet werden, weiß nur zu gut, daß man trotz Tante Franzes amerikanischen Einnahmequellen, trotz Onkel Josephs reichlichem Zuschuß und Stephans Gehalt aus den Geldschwierigkeiten nie recht herauskommt. Der locker geführte Haushalt, in fremden Möbeln und immer noch halb aus dem Koffer lebend, kostet unheimlich viel, Adelina sowohl wie Tante Franze machen in bezug auf Kleidung und zwanzig andere kleine Annehmlichkeiten immer noch beträchtliche Ansprüche, und Marlise hat oft fast Gewissensbisse wegen des Fleisches, der Butter und Milch, die sie einkauft, während sie sich doch sagt, daß Adelina und Stephan, die angestrengt arbeiten, einer kräftigen Ernährung bedürfen. Und eines Tages ist Stephan zu ihr gekommen: »Marlise, ich könnte ein paar Vorlesungen der Technischen Hochschule belegen, Abendkurse über Maschinenbau, die mich riesig interessieren würden, – soll ich es tun? Ich kann dann aber nicht mehr soviel zum Haushalt abgeben –« Sie sieht den Wunsch in seinen Augen und redet lebhaft zu, – »ich werde sehr sparsam sein,« denkt sie, »und schlimmstenfalls hilft Onkel Joseph, wenn ich ihm schreibe!« Daß Stephan eine Freude und Anregung findet, ist wichtig, so wichtig. Marlise hat es längst heraus, daß die Tätigkeit im Bankhause ihn keineswegs befriedigt, der endlose Stumpfsinn der Zahlen, Zahlen und wieder Zahlen ihn je länger je mehr mit verzweifelter Mutlosigkeit erfüllt. Und sie ist durchaus nicht so entrüstet wie Tante Franze, als Stephan plötzlich wie etwas Nebensächliches erzählt, daß er seine Stellung gekündigt und bereits eine neue im Fabrikkontor einer Eisengießerei angenommen habe. Aus den prächtig ausgestatteten Bankräumen in ein Fabrikkontor, das ist in Tante Franzes Augen ein Rückschritt tadelnswerter Art, und es tröstet sie kaum, daß Stephans Verdienst sich an der verpönten Arbeitsstätte sofort erhöht.

Wie ist dies alles so befremdlich, so weltenweit verschieden vom Leben des Ecks, das so wohlgeordnet, geräuschlos und mühelos sich abwickelt! Arbeit und Geld sind dort immer in richtig abgewogenem Maße vorhanden, sichere Begriffe, an welche man nicht einen sorgenvollen Gedanken zu wenden braucht. Hier dagegen schwankt alles in ungewissem Licht und wechselnder Bewertung. Immer ist es, als hielte man mit mühsam ausgestreckten Armen das Haus Klotz im Gleichgewicht, und unabsehbar scheint die Zeit, bis man die Last sinken lassen und frei davonspringen darf, zurück in den grünen, kühlen Frieden der Heimat.

Zuweilen, an besonders grauen Tagen, glaubt Marlise rechtschaffen unglücklich zu sein und fragt sich, warum sie nicht auf und davon geht, morgen, heute, jetzt auf der Stelle! Aber sie gerät nie weit mit dem Ausspinnen dieses Gedankens, geschweige denn bis zu seiner Ausführung. Eine dringende Haushaltssorge kommt dazwischen, Tante Franze wünscht dies und jenes, Adelinas Nachhausekommen bringt einen Strom wichtigtuender Munterkeit herein; und schließlich ist da immer eine leise Spannung auf Stephans Verhalten, das Warten, ob heute oder morgen ein kleines Wort, ein warmer Blick auf und herüber fliegt, ein Hauch vom Wind der Berglinger Straße –

Dann ist unter allen Dingen eine verschwiegene Süßigkeit, die selbst die bittere Stunde durchtränkt wie im winterkahlen Baum der heimlich steigende Saft und alles erträglich macht in Hoffnung und leisem Glück ohne Namen. –

Adelina kommt aus dem Büro heim, ein Viertelstündchen später als Marlise sie erwartet hat, sie singt und trällert draußen im Vorsaal und tritt ins Zimmer wie das lachende Leben. Adelina ist in der letzten Zeit noch hübscher geworden, ein tieferer Glanz ist in ihren Augen und eine neue sanfte Weichheit um Mund und Wangen. Sie ist auch dauernd in friedfertiger Laune, achtlos lächelnd schüttelt sie vieles ab, was sonst Zornausbrüche und stundenlanges Schmollen hervorrief.

»Das Wetter, Maria! Der reine Frühling. Man wird so unheimlich vergnügt, um nichts und wieder nichts –«

»Ja, das ist schon so! Selbst die Stadtluft riecht heute ganz anders, ich habe über Mittag alle Fenster aufgerissen. Und ich freue mich wie toll auf Sonntag; Stephan meint ja, wir könnten nun die große Wanderung über Klingental und den Landsberg machen, die Wege würden fest genug sein.«

»Sonntag, – ach so –« Adelina hört nicht recht zu, sie sieht nach der Uhr. »Maria, essen wir heute recht pünktlich? Ich möchte nämlich nachher noch weggehen, in ein Konzert, Fräulein Moser hatte zwei Freikarten.«

»Konzert?« fragt Marlise verwundert zurück. Adelina ist sonst nicht so musikliebend.

»Ja; da sieh: Volkssinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters. Es wird die Peer Gynt-Suite gespielt, du sagtest doch einmal, die sei schön, und sonst gibt es noch ein Opernvorspiel, und ein Geiger spielt etwas. Ich hab' mich mit Fräulein Moser verabredet –«

Tante Franze, die hinzugekommen ist, gibt ihre Meinung ab. »Ja, Kind, da geh nur hin, das ist gewiß etwas Hübsches. Es wird ja nicht spät aus sein. Und – wie wär's, Maria, wenn du mitgingest? Du hast doch so viel Freude an guter Musik!«

Tante Franze hat hin und wieder Anwandlungen besonderer Aufmerksamkeit für Marlises Wünsche, als fiele es ihr ein, daß man alle Ursache habe, dem jungen Mädchen den Aufenthalt in der Stadt angenehm zu machen.

Aber Marlise, nach einem kurzen, betroffenen Zögern, lehnt ab. »Ich muß heute abend unbedingt nach Hause schreiben, Tante; und ich würde wohl keinen Platz mehr bekommen, diese Konzerte sind immer sehr besucht, – und ein bißchen müde bin ich auch –« Sie beeilt sich, gleich mehrere Gründe zu finden, die ihre Weigerung glaubhaft machen, in Wahrheit sind es nichts als Vorwände. Denn trotzdem Adelina bei Tante Franzes Vorschlag keine Miene verändert, hat Marlise das deutliche Gefühl, daß Adelina ihr Mitgehen nicht wünscht, daß es ihr irgendwie empfindlich in die Quere käme –

Was bedeutet das? Ist da schon wieder etwas im Wege, worüber man sich Sorgen machen muß? Marlise fühlt sich dumpf beunruhigt, aber sie nimmt sich zusammen, um ihr Mißtrauen nicht zu verraten.

Adelina ist gegangen, strahlend vergnügt und hübsch in dem dunkelblauen, gestickten Taftkleid, das ihr so ausgezeichnet steht. Der Abend geht hin, ungemütlich genug zwischen Tante Franze, die ihre Ausgabenbücher und Rechnungen nachprüft und durchaus nicht damit zustande kommt, und Stephan, der helfend eingreifen möchte und immer wieder abgewiesen wird. Marlises Brief an die Mutter fällt kurz und flüchtig aus. Als sie sich frühzeitig in ihr Schlafzimmer zurückzieht, denkt sie voll aufrichtigen Neides an Adelina, die sich wieder einmal leichtflügelig davongemacht hat. Ja, sie erlebt unterdessen allerlei Hübsches –

Marlise liegt schon im Dunkeln, als Adelina heimkommt und zu einem berichtenden Schwatz an Marlises Bettrand huscht. Sie ist warm, zitternd erregt von einer leidenschaftlichen Freude. »Maria, o es war schön! so schön! Weißt du, die »Morgenstimmung« und »Solveigs Lied«? Und dann – der Geiger hat so herrlich gespielt! Maria, wie kann einer nur solch wunderbares Singen aus dem dummen Holzkasten hervorzaubern!«

Wie hübsch, daß Adelina sich einmal für etwas Besseres begeistert als für Kleider und Hüte und Schaufenster und Kinostücke. Marlise freut sich von Herzen, sie will alles mögliche über das Konzert wissen, schwatzt und fragt ebenso unbefangen wie Adelina selbst.

»Nun also, Liebes, fein, daß es dir so gefallen hat! Und wie bist du heimgekommen? Mit Fräulein Moser zusammen?«

»Ja –; das heißt, – nein, ich hatte sie im Gedränge an der Kleiderablage verloren, wir haben uns nachher erst wiedergefunden, auf der Straße –«

Adelinas Handgelenk wird plötzlich von Marlises Fingern umgriffen, unentrinnbar fest. »Lina –? Jetzt lügst du ja! Herrgott, Mädel, was ist da wieder –?«

»Aber dummes Zeug! Was soll denn sein und warum soll ich lügen –?«

»Lina, Liebes!« Marlises Hände halten nur noch fester und wärmer. »Denk doch daran, was du mir versprochen hast, damals –«

Im blassen Lichtstreif, den eine Straßenlaterne durchs Fenster heraufschickt, sieht Marlise, wie Adelina den Kopf in den Nacken wirft, aber dabei ist ein helles Lächeln auf ihrem Gesicht. »Also gut, ja, ich lüge!« flüstert sie, durchaus nicht zerknirscht. »Ich kann es dir ebenso gut sagen, daß ich ohne Fräulein Moser nach Hause gegangen bin –«

»– allein?«

»Jawohl, allein, du gründliche Maria, du kannst es mir glauben. Oh, in mir hat noch alles gesungen und geklungen, ich hätte gar niemand neben mir haben mögen, der redete!«

Das versteht Marlise wohl; aber der Argwohn in ihr hört nicht auf zu pochen. »Lina, du hast mir versprochen –! Lina, da ist etwas! Da ist jemand –«

Adelina wirft sich jählings vornüber, mit ihrer heißen, weichen Wange an Marlises Wange. »Dir mag ich's schon sagen, Maria, du Goldene, Gute: ja, da ist jemand, – und er ist so hübsch und lieb und lustig, – und er kann so viel, ganz erstaunlich viel, – und ich glaube, er hat mich auch ein bißchen gern! Aber, – nein, mehr kann ich nicht sagen, – ach du, wie soll ich denn, es ist ja alles noch so leise, so undeutlich, so ganz im Werden –«

Ein Beben schüttelt Adelinas Schultern, aber es sind nicht ihre stets bereiten kindischen Tränen, die kommen wollen. Sie bleibt ganz still, und Marlise streichelt sie unaufhörlich in großer Zärtlichkeit. Wie sehr lieblich ist dies alles, beneidenswert schön ist es –

Da fährt Adelina in die Höhe. »Maria! Aber das sag' ich dir: wenn du mich diesmal wieder verklatscht, bei Mama und womöglich bei Stephan, dann – dann rede ich nie im Leben ein Wort mehr mit dir, Maria!«

Marlise umfaßt die Erregte. »Nein, Lina, nein! Gewiß nicht! Wie könnt' ich – dies –!« Sie ist fast so entrüstet wie Adelina bei dem Gedanken. Sie fühlt das zarte Geheimnis in ihrer Hand wie ein junges Vögelein, warm und lebendig, – wie wollte man andere Hände daran rühren lassen? Fast ist es, als verteidige sie ein eigenes kostbares Besitztum. –

Es wird auch zwischen ihnen nicht mehr darüber gesprochen, und das Leben geht weiter, als sei alles wie immer. Nur daß ihre Blicke sich mit verstohlenem Lächeln über dem Veilchenstrauß treffen, den Adelina eines Abends nach Hause bringt, nur daß Marlise voll Rücksicht ist für Adelinas wechselnde Stimmungen: ein paar Tage träumerische oder wehmütige Unruhe, dann wieder die helle, hoffnungsselige Freude, die unter jedem Wort, jedem Lachen mitklingt. Marlise weiß und versteht es, daß Sonne und Wolken an Adelinas Himmel von »ihm« abhängen und alle übrigen Dinge für sie an Reiz eingebüßt haben, selbst die Ausflüge am Sonntag.

»Magst du ihm nicht sagen, daß er einmal mit uns geht?« fragt sie eines Sonnabends Adelina, die soeben mit einem armsdicken Seufzer kundgetan hat, das Wandern und Naturschwärmen werde allmählich recht stumpfsinnig.

Marlise hat ihren Vorschlag liebevoll überlegt und findet ihn ganz leicht ausführbar. Fräulein Moser ist ja auch schon mit ihnen gewandert, ein andermal hat man draußen einen Arbeitsgenossen Stephans getroffen, der sich ihnen zwanglos angeschlossen hat. Aber Adelina wehrt beinahe entrüstet ab. »Nein, Maria, nein! Stephan, – er würde, – nein, das ist ganz unmöglich. Und ich will es auch nicht! Ich will dies ganz für mich behalten; niemand anders soll mir hineinschauen – hineinreden –«

»Hineinreden? Wer sollte wohl? Ich etwa? Deswegen kannst du ruhig sein. Und Stephan weiß nichts. Für ihn wäre da nichts weiter als das Tatsächliche: ein netter junger Mensch aus deinem Büro, der mit uns wandert und den er auf die harmloseste Art kennen lernt wie irgend einen anderen.«

Adelina sieht sie mit großen, runden Augen an, dann lächelt sie nur, ein seltsam glänzendes, fast triumphierendes Lächeln. Sie wiederholt eigensinnig: »Ich will es eben nicht,« und dabei bleibt es.

Marlise ist enttäuscht, um Adelinas willen und auch, weil sie selbst ein klein wenig neugierig ist auf den geheimnisvollen »Ihn«.

Hier ist ein neues Band, unsichtbar und seidenfein, das Marlisen in der Stadt festhält. Es ist so wundersam spannend, das Erleben des anderen Herzens neben sich zu wissen. Ganz anders ist es, als damals, wie Beate Michaeli erzählte, traulicher und näher; es ist, als könne man hier auf heimliche Art ein wenig lernen von dem, was immer irgendwo lockt und leuchtet und was im zarten Atem des kommenden Frühlings allabendlich über die Dächer weht. –

An einem Spätnachmittag geht Marlise von Besorgungen in der Stadt nach Hause. So lind und warm ist die Luft, so köstlich die hohe, klare Blässe des Himmels, daß sie einen Umweg durch ein Gartenviertel einschlägt, dessen Straßen leer und still in freundlichem Frieden liegen. Hinter den Gitterzäunen steht das Gesträuch mit dicken, grünen Knospen, Grüpplein von Schneeglöckchen sind hier und da im Rasen zu sehen, der schon frischere Farben zeigt. Die Amseln auf den Firsten und Wipfeln singen nicht weniger wildselig und durchdringend süß, als die Amseln von Beurenbach.

Marlise trägt ihr Herz sehr groß und heiß in der Brust. Aber nicht Sehnsucht nach dem heimatlichen Frühling ist es, was sie bedrängt. Es ist eine andere Sehnsucht, eine fragende und dunkel suchende, ein wehes und dennoch schmeichelndes Einsamkeitsgefühl, das zitternde Flügel ausbreitet, zögert und nicht weiß wohin.

Marlise blickt einem Liebespaar nach, das am Ende der Straße vor ihr herschlendert, und denkt in einer jähen, leichtfertigen Heiterkeit: »Die haben es gut –«

Die Amseln flöten wie unklug; immer die gleiche Strophe, und doch jedesmal ein wenig anders –

Die beiden jungen Menschen da vorn gehen so leichtfüßig, Arm in Arm; er groß und sehr schlank, jugendlich vornehm, sie –, Marlise erschrickt, sieht schärfer hin, will eilen und tritt doch unwillkürlich leiser auf: ist denn das nicht Adelina? Der Mantel, der kleine, grüne Hut, – es ist Adelina. Sie geht so selbstverständlich neben dem Manne her, ein klein wenig in seinen Arm gelehnt, und jetzt sagt er etwas und lacht und wendet sein Gesicht nahe zu ihr, – Marlise hat plötzlich das atemraubende Gefühl: wenn es dunkel wäre, würde er sie küssen, und sie würde sich küssen lassen –

Nein, was denn nur –? Es ist ja hell, ganz hell, – und eine Reihe von Stunden muß noch hingehen, bis es wirklich Nacht ist in Marlises Stübchen und Adelina auf Marlises Bettrand sitzt. »Maria, liebe, was gibt es? Du bist so sonderbar; hab' ich – dir etwas zuleide getan?«

»Mir? O Lina –« Marlise würgt an ihrem Wissen und stößt es endlich fast böse hervor: »Ich hab' dich gesehen, heut nachmittag, in der Gartenstraße –!«

Aber Adelina erschrickt gar nicht; sie atmet nur ein wenig tiefer auf. »So? Hast du?« fragt sie langsam zurück, »nun, und –? Bist du entrüstet, tugendhafte Maria? Hast du eine Strafpredigt auf der Pfanne?«

»Adelina, wie kannst du –« Marlise ist es siedeheiß geworden, sie sucht nach Worten und findet nur das allerkälteste, unzutreffendste: »Lina, um Himmelswillen! Mach' keine Dummheiten!«

Ein kleines, silbernes Lachen. »Dummheiten? Nennst du das Dummheiten, wenn ich mit einem jungen Mann auf der Straße gehe? Ist das etwas anderes, als wenn Stephan dich aus einem Konzert abholt?«

»Ja! Es ist anders, ganz anders! Du, – o Lina, – und ich hab' ihn angesehen, er sieht so besonders aus, er ist gewiß gar nicht aus dem Bureau –«

»Aber nein doch! Das war deine eigene Erfindung!«

»Woher kennst du ihn dann überhaupt? Lina, es ist gräßlich, daß ich so fragen muß –«

»Es ist gar nicht gräßlich, und ich erzähle dir doch liebend gern davon, du bestes Herz! Also, woher ich ihn kenne? Ja, das kam so, ganz einfach: er hat mir einmal in einem Laden ein Paket aufgehoben, und am nächsten Tage trafen wir uns zufällig in der Straßenbahn, da grüßte er, und wir sprachen ein paar Worte. Und dann, – ja, dann hat er eben herausgebracht, wo ich arbeite, und ist öfters gegen Bureauschluß da vorbeigegangen. Und er war immer so höflich und ritterlich und so vergnügt dabei und hat allerlei Hübsches erzählt, und wie ich erst wußte, wer er ist und daß er so –«

»Weiter, Liebes, bitte –«

»Nein. Dies nicht, Maria; ich will nicht seinen Namen sagen und alles, – das ist so unangenehm deutlich, so als wolle ich alles für die Ewigkeit festnageln, und die ganze liebe, herzige Heimlichkeit ist verdorben! Oh, Maria, das gerade ist ja so schön: daß alles ganz außerhalb der langweiligen, steifleinenen Wirklichkeit steht, daß man nichts anderes dabei wünscht und will, als die paar schönen Stunden genießen! Alles ist so leicht und unverhofft gekommen, wie eine hübsche Geschichte, die irgendwo im Buche steht, – und daß ich selbst die Hauptperson dieser Geschichte bin, das ist jeden Morgen wieder ein ganz unglaublich schönes Gefühl!«

Marlise bleibt ganz still. Sie preßt Adelinas Hand und fühlt den zärtlichen Gegendruck. »Schwester, kleine, liebe, heiße Schwester!« denkt sie leidenschaftlich, »wer hätte gedacht, daß wir einander so nahe sind, in irgend einem Kern unseres Empfindens –«

Aber endlich bringt sie es doch hervor, sehr zaghaft: »Lina, – was soll daraus werden?«

»Daraus werden?« kommt es flüsternd zurück, »nun, weiter nichts! Tu mir den einzigen Gefallen, Maria, und fange nun nicht etwa von ernsten Absichten und Verloben und Heiraten an! Davon ist nie die Rede gewesen. Ich hab' immer gewußt, daß es nicht auf lange sein kann, er geht wahrscheinlich bald wieder fort von hier, und überhaupt, – wie werde ich denn so dumm sein! Er denkt noch gar nicht an Heiraten, und mich könnte er schon ganz und gar nicht brauchen, so ein kleines, oberflächliches Frauenzimmer, das nichts weiß und versteht von all den Dingen, die ihm ganz furchtbar wichtig sind. Heiraten, – du liebe Zeit, ja, darüber habe ich früher große Töne geredet und gemeint, es müsse unbedingt sofort damit losgehen. Aber da wußte ich noch nicht, wie es in der Welt aussieht! Früh heiraten, das ist nur für reiche Mädchen, – oder kannst du dir etwa vorstellen, Maria, daß ich mich jetzt verloben könnte, mit irgend einem sehr strebsamen, sehr biederen, sehr uneleganten Bureaujüngling, wie – nun, wie zum Beispiel Stephan jetzt einer ist, und ich säße dann jahrelang mit dem Verlobungsring an der Schreibmaschine und wartete gefühlvoll und bescheiden ab, bis er sich endlich eine Stellung ersessen hätte, bei der es notdürftig zum Heiraten langt?«

»Ich sehe nicht, was daran so entsetzlich wäre! Wenn man sich lieb hätte –«

»Ach, nun ja –! Aber – muß denn immer gleich ans Heiraten gedacht sein? All diese fürchterlich ernsthaften, soliden Dinge, Zustimmung der Familie und ewige Treue und Wohnung und Einrichtung und Kochenlernen, – ach, das mag doch für später bleiben, das Leben ist ja noch so lang! Kann man sich nicht ohne alles das lieb haben, nur so, weil es schön ist und weil man jung ist, nur um hin und wieder ein Stündchen zusammen zu sein und um etwas Liebes zum Drandenken zu haben?«

»Vielleicht kann man es,« antwortete Marlise nach einem langen, tiefen Schweigen sehr leise, »vielleicht – kannst du es, Adelina! Ich – könnte es nicht. Ich weiß ja nicht sehr viel von dem allem, ich denke es mir nur, wie es wäre, wenn ich – jemand lieb hätte, – und mir ist, als würde ich ihn dann gleich so sehr lieb haben, daß ich es einfach nicht ertrüge, ihn nicht ganz und für immer zu mir zugehörig zu wissen! Ich verstehe wohl, das ist mit dem Verloben und Heiraten allein nicht getan, wie viele müssen später doch wieder auseinandergehen, weil sie sich getäuscht haben, und das kann nicht anders als gräßlich sein! Aber man müßte doch wissen, wenn man jemand lieb hat, – oder wenigstens müßte man es zu wissen glauben: du bist der Eine, der einzig Denkbare für mein Herz, heut und immer, – was sonst ist denn Liebe? Und dann wäre es doch eine Qual, wenn man immer fürchten müßte: es ist nur für eine kurze Zeit, und dann ist alles wieder vorbei! Sag', Lina, hast du denn nicht Angst vor dem Tage, wo er dir sagt: ›Nun komme ich nicht mehr‹? Weißt du, wie du das ertragen wirst?«

Adelina seufzt ein wenig. »Ich denke lieber nicht daran,« flüstert sie undeutlich. »Wenn es so weit ist, werde ich schon darüber hinwegkommen, irgendwie. Man muß nicht alles so unbequem ernst nehmen –«

»Und dann?« drängt Marlise erregt, »was soll dann kommen? Wirst du dich dann von neuem umsehen und einen Zweiten gern haben und von dem dieselben Worte und Freundlichkeiten hinnehmen und später womöglich von einem Dritten, – und wenn wirklich einmal der Eine dir begegnet, mit dem du dein Leben lang zusammenbleiben möchtest, dann ist alles schon abgenutzt und unfrisch und alltäglich geworden, – Lina, das ist furchtbar auszudenken! Das ist das Schrecklichste, was ich mir vorstellen kann!«

Adelina bewegt sich, als rühre sie ein Frost an. »Hör' auf!« murmelt sie, »warum bist du immer so unheimlich gründlich, Maria? Ich – will mir den Kopf nicht vorzeitig zerbrechen! Mag alles gehen, wie es will, – ich werde schon heil hindurchschlüpfen.« Sie beugt sich zu Marlise nieder, in ihrem Kuß ist etwas wie Demut und Abbitte. »Schlaf süß, Maria, und – mach' dir keine Sorgen um mich, du Liebste! Maria, zuweilen wünsche ich, ich wäre wie du. Ich hab' es wohl leichter als du, mit dem Leben und mit den Gedanken, aber ich glaube, du hast es irgendwie schöner, – – und wenn dir einmal der Eine begegnet, oh, der hätte es gut!«

Damit ist sie hinaus wie ein weißes, leises Gespenstchen, und von gespensterhafter Süße ist das Wort, das sie zurückgelassen hat, das mit dem Unwirklichen spielt wie mit einer Harfe, und Töne klingen auf, die niemand noch zu einem Liede geordnet hat.

Marlise drückt die Augen zu, als könne sie sich nicht tief genug in sich selbst hinabsenken. »Wenn er dir einmal begegnet –«

Oh, dann ein ganz neues, weißes, unbetretenes Herz ihm öffnen können wie einen Garten voller Frühlingsbäume, die blühen wollen, für ihn! Oh, dann nur stark fein und reich sein, um schenken zu können mit unerschöpflichen Händen, gut sein von jener letzten, heimlichsten und süßesten Güte, von der man noch nicht alles weiß, die aber dasein muß, irgendwo, verborgen in tiefster Seele und bis heute nur selten heraufleuchtend als drängende Sehnsucht. Dann wird sie steigen und sich selig erschließen, die letzte Güte, für ihn, der kommt –

Aber – konnte es nicht sein, daß man ihm schon begegnet ist? Längst vielleicht? Und man wußte nur nicht, daß er es war? Nun steht er an der Wegecke, schaut zurück und wartet. Ach, daß man ihn nur sicher erkennt, beim nächsten Mal! Daß nur zur rechten Zeit der helle Ruf des Herzens sich aufmacht! Denn das Herz ist ein zaghaftes und tief verträumtes Ding.


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