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Die Redensarten der Deutschen sind ihr Hirn und Herz; sie verraten zunächst die deutsche Schwärmerei für die »Förmlichkeit«, z. B. eine förmliche Revolte und Konfusion, förmlicher Skandal, förmlich verliebt, förmlich toll ec. Daß die Deutschen eine förmliche Prüfung, Wissenschaft, Konvenienz, Kontrolle, Wohlanständigkeit, Prozedur, Anstellung, Sentenz und Verabschiedung aushalten, ist in der förmlichen Ordnung; daß aber bei ihnen ein Mensch in eine förmliche Wut, Leidenschaft, Konfusion und Narrheit geraten, daß er eine förmliche Rebellion anrichten kann, wo doch alle Form ein Ende nimmt, dies ist förmlich deutsch.
Der Deutsche fügt sich in jedes Malheur, in jede Mißhandlung (es soll in dieser Fügsamkeit seine Niederträchtigkeit bestehen), aber er muß wissen, daß es förmlich dabei zugeht. Es ennuyiert ihn z. B. ein Sermon: tut nichts, wenn es ein förmlicher, ein förmlich berechtigter, z. B. ein examinierter oder examinierender, methodischer Sermon ist. Es schädigt den Deutschen ein Verfahren: schadet wiederum nichts, wenn nur in forma probante Lateinisch: unter Billigung der Form, d.h. in vorgeschriebener Form. und ex vi formae Lateinisch: infolge der Formgewalt, d. h. auf Grund der üblichen Form. verfahren wird. Es macht ihn ein Verhältnis, eine Situation zum Narren, oder er macht sich selbst dazu; aber er tröstet sich darüber, falls er sich nur förmlich zum Narren gemacht weiß, z.B. durch Gewohnheit, durch Tagesparole, Vorschrift, Schule und Konvenienz. Der Deutsche leistet alles, er weiß alles, er ist, kann und wird alles, er findet sich in alles, er erträgt alles mit Resignation, mit Freudigkeit und Märtyrertum, wenn er nur die Norm, die Form und Methode und, falls er ein Schriftsteller und Schulmeister ist, den deutschen Stil förmlich konserviert und geheiligt weiß. Er läßt sich die langweiligste, die unausstehlichste und arroganteste Person, den größten Schuft und Dummkopf gefallen; aber er will dafür in Form Rechtens, mit förmlichem Handwerkszeug und Apparat, mit der Geschäftsform, mit förmlicher Gelehrsamkeit, mit förmlichen Rezepten, mit Titeln und Paragraphen gemißhandelt und gemaßregelt sein.
Die Deutschen liebten sonst die romantische Literatur, aber niemals die aufgelöste Lebensart und das improvisierte Geschäft. Der genialste und liebenswürdigste Mensch ist dem echten Deutschen ein unbequemes, verdächtiges und kurioses Subjekt, sobald derselbe nicht förmlich und regulär in seinen Gesichtskreis getreten, ihm so vorgeführt und legitimiert worden ist, sobald er kein förmliches Examen ausgehalten, keine förmliche Anstellung erlangt hat, und wenn er ihm wohl gar sans façon, d.h. ohne gewöhnliche Legitimation und Empfehlungen, über den Hals gekommen ist. Wie ein vernünftiger und solider Mensch die Form vorbeigehen kann, begreift ein echter Vollblutdeutscher noch im Todeskampfe nicht; er nimmt also förmlich Abschied von dieser Welt. Formlosigkeit ist beim echten Deutschen identisch mit Dummheit, Schande, Rebellion, Freiheit und Gottlosigkeit.
Ein Pedant gilt bei allen Nationen als Kleinigkeitskrämer und ein förmlicher Mensch; aber ein deutscher Pedant ist ein Vollblutpedant; ist er aber ein gelehrter Pedant, so möchte er jeden Blutstropfen in einer festen Form ausgeprägt, durch eine Form in Kontrolle gehalten und förmlich zur Räson gebracht sehen, so hat er einen tödlichen Haß gegen alles Flüssige und Lebendige, weil es eben nicht fixiert, nicht arretiert, nicht kontrolliert, nicht förmlich traktiert, bewiesen, gelehrt, gelernt und behalten werden kann. Ein eingefleischter Justizpedant legt beruhigt den Kopf unter das Fallbeil, wenn er weiß, daß der Form und Methode dabei ein Vorschub geschieht; pereat munus, fiat die Form. Lateinisch: Mag die Welt zugrunde gehen, wenn nur die Form besteht. Eigentlich: fiat justitia (Gerechtigkeit; Wahlspruch Kaiser Ferdinands I.). Und der Pedant hat in alledem so recht als der Romantiker.
Die Formen sind die besten Anhaltspunkte, der solide Inhalt, das geistige Teil der Gewohnheit; die Form ist die Hebamme aller Tugend, Kunst und Wissenschaft, solange sie beseelte, vom Witz regenerierte und kontrollierte Form verbleibt. Die seelenlose Form wird eine scheußliche Dämonie, aber gleichwohl ist es ein Unsinn, wenn man ohne edle Form Poet, Künstler, Philosoph und gebildeter Mensch sein will. Die Form tötet, aber sie wirkt auch auf Seele und Geist zurück, wird die Kontrolle und Polizei für Schwärmerei, Konfusion und falsches Genie. Form führt Fleiß und Verstand ins Leben ein, beschränkt Willkür und Phantasterei, bildet den Charakter und das Schamgefühl, ermöglicht das Verständnis der Menschen untereinander und des Einzelnen mit der Welt. Ohne Formen gibt es keine Wohlanständigkeit, keinen verlässigen exakten Verstand, keine Wissenschaft und kein Gewissen.
Was einer nicht förmlich kann, weiß und ist, das ist er nicht effektiv, nicht vollberechtigt, nicht für die Welt. In Kraft der Form bestehen Recht und Regierung, Kirche und Staat, Erziehung und Zivilisation. In der Form beruht das Wesen und Prinzip der Sittlichkeit; wer sich ihr entzieht, ist Abenteurer, Träumer, Selbstschwelger, Taugenichts, unsittlicher Mensch. Wer die Form mißachtet, ist nirgends verlässig, ist verworren; wer sie nicht elastisch, nicht flüssig zu machen versteht, hat keine Poesie und kein Herz; wer die förmlichen Prozeduren in keinem Fall zu überspringen und zu reduzieren vermag, hat keinen Witz; wer in ihnen verhärtet und Mechanik treibt, ist Pedant; wer sie ausdeutet, Philosoph; wer die Sprachformen beherrscht und durch sie zur Anschauung der Geschichte und des Genies eines Volkes wie der Menschheit dringt, ist Gelehrter, Philolog. Wer neue Formen schafft, ein Genius, Gesetzgeber, Künstler und Prophet. Wer seine eigne Form ausprägt und festhält, ist ein Charakter; wer mit seinem Geiste über alle Formen hinausgeht, weil er mit ihrem Verständnis fertig wurde, ist ein Philosoph und Poet.
Der Pedant liebt die Formen mehr um ihrer selbst und der Mechanik willen als um des Geistes, der in ihnen abgefangen, zur Erscheinung gebracht und Rede gestellt wird. Der Philister kann ein Gemütsmensch insofern sein, als nicht nur sein Verstand, sondern seine Seele mit Formen und Gewohnheiten verwächst; aber das Gemüt des Weltmenschen, des gebildeten Genius und des Christen bespiegelt in allen Formen den göttlichen Sinn und Geist, der alle Formen und Sitten erschafft und gleichwohl über alle hinausgeht, nach dem Vorbilde Gottes, der ein immanenter und doch transzendenter Geist ist.
Der Deutsche aber ist Weltbürger, und so geschieht es, daß er Formenmensch, Pedant und doch zugleich Idealist, formloser Schwärmer und Romantiker, Phantast, Dogmatiker und Kritiker, Philosoph und Theosoph in einem Ausholen ist. Das gilt aber freilich nur von den genialen und gebildeten Deutschen und nimmermehr von Hinz oder Kunz.
Mit der Masse ist es ein Elend in allen Nationen. Die förmlichen Menschen und Pedanten bringen Seele, Natur und Begeisterung ums Leben, und die Naturalisten haben keine Haltung, keine Grundsätze, keine Methode, kein Verständigungs- und Veredelungsmittel, da ein solches ohne Form für die Masse nicht möglich ist.
Die Geschäfte sind mit den Pedanten peinlich, ohne Feinheit, ohne Improvisation, ohne großen Zug und Ruck. Die Naturalisten verkehren aber ohne festes Ziel und Maß, ohne Garantie von innen und außen. Es ist nichts mit förmlichen Menschen ohne Geist, ohne Natur und Divination und nichts mit Naturalisten ohne Methode und ohne Form. Jedenfalls ist der deutsche Pedant nobler und verlässiger als der romanische oder slawische Naturalist. Der sittliche Instinkt treibt den deutschen Praktikus zur Heiligung irgend einer Form, welche ein Gegengewicht für den elementaren Naturalismus abgibt, in welchem er sich durch seine wetterwendigen Leidenschaften halb ertränkt fühlt. Aber die deutschen Schulmeister und Pedanten, die großen wie die kleinen, übertreiben die Heiligung der Form bis zur Widernatürlichkeit.
Wenn man die Schulfüchse bis ins Eingeweide hinein kennen lernen will, muß man sie über die Form perorieren hören. Man kann ihnen bekanntlich viel leichter die Pedanterie als die Romantik nachsagen; aber das klassische Gefühl, das Gewissen für Form und Stil ist bei den gelahrten Perücken bis zur Schwärmerei stimuliert. Form und Stil, nämlich schematisierte Sprache, heißt ihre wahre Religion. Die Literatur, die Kunst, die Weltgeschichte sind eben nur um des klassischen Stils, d.h. um der Form willen da. Was bedeutet diesen Formverhexten die Natur, die Liebe, die Leidenschaft, der lebendige Prozeß? Es ist ja alles nur Naturalismus, Wirrsal, Willkür, Formlosigkeit. Aber die Form, nämlich die Methode, die Schablone, der ideale Leisten, diejenige Form, die an sich eine Macht und Wesenheit geworden ist, der Schematismus, welcher, als Selbstzweck etabliert, allen Persönlichkeiten aufs Maul und das Leben totschlagen darf, die schön gewickelte und gestreckte Mumie, die klassische, kalte Bildsäule von Stein oder Bein, ohne Augen und Odem, der seelenlose, unsinnliche Stil des Pedanten, mit dem man alle konkreten Prozesse abfangen und die ganze Zukunft vorauskonstruieren kann, weil er so generell, d. h. so abstrakt ist, daß in ihm alles Spielraum findet, daß er auf nichts und alles paßt: dieser Stil ist das Alpha und Omega der ganzen Schöpfung und ihr Witz; so lautet die Ästhetik der großen wie der kleinen Schulmeister und ihre Moralphilosophie.
Es gibt viel dienstbare Worte, aber keins, das so unvermeidlich und unverwüstlich dienstwillig ist als das Wörtchen »Form«. Ohne diesen Begriff der Begriffe gäbe es sicherlich keine Metaphysik, keine Logik, keine deutsche Schulsprache und Schuldefinition, keinen deutschen Schulverstand; denn wo man auch immer auf den letzten Grund dringt, auf die letzte Formel und Fassung, den letzten Versteck, die Enthülsung der Größe x: da umarmt uns die Allerwelts-Masette Schindmähre. Form!
Die Materie ist, den Spiritualisten zufolge, die absolut primitive »Form« des Geistes, an welcher Form der Geist das »Andere« seines Selbst erfaßt, also das Gesetz in der Materie wirkt. Die Materie ist die konkreteste, der Raum die abstrakteste »Form« unserer sinnlichen Anschauung. Diejenige »Form« aber, welche zwischen geistiger und sinnlicher Anschauung das Mittel hält, ist die Zeit.
Der Geist, als das Gesetz der Materie, als die auf die Materie oder Natur bezogene oder mit ihr polarisierte Idee (von der die reine Idee unterschieden werden muß), ist wieder eine »Form«, versteht sich, eine ganz reine Form; denn auf förmliche und abstrakte Reinlichkeit halten die Gelehrten nach dem Reaktionsgesetz der Natur in dem Maße, als sie wegen ihrer konkreten Reinlichkeit nicht eben berühmt sind.
Die Form selbst geht aus dem Gleichgewicht entgegengesetzter Elemente, Faktoren, Substanzen und Kräfte hervor. Da nun der Menschengeist die Manifestation des Gleichgewichts oder der Neutralisation zwischen der unendlichen Wesenheit und ihren endlichen (in der Natur und ihren Organismen vermittelten) Emanationen ist, so muß dieser Geist, wie schon gezeigt, eine »Form« sein. Der Verstand, wie sich von selbst versteht, als der mit sich selbst und mit der Sinnlichkeit vermittelte und ins Gleichgewicht gesetzte Menschengeist, ist wieder eine »Form«, und zwar eine ideale, abstrakte, allgemeine Form, wenn man sie mit der materiellen, gewachsenen oder natürlichen Form vergleicht.
Will man den Begriff und das Mysterium der Schönheit oder der Güte oder der Wahrheit und Heiligkeit kapieren, so präsentiert sich als Grund und Boden die »Erscheinung«, also die Balance von Sinnlichkeit und Geist, von Natur und Geist, von Sein und Denken, die Versöhnung von Realismus und Idealismus, von Natur und Übernatur, von Diesseits und Jenseits, von Endlichkeit und Unendlichkeit, also die »Form«. Diese unverwüstliche, unausdenkbare und doch begreifliche Form, welche nichts und gleichwohl das Wesenhafte, welche das Wirkliche und zugleich das Abstrakte ist; dieser Proteusbegriff der Sprache, welcher zugleich die Sache ist, indem er Sein und Denken, Sein und Nichtsein, Physik und Metaphysik und alle Gegensätze des Lebens neutralisiert, diese Allerweltsform kann sein: die Neutralisation von sinnlicher und geistiger Form, von Idee und Erscheinung; die erscheinende Idee oder die ideale Form, die sich für die Form oder für das Wesen erfaßt; oder der sinnliche Verstand, der seine Form, d. h. seine Balance für die Balance und zwar für die balancierte Idee erfaßt ec.
Man darf der Balance von Natur und Geist oder von Idee und Erscheinung nur die Gravitation nach dem einen oder nach dem andern Pol hin geben, man darf für die genannten Worte nur andere unterschieben, so hat man Definitionen von allem Sublimsten, was im Himmel und auf Erden oder was weder dort noch hier zu finden ist.
Ist man neugierig auf das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein oder auf das »Ich« geworden: was es doch sein, auf welche unmittelbare Kategorie, Gewißheit und Begreiflichkeit es sich reduzieren lassen möchte, gleich stellt sich wieder die »Form« ein, da das Bewußtsein nichts anderes als die Selbsterscheinung, das Ich aber nur die sich selbst erfassende oder absolut setzende Selbsterscheinung, gleichsam die Selbstschönheit und Selbstvergötterung ist. Wo die Polarität herkommt, wie sie die Natur des Lebens und der Dinge sein, wie die Polarität oder Gegensätzlichkeit sich indifferenteren und wieder differenziieren, wie die Mannigfaltigkeit aus der Einheit entspringen und diese sich trotz jener konservieren, wie sich die Mannigfaltigkeit der Formen, d. h. der Gleichgewichte, so aufrecht und stetig erhalten kann, daß die besondern Gleichgewichte nicht ins allgemeine Gleichgewicht übergehn: dies sind Geschichten und Probleme an sich, für sich und für anderes, nämlich für die Dialektik und Metaphysik.
Wie die aufgelösten Formen immer wieder in die Grundform zurückkehren, wie die alte und die neue Form eines und doch zweie sein können, wie überhaupt aus der ersten Eins die Zwei und die Drei oder wie das Sein aus dem Nichts hervorgegangen ist, davon gibt es keine förmliche Wissenschaft, Wohl aber eine förmlich gelehrte deutsche Unwissenheit.
Wodurch sich die schöne und die häßliche Form oder das gute und böse Gleichgewicht, der dumme und kluge, der närrische und wahnsinnige Verstand, das blödsinnige und geniale Ich, die natürliche und die geistige Form, die reale und ideale Form, die reine und unreine, die feste und die flüssige, die unmittelbare und vermittelte, die primitive und sekundäre, die organische und mechanische, die immanente und transzendente Form und Anschauung unterscheiden: das alles sind naturalistische, autodidaktische, querköpfige, naseweise, spitzfindige, unbequeme und schikanöse Fragen. Die Hauptsache für einen förmlich geschulten, förmlich denkenden und förmlich gescheiten Deutschen bleibt die Reduktion aller Begriffe auf den Begriff »Form«, quod erat demonstrandum. Lateinisch: was zu zeigen, zu beweisen war.
Aber nicht nur unsere Metaphysiker, sondern unsere gereiseten Literaten haben sich von der Schule zur Literatur und Kunst und von beiden zum Leben orientiert. Ihre geerbte Schulnatur und die Information haben dafür gesorgt, daß ihnen zuerst die Formen eingebleut wurden, bevor ihnen die Sachen und Erlebnisse auf den Leib rückten, auf welche sich Redensarten, Disziplinen und Formulierungen beziehen. Anders gestaltet sich der Bildungsprozeß in dem Menschen, in dessen divinatorischer Seele, in dessen beseeltem Verstande die Bilder der Natur, die Tatsachen des Lebens und die Keime der Leidenschaften früher festwurzelten als die Abbilder dieser Prozesse in Lehre und Wort. Solche Menschen werden indes Autodidakten betitelt, wenn sie auch auf Gymnasien und Universitäten geformt wurden; denn für den förmlichsten Deutschen kommt es nicht nur auf die Form, sondern auf die »Uniform« an.
Welche desperat bunten Variationen die gelahrte Uniformität in sich fassen, und wie eben aus derselben der formloseste Formenhaß hervorgehen kann, das macht ein förmliches Kapitel der gelehrten Naturgeschichte aus, deren förmliche Mysterien sich der populären Darstellung und Veröffentlichung entziehen.
Einen hochkomischen Eindruck machen die deutschen Ästhetiker durch den naiven Kontrast, in welchem ihr sinnliches, resp. ihr plastisches Thema und ihre gelegentliche Phantasmagorie mit ihren abstrakten Formulierungen und bocksteifen Redefiguren stehen.
Die Architekten z. B. sprechen seit einiger Zeit in sehr kühnlicher Metapher und Hyperbel von der Formensprache der Architektur.
Unger Der Kunsthistoriker Friedrich Wilhelm Unger (1810–76). setzt die Schönheit nicht in die sinnlich angeschaute Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit, nicht in die Reziprozität oder Harmonie von Freiheit und Notwendigkeit, von Stoff und Geist ec., er hält die Schönheit auch nicht für die zur Erscheinung gebrachte Idee, wie Vischer Der hegelianische Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer (1807–87). und Hegel, sondern für die Harmonie der Formen; aber die Harmonie selbst setzt er wieder in die Form.
Auch die musikalische Ästhetik pfeift alleweile aus demselben Loche wie die Malerei; sie ignoriert also charakteristischermaßen die Mysterien der Melodie mit den Komponisten und Virtuosen in die Wette; denn all' diesen formverhexten Deutschen sagt kein Überrest von ästhetischem Gewissen, daß die Melodie der flüssigen Seele und dem vergeistigten Naturalismus unendlich näher steht als der Form, deren Lösung und Auflösung eben durch Melodie bewirkt wird.
Hanslick Der Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904). sagt zutreffend, ›der Dilettant verhielte sich nur pathologisch zur Musik.‹ Dies Verhalten ist aber eine Lösung der Seele, welche geschickter machen kann, die Melodie, die Seele der Musik, zu fassen, als es der Aktivität des Verstandes möglich ist. Es kommt aber heute alles auf Kritik, auf Form und Verstand an, also gilt auch dem Musiker die Musik für nichts Reelles, wenn sie nicht ein geistreiches Spiel mit Formen ist, welches den musikalischen Verstand beschäftigen kann.
So viel ist nicht nur an den Musikern, sondern an allen Menschen gewiß, welche eine Profession aus den Künsten machen, daß sie das Gefühl verlieren, indem sie die Verstandesformen kultivieren. Seele und Enthusiasmus behält nur der Dilettant und der Genius für die Musik. Die Kritik ist ein Vampyr, welcher der Seele das Blut absaugt. Die Seele hat weder Geschmack noch Kritik, wenigstens nicht im Sinn des Verstandes. Das Genie inkliniert zur Geschmacklosigkeit, weil es zu lebhafte Phantasie und Empfindung hat. Zuletzt kommt's aber doch auf Seele an; ob die Formen kunstlos oder kunstwitzig sind, die uns beseligen, ist allerdings nicht gleichgültig, aber am gültigsten ist das Kunst- und Naturgesetz vom beseelten Verstände und von der beseelten Form. Übrigens versteht sich von selbst, daß die Musik schon um deswillen Formen produzieren muß, weil sie nicht verstandlos sein darf, und weil die Auflösung der Formen eben den charakteristischen Zauber der Musik in einer Welt bildet, die den überbildeten Menschen mit Verstandesformen tyrannisiert. Nur der deutsche Mystiker, Philosoph und Theosoph hat von Anbeginn begriffen: daß die Dinge sind, indem sie nicht sind, daß das Endliche nur in Kraft des Unendlichen möglich ist, daß in der Begrenzung, in der Form, sich erst die Ideen verwirklichen können, daß aber auch in der Verwirklichung, daß im formalen Verstände, im endlich gesetzten Geiste das Ideal zu Grabe getragen wird. In der Sprache, im Redeverstand, im Stil reflektiert sich der Geist, tritt er aus dem Instinkt in die Wirklichkeit ein, und dann wieder ist es diese Sprache und dieser Stil, dieser Formverstand und Redeverstand, die Mutter aller formalen Erkenntnis, welcher Divination, Poesie, Pathologie, Scham und alles ideale Organ ruiniert. Die Form, welche zu Anfang ein Mittel war, um die Prozesse des Geistes wie der Seele zu fixieren und zu steigern, diese Form wird zuletzt Zweck, konstituiert sich als selbstständige Macht, wird für die Seele der Sarkophag.
»Hofrat Jungstilling Johann Heinrich Jung, genannt Stilling (1740–1817). führte die Freunde auf den Kirchhof; dort deutete der alte Totengräber auf den Grabhügel der verstorbenen Frau Jungstillings, der mittlerweile Prorektor zu Marburg geworden, und sagte feierlich: ›Hier ruht die selige Frau Hofrätin und nunmehrige Frau Prorektorin Jung.‹ – Einen so schönen Zug der Vaterlandsliebe und hohen Gesinnung sucht man vergebens bei einem andern Volk der Erde. Nach der deutschen Naturkunde gibt es keinen titellosen Raum; die feine, unsichtbare, ätherische Titularsubstanz durchdringt alle geschaffenen Wesen, sie belebend, antreibend, erwärmend, ernährend und erhaltend; sie durchdringt alle Teile unseres Seins, Geist und Herz, Denken und Empfinden, Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen, Erinnerungen und Erwartungen; sie belebt alle Glieder unserer Sprache; man findet sie in Hauptwörtern, Hilfswörtern, Zeitwörtern, Adjektiven, Adverben, Präpositionen, Deklinationen und Konjugationen.«
(Börne.)
Ein Deutscher, auch wenn er kein Pedant im engern Sinne, sondern nur ein echter Repräsentant seiner Rasse ist, kann nicht befriedigter sein, als wenn er eine Tatsache, Schuld und Erscheinung auf den richtigen Namen getauft, in irgend eine gangbare Rubrik untergebracht, sie betitelt, paragraphiert und »einregistriert« hat. Dem Deutschen ist also doch an der Erkenntnis und an der Form derselben, es ist ihm am Zeremoniell, an der Methode, an der Wissenschaft gelegen; er ist geborener Theoretiker und erst in zweiter Reihe ein Praktikant.
Und wenn das Elend, die Verschuldung und Dummheit noch so groß ist, so tröstet den Deutschen vorläufig und bis zu Ende die richtige stilgerechte Erkenntnis, Formulierung, Klassifikation und »Kodifikation« desselben. Wenn er sich oder andern nur die Misere recht gründlich auseinandergesetzt, wenn er sich selbst einen Narren oder Lumpenhund und Schuft gescholten und die Gründe herausgebracht hat, warum er oder seine Korporation oder die ganze Rasse miserabel geworden ist, so läßt er es mit voller Gemütlichkeit beim Alten; weil die Praxis offenbar nur triviale Manipulationen, Exekutionen und Korruptionen dessen in sich schließt, was die Theorie ideal a. priori konstruiert hat.
Die Deutschen sind Homöopathen; sie lesen, sprechen und schreiben sich in die Miseren hinein und wieder hinaus. Bei dieser abstrakten, aber gleichwohl konkret geredeten Lebensart bleibt nur die Bedingung stehen, daß die Grundfarbe konserviert bleibt. Als z. B. die Gesinnungstüchtigkeiten gedruckt, geredet und gelesen wurden, konnte man eventuell ein perfider Abenteurer und ruchloser Taugenichts sein, wenn man sich nur als gesinnungstüchtigen Taugenichts und Abenteurer auswies; und bei der entgegenstehenden Couleur schadete es ebenfalls nichts, wenn man ein konservativer Altflicker und Schafskopf verblieb. Die Partikularistischen und individualisierenden Deutschen waren zur Zeit der Rebellion einzig darauf eingerichtet und dressiert, daß der rebellische oder der konservative Rhythmus konserviert blieb: auf die Personen kam damals nichts an.
Wenn's mit einem hochgebildeten Deutschen nicht richtig ist, so hat er immer die heilsame Zerstreuung oder, vielmehr die Sammlung, herauszubringen, ob das fragliche Übel oder die Dummheit bei ihm in der präponderierenden Transzendenz oder Immanenz liegt, ob er sich in rein sozialer, in weltbürgerlicher oder Wohl gar in welthistorischer Beziehung verletzt fühlen darf. Ob sein Schaden mit »Vorstellung und Wille«, ob mit »Schrift und Geist« oder mit der Tat, d. h. mit einer »wissenschaftlichen Tat«, repariert werden muß; ob er im linken oder rechten Zentrum, ob er in der äußersten Linken oder Rechten närrisch geworden, ob er mit ordinärem Humor drunter weg oder mit Solgerscher Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819), der Theoretiker der romantischen Ästhetik. Ironie drüber weg sein, ob er sich lieber mit konkreter Dialektik oder abstrakter Heiterkeit und rationellem Christentum kurieren, zuletzt aber durch eine »Konstruktion im Absoluten« radikal aus der Affaire ziehen soll. Zu den unleidlichsten Pedanten gehören die Leute, welche sich in allen Augenblicken und in allen Situationen nicht nur ihrer vollen amtlichen, wissenschaftlichen oder sittlichen und geistlichen Würde bewußt sind, sondern diesem Bewußtsein auch den entsprechenden Ausdruck in Gebärde, Sprache, Haltung, Blick und Ton zu geben suchen. Wer sich in der Tat würdig und als heilen Menschen fühlt, trägt dies Bewußtsein nicht zur Schau. Im wahrheitsliebenden und natürlich gearteten Menschen meldet sich auch das Bedürfnis der bloßen Augenblicksempfindung, dem Herzen sein Recht zukommen zu lassen. Der gesunde Menschenverstand lehrt uns überdies, daß die Leidenschaften im besten Menschen leicht mächtiger werden können als seine sittlichen Ideen, daß niemand sich vor der Versuchung sittlich aufkrausen darf – daß kein schämiger, bescheidner, herziger Mensch mit seinen etwanigen Tugenden, Würden und Talenten sich auf Schaustellungen und Rollen einlassen soll, daß in diesem schattenhaften Erdenleben auch dem harmlosen Scherz sein Recht zukommen muß, und daß die Tugend sich in dem Augenblick in Egoismus und Hochmut wandelt, wo sie prononcierte Sittlichkeit sein will. Die besten Eigenschaften und Talente verlieren ihren Zauber, ihre Macht über das menschliche Gemüt, sobald sie mit Prätensionen und mit Eklat auftreten. Prononcierte Frömmigkeit und Sittlichkeit können unerträglicher werden als Roheit und Gottlosigkeit. Ein seiner Ton und Takt, der sich als solcher direkt behändigen und geltend machen will, ist eben kein solcher mehr. Es bleibt der Grundirrtum aller Theoretiker und Pedanten, daß sie der Natur gegenüber zu sehr die Initiative nehmen, daß sie das machen, was freiwillig wachsen soll, daß sie das Leben da fixieren und formulieren wollen, wo es flüssig bleiben muß.
Die Pedanterie liegt tiefer als in der gelegentlichen Tyrannei mit Formen oder Prinzipien und Konsequenzen. Frauen sind pedantisch im Zeremoniell und Kostüm, im Festhalten ihrer Toilettengrundsätze, und doch ist diese weibliche Pedanterie nur der Schatten, welcher ihre Koketterie und ihren Naturalismus ins Licht setzen muß. Pedant ist jeder, der nicht von innen heraus weiter prozessiert, der nicht mit allen lebendigen Geschichten und Metamorphosen in voller Mitleidenschaft steht, der nicht mit der Welt, mit der Natur und mit dem andern Geschlecht verkehrt. Diese drei Lebensarten reduzieren sich aber auf den Begriff der Seele und Sinnlichkeit. Wo diese nicht zu ihrem vollen Recht gelangen, wo der sinnliche Fluß die harten Begriffe und ihre Lücken nicht verschmelzen, wo er die geraden Linien der Schule nicht zur lebendigen Wellenlinie abwandeln darf, wo die natürliche Metamorphose den stündlich alternden Geist nicht mehr verjüngt, wie es beim jungen graziösen Weibe geschieht, wo die Welle des Lebens den Adamssohn gar nicht mehr heben, werfen und tragen darf, da fliehen ihn die Grazien; und wenn das geschieht, wenn die Pathologie fehlt, wenn der Mensch gar nicht vom Leben, von der Natur, vom Augenblick, von der Gottheit, von der Begeisterung, von fremden Mächten getrieben wird, wenn der förmliche Geist, der Schulverstand als Obermechaniker fungiert: dann verdickt, verharzt und verholzt sich das graziöse, schöne, flüssige, warm pulsierende Menschenleben zur bocksteifen Pedanterie. Aus dem grünenden Waldbaum wird ein Grenzpfahl mit Gesetzestafeln gemacht.
Pedant ist jeder, der nicht trotz des Charakters und Verstandes fort und fort Wiedergeburten in dem tiefsten Gemüt erfährt, jeder, der den Einfluß dieser inneren Wandlungen auf Verstand und Form inhibiert. Hält man diesen Begriff von Pedanterie fest, so ist der Franzose, ja selbst der italienische Gelehrte unendlich mehr Pedant als der Deutsche.
Pedant wird der gescheiteste und geschmackvollste Mensch, wenn das Gefühl der Eitelkeit alles Irdischen ihm nicht das Maß von Ironie an die Hand gibt, welches jeden Ansatz von Selbstgefälligkeit oder Koketterie mit der Form unmöglich macht. Die zweite Großmacht, welche den Pedantismus zu inhibieren pflegt, ist eine tiefe und schöne Natur. Tief darf man die deutsche Natur nennen, aber mit der Schönheit und Grazie sind die deutschen Naturmenschen brouilliert, und weil sie dies wissen, auch ihrer Natürlichkeit um des religiösen sittlichen Gewissens nicht trauen, so haben sie sich den Schematismus und den Stil zugelegt.
Der Deutsche endlich ist ein so großer Pedant, weil er so persönlich ist, weil er so gern und viel individualisiert, weil er seinem Herzen und seinen leicht gelösten Gefühlen nicht trauen darf, weil er um dieser wechselnden Gefühle zur Charakterlosigkeit inkliniert, weil er das Recht über alles liebt. Die Pedanterie hängt also mit allen deutschen Mvsterien und Tugenden zusammen; sie ist eine sittlich-religiöse Reaktion, das Gegenwicht für seine Romantik, für seine tief leidenschaftliche und poetische Natur. Deutsche und Engländer sind die unergründlichsten Pedanten, Humoristen und Schwärmer in demselben Atem und in derselben Situation.
Was die deutsche Pedanterie in der Kunst leisten, mit welchen unsagbaren und unergründlichen Tugenden sie getraut sein kann, hat uns Riehl in seiner trefflichen Schrift »Musikalische Charakterköpfe«, Vgl. S. 359, Anm. 1.9 an Johann Sebastian Bach gezeigt. Ich gebe hier für meinen Zweck die leitenden Gedanken Riehls über Bachs Art und Verdienst im Extrakt. Bach hielt nicht nur an der Väter Sitte, an dem Vermächtnis seines musikalischen Vaters und Großvaters, an der kleinbürgerlichen Bescheidenheit, Beschränktheit und Frugalität fest, sondern er band sich auch in seinen Kompositionen an die überlieferte Technik und an die altväterischen Grundintentionen, an ihren keuschen, strengen Stil. Er kokettierte nicht mit dem damaligen abgeschmackt ungebundenen Zeitgeschmack, ihn steckte nicht die Frivolität an, welche vom sächsischen Hofleben in alle Stände Eingang fand: er blieb der frugale, gottesfürchtige, altfränkische, ehrenfeste Kantor, gegenüber den ausschweifenden modernen Musikern und Sängern, die ihm nicht die Schuhriemen lösen dürften.
»Bach ist eigentlich unser spekulativster Musiker, und doch verliert er sich nie selber in seiner Spekulation, weil Form und Ausdruck bei ihm einen historischen Boden haben, weil er an der überlieferten Sitte der Väter, an der künstlerischen Technik ebenso verständig festhält wie an der Sitte des bürgerlichen Lebens. Aus überquellendem Gedankenreichtum ist er wohl formlos geworden, aber nicht aus eitler Buhlerei mit dem Zeitgeschmack. Daher das Keusche, Reine und daneben das Markige, Eisenharte in seinen Werken, welches ihm niemand nachmachen wird.«
Er wußte nichts von den Extravaganzen und Lüderlichkeiten des Genies, und gleichwohl schnitt dieser Formen und Herkommen heiligende Philister und sittliche Pedant der verschnörkelten Musik den Zopf ab, der nur das Symptom der inneren Verderbtheit und Unmacht des musikalischen Lebens war, und dann wieder blieb der echt deutsche Bürgersmann dem »musikalischen Kosmopolitismus fern«, der zu Bachs Zeit so en vogue war, daß jeder bedeutende Künstler nach italienischen Mustern komponieren und sich so bilden mußte. Sebastian Bach blieb ein Reformator innerhalb der Grenzen der deutschen Kunst, übertrug die gewonnene Freiheit weder auf seine Lebensart noch dachte er daran, sich als den Reformator der Musik in Weltszene zu setzen, wie es heute jeder tut, der eine neue Buchstabiermethode oder ein neues Rezept zur Stiefelwichse entdeckt hat. Bach blieb ein deutscher Bürgersmann, ein Kantor, wenn man will ein Philister, ein Pedant in Heiligung der sittlichen Tradition; aber der Grund dieses schematischen Rigorismus war historischer Respekt, Bescheidenheit, Pietät, Liebe zu den Voreltern, Charaktereinfalt, Religiosität.
»In jedem einzelnen Volke«, sagt Arndt, »das frei und rein aus ihm selbst erwuchs, bleibt etwas Uranfängliches, Unvertilgbares als tiefster Grund alles Wirkens und Schaffens dieses Volkes. Wie dies auch verhüllt und umgekleidet, wie es auch verschoben und verschüttet werde, es ist das, was als das Eigentümlichste in der Menge eines Volkes lebt und wirkt, solange es noch mit einem eignen Namen in der Geschichte genannt wird. Wir haben noch, Gottlob! von diesem Ältesten, Unvertilgbaren; ich erblicke an den heutigen Deutschen noch die alten Gebrechen, über die schon vor fünfzehnhundert und vor tausend Jahren geklagt wird; ich erblicke fröhlich auch noch die alten Tugenden, aber freilich nicht in dem Glanz und der Kraft der Vorwelt. Es lebt noch Deutsches, es lebt noch ein deutsches Volk. Es klingt noch eine deutsche Sprache, es wirkt und schafft noch ein deutscher Sinn; es schlagen noch deutsche Herzen, und deutsche Geister ringen und kämpfen noch!
»Gelehrt werden kann das Heilige und Unsterbliche nicht, es muß erarbeitet werden von jedem in Mühe, es muß erharrt und erfleht werden im Glauben, es muß errungen werden durch eignen Fleiß.
»Verschmitzt, kriechend, glücksuchend, habsüchtig, so klingt es dem Deutschen vorzüglich aus dem Norden und Osten, von den Skandinaven, Polen und Russen vielfältiglich entgegen.
»› Patriam fugimus‹«, Lateinisch: Wir fliehen das Vaterland. sagt Lichtenberg, müsse die Aufschrift über dem Kopfe des Deutschen sein, und doch sind die Deutschen fast nur Haus- und Kammermenschen; ihr Vaterland erstreckt sich oft nicht weiter, als ihr Hahn schreien kann. Russen, Franzosen empfinden sich nur in der Masse, von den Deutschen ist jeder für sich; treu sind wir darum mehr für die Familie und Genossenschaft als für Vaterland und Volk, und diese Untreue hat Neid, Haß und Zwietracht gezeugt. Der Deutsche ist freilich von jeher der Wanderer gewesen, aber nicht allein zur Stillung der leiblichen Not, sondern aus einem edleren geistigen Hunger und Durst; aber er muß auch als Glücksucher in die Welt.
»Der Holländer hat seine festen, fast unverrücklichen Bräuche, Weisen und Ordnungen, wie auch in der ganzen Einrichtung seines äußeren und häuslichen Lebens; was sein deutscher Bruder wohl unausstehliche Langweiligkeit und Fußwurzelei (Pedanterie) zu schelten Pflegt. Darin wie in dem naturwüchsigen Bedürfnis des Geschlossenen und Positiven ist er seinem Gegenuferer auch sehr ähnlich. Wer wagt es, mir hier ein Wie? entgegenzurufen? Ja, beide Völker sind tüchtige Erdwurzler, gelegentlich auch Fußwurzler. Diese Fußwurzelei der Engländer, dieses Sehnen, Rufen und Fluchen auf dem Festlande nach allen ihren gewöhnlichen Kleinigkeiten und Gebräuchen in Sitte und Leben, dreiste, unausstehliche Komforterei, die knechtische und kindische Gebundenheit an so vielem Kleinen bei einem so großen und ehrenwerten Volke sehen und erleiden wir ja tagtäglich in unseren Dampfschiffen, Gasthäusern und Gesellschaften. Wie die beiden Völker in dem Großen, in dem Verstande, die Welt zu regieren und etwas Festes und Bestehendes zu schaffen, wie sie in Beziehung auf Staat und Kirche so viele gemeinschaftliche Verwandtschaftszeichen tragen, das, meine ich, ist anerkannt und darf auf diesem leichten Blättchen nur angedeutet werden.
»Ja, die beiden Völker sind sehr verwandt, wie auch die Inseln und Küsten und Luft und Meer manchen Verwandtschaftsatem blasen und hauchen. Auch der Engländer besteht aus Sachsen, Friesen, Angeln, Skandinaven, Normannfranzosen (?). Nur ist der große Unterschied entstanden, daß der Engländer ein durch und durch aristokratisches, der Holländer, wie es scheint, ein durch und durch demokratisches Volk geworden ist.
»Was Jean Paul von dem Menschen im allgemeinen sagt, gilt zunächst von dem Deutschen: es nistet in ihm ein verdammter Hang zum Stillesitzen, zur Gemächlichkeit. Er läßt sich wie ein großer Hund lieber tausendmal stoßen und necken, bevor er sich die Mühe nimmt, aufzuspringen, anstatt zu knurren. Ist er freilich nur einmal auf den Beinen, so legt er sich schwer.«
Was Pitt Der englische Staatsmann William Pitt der Jüngere (1759 bis 1806). den Österreichern nachsagte: sie kommen immer um ein Jahr, eine Armee, eine Schlacht, um eine Idee zu spät, das gilt von den Deutschen überhaupt. Zu langsam, zu bedenklich, zu rücksichtsvoll, zu zögersam zu sein, war immer unsere Schwäche und unser Vaterlandsmalheur; die Worte »Mühseligkeit«, »Traumseligkeit«, »Saumseligkeit« und »Redseligkeit« konnte nur der Deutsche erfinden; aber man kann sie ihm verzeihen um der »Leutseligkeit«, die ganz und gar das deutsche humane Gemüt ausspricht.
Es gibt nur ein Ungeheuer, das ebenso unbezwinglich und ökonomisch als die Dummheit, so konservativ und naturwüchsig als sie, aber für den Menschen von Geist und Herz viel unerträglicher ist, weil es auch den Genius mit Überlegenheit und Hohn traktieren darf.
Dies Scheusal, welches bei flüchtiger Bekanntschaft wie ein sehr verständiges, wohlproportioniertes Menschenkind aussieht, ist zwar auf der ganzen Erde gut akklimatisiert, als Vollblutrasse aber nur unter den Norddeutschen in seinem angestammten Element.
Der allbekannte Name des doppelköpfigen Monstrums, dem kein Gott nachhaltig imponieren, das kein Dialektiker zuwiderlegen, kein Prophet zu informieren, kein Dichter und keine Niobe zu rühren, dem kein Held und kein Genie standzuhalten vermag, das kein romantischer Drache bei sich behalten könnte, wenn er es zufällig verschluckt hätte, und welches nur zwei Mächte, nämlich Form und Gewohnheit, respektiert, heißt »Phlegma und Mittelmäßigkeit«!
Dies Phlegma darf aber nicht für die schöne, antike Ruhe des harmonisch geschaffenen und so gebildeten Geistes, nicht für die Paradiesaisance eines schuldlosen und tiefen Gemüts gelten: das norddeutsche Phlegma schlägt gerade so plötzlich wie die bayerische und schweizerische Gemütlichkeit in den brutalsten Jähzorn um, der im liebenswürdigen Volke mit Fäusten oder Messern argumentiert und unter den Honoratioren sich die pöbelhaftesten Erleichterungen erlaubt.
Was nun aber die norddeutsche oder süddeutsche Mittelmäßigkeit betrifft, so ist sie keineswegs das schöne Matz einer gesättigten Kraft, welche aus den Exzentrizitäten des himmelstürmenden Genius, aus der Ebbe und Flut einer höchsten Lebensbegeisterung herausgeboren wird, sondern der Sumpf und Laich einer kalten Seele, eines phantasielosen und frechen Verstandes. Im nordischen Klima, vorzugsweise in Seestädten, in kleinen Nestern und auf dem platten Lande erzeugt sich in einer gewissen Schicht der Gesellschaft unter den Lebensempirikern und unterrichteten Materialisten ein menschliches Froschblut, von welchem die Begeisterung lächerlich, der Humor kurios, die Poesie närrisch, die Phantasie für eine bare Tollheit gehalten wird. In dem Glaubensbekenntnis dieses süd- und norddeutschen Pöbelverstandes, der mit dem Zynismus im Konkubinat lebt und mit Hülfe von naturwissenschaftlichen Studien wie jovialen Umgangsformen auch bei den Honoratioren Eingang gefunden hat, heißt die Großmut eine Überspannung, die Tugend eine Exaltation, die Sorge eine Hypochondrie, jede eifrig gewissenhafte Mühewaltung eine Pedanterie und Wichtigmacherei, die Religion eine Schwärmerei, Herzlichkeit und Freude eine Sentimentalität, der Idealsinn eine Phantasmagorie oder Affektation.
Wer in distinguierter Stellung oder als liebenswürdiger, ideal-naiver Gelehrter, als Reisender, als reicher Privatmann nur mit der Creme der Gesellschaft in vorübergehende konversationelle Berührung kommt, kann freilich das angedeutete Signalement nicht begreifen. Desto besser werden mich aber gewisse phlegmatische Bewohner der norddeutschen Seestädte, desgleichen Bayern, Schweizer und die Personen verstehn, die mit gewissen nord- und süddeutschen Kraftmenschen in großen Frühstückssitzungen oder bei Gelegenheit von Geschäftsdifferenzen Herzenserleichterungen und Privatissima ausgetauscht haben. Wie viel Prozente es solcher Phlegmatiker gibt, lasse ich ungesagt; daß es ihrer gibt, weiß jeder, der sich nicht selbst belügen will und keinen forcierten Philanthropen debütiert. Damit ist aber die Gemeinheit nicht zu Ende.
Es fällt einem Deutschen, der sein Vaterland liebt, sicherlich sehr schwer, zu sagen, daß es in allen deutschen Staaten und in allen Ständen eine Masse verkümmerter, an Leib und Seele verkommener, wurmstichiger, miserabel lebender, miserabel handelnder und so denkender Subjekte gibt; aber es ist leider an dem. In den kleinen deutschen Fürstentümern finden wir ganze Schichten, die nicht nur etwas entschieden Timides, Gedrücktes und Abgerackertes, sondern, falls es ihnen auch nicht schlecht geht, etwas unbeschreiblich Kleinstädtisches, Kleinstaatliches, etwas Naturdürftiges in ihrem körperlichen wie geistigen Habitus verraten. An einzelnen Personagen dieser zerkrümelten Staaten und pulverisierten Korporationen weset eine Krepiere um den schlaffen, dünnlippigen Mund herum, die an Kamel und Schaf gemahnt. Wer auf deutschen Eisenbahnen dritter und vierter Klasse fährt, dem dringen sich trostlose Studien auf: einmal Gesichter und Gestalten, die an den Zichorienkaffee erinnern, den sie zu allen Mahlzeiten trinken; dann wieder Braunbier- und Schnapsphysiognomieen, endlich wohlgenährte, vierschrötige Gesellen mit der Brutalität und Courage eines Stiers.
In Polen, Rußland und Ungarn, auch in Ägypten haben die Arbeitsleute auf dem Lande wenigstens eine gewisse körperliche Kräftigkeit konserviert; einmal weil sie leichtsinniger, lustiger und genügsamer, weil sie abgehärteter, ehrloser, unwissender und roher als die Deutschen sind. In der Türkei kommt dem gemeinen Mann bei der Staats- und Lebensmisere das Phlegma, der Fatalitätsglaube, die Frugalität und das herrliche Klima zu Hülfe, welches ihm einen großen Teil der Sorgen für Bekleidung, Feuerung und eine solide Wohnung erspart.
Italien und Spanien haben an Stelle der wohltätigen türkischen Apathie und Unempfindlichst eine geistige Lebhaftigkeit und Elastizität, welche der Melancholie und körperlichen Schlaffheit entgegenarbeitet, an welcher wir den deutschen Weber und Hungerleider laborieren sehen. Die spanische Melancholie wird von sehr lebhaften, lustigen, stolzen, schnellkräftigen, wehrhaften und rebellischen Perioden abgelöst; der Spanier tanzt, schwätzt und macht seiner Stimmung in Exzessen Luft, während der Deutsche still in sich hineinbrütet, bis ihn Gram, Sorge, Brotneid und verletzter Ehrgeiz fast stumpfsinnig gemacht haben. Allen andern Nationen kommt im Elende die Gleichgültigkeit gegen Schmutz, Unordnung, Zukunft, Hunger und Unbequemlichkeit zu Hülfe, während der Deutsche und Engländer durch seinen Sinn für Reinlichkeit und Ordnung, durch seine Vorsorge gleichwie durch seinen guten Appetit doppelt und dreifach im Unglück gequält wird. Und wie der Deutsche denn in allen Dingen gründlich und abgründlich ist, so zeigt er sich auch so im Gram. Der Engländer setzt dem Elende und dem Unglück wenigstens eine Zeitlang Tatkraft, Charakterenergie oder Humor und Brutalität entgegen; er reflektiert und fühlt nicht so tief. Der Deutsche aber grübelt und schmerzt über seinem Elende so lange und wiederkäut seine Sorge so anhaltend, bis er zermürbt und verdirbt.
Auch die deutschen Großstädter bleiben in vielen Beziehungen Kleinstädter. Der Deutsche hat zu viel Herz und Gemüt, zu viel Pietät und Bescheidenheit, zu viel Detailverstand und Sinn für das Kleinste, das Verborgene, um nicht eben dann die kleinste Welt aufzusuchen, wenn ihn seine Lebensstellung und eine Residenz mit dem großen Strom der Welt zu schwimmen zwingt. Dem deutschen Menschen liegen seine Humore, seine Naturellgelüste viel zu sehr am Herzen, um von dem großen Stil und Rhythmus des Lebens seine krausen Launen glätten zu lassen und sich einem Geschäfte zu unterziehen, welches sich nicht auf irgendwelche absonderliche Herzenssympathieen und -antipathieen reimen oder mit kuriosen Gewohnheiten und Privatstudien vertragen will. Das Familienleben des deutschen Großstädters wird sehr oft in dem Maße kleinstädtisch sein, als seine Geschäfts- und Lebensstellung eine weltbürgerliche ist. Nicht die Kleinstaaterei hat die Deutschen kleinstädtisch und philiströs gemacht, sondern die angeborne Philisterei, d. h. die Mikrologie, die Kleinmeisterei, die Kleinigkeitskrämerei, die Mikroskopie, die Winkelpoesie, die Behaglichkeit in der kleinsten Sphäre, die Absonderungssucht, das Sonderlingswesen, die Originalität im kleinsten Stil, der angeborene Partikularismus, der Individualismus, in Summa die Qualitäten und Talente, welche der Deutsche mit der jüdischen Rasse gemein hat, haben die kleinsten Staaten und die Kleinstädtereien großgeheckt, haben dem Deutschen die Winkelstaaten, die Winkelwirtschaften, die Winkelpolitik, die Winkelreligion, die Winkelphilosophie, das Winkelrecht, die Winkelsitten und Winkelkritik, die Winkelpoeten, die Winkelpropheten und -autoritären so lieb gemacht, daß man sie ihm schwerlich abwendig machen kann, ohne ihm das Eingeweide im Leibe herumzuwenden. Abstrahiert aber von diesen Grundneigungen, zeigt der deutsche Großstädter den echt kleinstädtischen Charakter auf hochkomische Weise in seiner Ehrfurcht vor der Literatur, vor allem Gedruckten und namentlich vor der gedruckten Kritik. Jede größte wie kleinste Stadt hat ihre kritische Autorität; und diese Autorität fühlt sich nicht selten von Opponenten in die Enge getrieben, solange sie spricht. Wenn aber die subjektive Meinung zu einer öffentlichen avanciert, das heißt als objektiv stilisierte Winkelrezension erscheint oder gar in einem öffentlichen, respektierten Organ abgedruckt ist, dann zucken die besten Freunde des verdonnerten Autors die Achseln, denn die Leute mißtrauen viel leichter ihrem eignen Herzen, Gewissen, Geschmack und Verstande als der kritischen Sentenz. Der Deutsche ist ein geborner Kritiker und ebendeshalb ein prädestinierter Autoritätenuntertan; auch folgerecht ein Sklave der Kritik; denn wie sollte ein Menschenkind die Neigung und das Talent zur Kritik oder zum Absolutismus in sich verspüren, ohne auf eine zukünftige Selbstregierung und auf ein Prophetentum hinzuarbeiten; und wie ist denn das Reich des kritischen Absolutismus anders zu konservieren als so, daß jeder Deutsche die kritische Autorität selbst auf Kosten des gesunden Menschenverstandes als unfehlbar respektiert?
Die Karikaturexemplare der deutschen Philisterei sind bis zum Überdruß besprochen und karikiert. Man hat den Pfeffer gepfeffert und gesalzen, um dem Thema vom deutschen Michel und vom deutschen Zopf noch einen letzten Effekt abzugewinnen, aber es dokumentiert sich auch noch etwas anderes im deutschen Philisterleben als eben der politische und ästhetische Zopf oder die michelmäßige Idylle, in welcher »die Mutter die grauen und die Tochter die weißen Enten aufzieht«, oder die Bierstubengemütlichkeit, welche sich in der deutschen Verlästerungssucht bis zum schöpferischen Witz potenziiert und hinterdrein in frommen Gewissensreaktionen eine sentimentale Siesta zu feiern pflegt. Die deutsche Philisterexistenz spiegelt außer diesen Karikaturprozessen auch ein historisches Kulturelement heraus; sie birgt nicht nur einen gesunden Kern von Menschenverstand und Sitte, sondern beruht auf dem Prinzip, in welchem das Grundwesen der deutschen Rasse besteht, auf dem Individualismus, der sich nicht der großen Welt und ihren Formen dienstbar machen will wie der Romane und Slawe, sondern sich von der Persönlichkeit und dem Familienleben zur Welt bildet und diesen Prozeß da abzuschneiden pflegt, wo das Außenleben die individuelle Natur zu absorbieren und das Gemüt zu beeinträchtigen droht. Wenn man dagegen einwenden will, daß eben der Eigensinn und Mechanismus, mit welchem der deutsche Bürger und Kleinstädter den politischen und kosmopolischen Bildungsprozeß inhibiert, seine garstige Borniertheit und Trivialität verschuldet, so ist außer acht gelassen, daß nicht nur Starrsinn und Beschränktheit, sondern daß die erkannte Notwendigkeit einer Abschließung von Verwicklungen mit Geschichte und Politik, mit idealen Lebenskreisen, mit Künsten und Wissenschaften, jene philisterhafte Lebensart diktieren, und daß man nur nach Frankreich gehen darf, um sich zu überzeugen, daß in diesen Ländern die Weltbildung der Massen eine Affektation, eine Frechheit und Lüge, daß sie mit Unsittlichkeit und Irreligiosität gepaart ist, daß sie die Innigkeit des Familienlebens absorbiert hat, während die sogenannte Philistern aus der Liebe zum deutschen Familienleben, zur Wahrhaftigkeit hervorgeht, mit der natürlichen Bescheidenheit und Schämigkeit, mit der Abneigung vor der Öffentlichkeit und Ostentation zusammenhängt und auf diese Weise die natürliche Schutzwehr gegen hohle Weltbürgerlichkeit und falsche Aufklärerei geworden ist.
Der Philister ist ein Gewohnheitsmensch, wie der Pedant ein Formenrigorist; aber wir Deutsche sollten nie vergessen, daß wir der tyrannischen und trivialen Gewohnheit auch die Gewohnheiten und die Treue des Herzens, daß wir ihr die konstant gewordenen historischen Gefühle, die Repetitionen der Vergangenheit, mit einem Worte: das Gemüt und Gewissen als die Grundlage der Charakterstabilität und der Religiosität, der besten deutschen Tugenden, verdanken, daß ohne Gewissen und Präzision in Formen weder eine Geschäftsordnung noch eine solide Kunstbildung und förmliche Wissenschaft möglich ist, daß Philisterei und Pedanterie die deutsche Exzentrizität, die Phantasiestücke, die Geniestreiche und den deutschen Idealismus neutralisieren.
Ein Wort von den deutschen Gelehrten
»Sine ira et studio.«
Man kann es nicht wohl unternehmen, den Deutschen zu charakterisieren, wenn man den deutschen Gelehrten ignorieren will, oder man könnte mit derselben Räson ein Physiolog sein, ohne das Hirn studiert zu haben.
Die echten Gelehrten sehen sich zwar bei allen Nationen schon um deswillen sehr ähnlich, weil sie Männer sind, in welchen der Geist die Herrschaft über den Naturalismus, d. h. über die Sinnlichkeit und Sinnenerfahrung, gewonnen hat. Die Grammatik, die Logik, die Mathematik, der formgebildete Verstand und das Ideenleben geben dem Gelehrten an allen Orten der Welt ein und dasselbe Grundgepräge, eine Familienähnlichkeit; aber der deutsche Gelehrte ist vermöge des deutschen Genius, d. h. des transzendenten Charakters und seiner eklatanten Vernunftenergie, die nicht selten mit einer durch Ästhetik transzendent gewordenen Seele und Phantasie verschmilzt, ein ganz absonderliches Phänomen.
Man weiß nie klar, wie einem von dem deutschen Gelehrten eigentlich mitgespielt wird, weil sich in ihm die Literatur und mit ihr die halbe Weltgeschichte, nämlich die des Geistes, eingefleischt hat. Es ist aber ein kitzliges und verfängliches Ding, nicht nur mit der elementaren Natur, sondern mit den: von der Natur lospräparierten Geist, wenn er sich, zumal wie im deutschen Gelehrten, einen ätherischen Leib aus Formen zugebildet hat; denn diese Formen bestehen ihrerseits wieder nicht nur aus organischen, sondern auch aus mechanischen und konventionellen Schablonen und aus einem sublim gewordenen Schematismus, welcher mit Geist und Seele in einer solchen Weise zusammengewachsen ist, daß im deutschen Gelehrten nicht nur ein schematisierter Geist, sondern eine schematisierte Seele, kurz ein ganz neues Geschöpf studiert werden muß. Durch fortgesetztes Kulturerbe haben sich die angebildeten Eigenschaften, hat sich die Metaphysik in eine Physik und Psychologie, die Literatur und Schule in eine Natur, der Verstand in einen lebendigen Organismus, der deutsche Schreibestil in eine Persönlichkeit und diese in lauter inkarnierte Phrasen und Formeln umgesetzt. Man kann dem deutschen Metaphysiker, Theologen, Grammatiker und Historiker gegenüber nicht mehr sagen, wo Schule, Stil, Dialektik, Form und Konvenienz aufhören, und wo Natur oder Seele und Divination anfängt. Bei Herder, Hamann, Jacobi, Baader, Görres, H. Schubert, Schelling, Steffens, Fichte, Schleiermacher, bei Friedrich Schlegel, Hegel, Feuerbach und Schopenhauer, bei Adam Müller, Bruno Bauer und David Strauß, bei dem symbolischen Kreutzer, dem antisymbolischen Voß und dem besonnenen Ottfried Müller, bei August Wolf wie bei Wilhelm von Humboldt oder bei Niebuhr, Dunker, Mommsen, Bunsen, Curtius, Lepsius und Brugsch sieht man kaum die Grenzlinien der Physik und Metaphysik, der Vernunftanschauung und der Phantasie, der gesetzlichen und der willkürlichen Ideenassoziation, des Denkens und des Seins, der Geschichte und der Dialektik, des Subjekts und Objekts, der Immanenz und Transzendenz, der Symbolik und Buchstäblichkeit, des Schematismus und der Lebensunmittelbarkeit, der Natur und Übernatur. Schon Edgar Quinet Französischer Dichter und Literarhistoriker (1803–75). hat ganz ratlos und hochkomisch aufgerollt vom deutschen Genie geklagt: diesem vertrackten germanischen Genie gegenüber verschwinde der französische Verstand (d. h. der französische Schematismus, der zentralisierende und reduzierende Witz). Klagt doch ohne Unterlaß ein deutscher Philosoph den andern an, er könne ihn nicht verstehen. Nun ist aber gewiß, daß nicht nur die Dummköpfe und die Narren, sondern daß eben diejenigen Denker unbegriffen bleiben müssen, die ihre Philosophie zu einem lebendigen Organismus, zur Persönlichkeit und Seele verwandelt haben, und am wenigsten wird diese Mensch gewordene Philosophie, Geschichte, Grammatik, Poesie, Kunst, Musik oder Kritik von einem zweiten Originalgelehrten und Ästhetiker begriffen werden, der seinem System und Geist wiederum einen aparten dialektischen und ästhetischen Leib zugebildet hat. Schablonen, Mechanismen und Nomenklaturen kann man verstehen; französische und englische Gelehrte verstehen sich untereinander, weil ihr Verstand ein nüchterner und schematischer Verstand verbleibt, weil er sich sehr viel seltner und unvollkommener in Natur und Seele zurücklöst oder in einen lebendigen Organismus verwandelt. Aber der deutsche Genius hat eben das Kriterion voraus, daß er nicht nur aus dem förmlichen Verstande einen überschüssigen Geist, sondern daß er aus der ästhetisch gebildeten Seele eine überschüssige ( alias transzendente) Seele entbindet. Beide Wesenheiten lösen sich aber nicht nur Augenblick um Augenblick in ihre Basen zurück, sondern konstituieren sich als selbständige, reelle Mächte und bilden sich mit der Zeit einen ätherischen Leib zu, welcher die ursprüngliche Persönlichkeit, das ursprüngliche Gemüt und Gewissen ganz so absorbiert wie den ursprünglichen Naturellverstand.
Nur wahlverwandte Genien unter den Dichtern, Denkern, Ästhetikern und Künstlern können sich verstehen. Die andern bleiben sich im Herzen fremd und nicht selten spinnefeind.
Die Bestrebungen der Menschen müssen notwendig einseitig und persönlich sein, weil sie sonst nicht die Kraft hätten, sich Bahn zu brechen. Bei einem hochkultivierten und geistbegabten Volke muß also das Bedürfnis nach einem objektiven und absoluten Urteil entstehen, welches die persönlichen Einseitigkeiten kompensiert, ergänzt und in ihre Schranken zurückweist. Diese Vernunftstimme und ihr Organ, sei es für Kunst, Wissenschaft, Kirche oder Politik etabliert, ist die »Kritik«; sie soll allen Gebildeten den persönlichen und abstrakten, den augenblicklichen und historischen, den relativen und absoluten Standpunkt begreiflich machen. Sie soll die Polizei und Justiz in der Literatur, im Reiche des Geistes, aber weniger in Kraft von Literaturmaßstäben, mit Rücksicht auf Literaturzwecke oder auf Eintagspolitik, als im Interesse der großen Ideen und Mächte ausüben, um derentwillen die Künste, die Wissenschaften, die Literaturen und die Nationalgeschichten wie die Naturgeschichten existieren. Die Kritik soll Wahrheit und Recht, Sitte und Heiligkeit, sie soll die Ideen der Pietät, der Humanität und Kultur, die Macht der Natur wie des Geistes, sie soll nicht nur den Realismus, sondern auch den Idealismus, nicht nur den immanenten und buchstäblichen, sondern auch den symbolischen, transzendentalen Verstand, nicht nur den politischen, den formalen, den Profanverstand, die literarische oder die künstlerische und politische Konvenienz, die Grammatik, die Logik und den Schreibestil oder die öffentliche Meinung und den Gemeinsinn vertreten, sondern auch die Rechte der Phantasie, der edeln Leidenschaft, des Gewissens, des Herzens, der Divination; die Gerechtsame des Charakters, des Gemüts, der Person; die Mysterien des Glaubens, der Liebe, des Schmerzes, der Ehre und Ritterlichkeit. Die Forderungen der Politik, der Zeit und Nationalität, die Industrie und Nationalökonomie können nur unter den Bedingungen der Geschichte, der Religion und der Menschheit, wie die der Form und des Verstandes nur unter den Bedingungen des Wesens und der Vernunft realisiert werden. Die Gottesfurcht darf nicht gesinnungslos und die »Gesinnungstüchtigkeit« nicht gottlos machen. Wo der letzte Zweck und die Totalität nicht ins Auge gefaßt sind, wo der Verstand nicht mit Anschauung und im Gefühl der Weltökonomie, nicht in Kraft der ewigen Ideen, der Gerechtigkeit, des Gleichgewichts der Kräfte, der Lebensintegrität, der Heiligkeit, der Schönheit, der persönlichen Freiheit und Gesetzmäßigkeit arbeitet: da ist alle Geschäftigkeit für nichts; da muß der Witz zum Aberwitz werden. Es gibt keine richtige Praxis ohne Theorie und keinen Verstand ohne Vernunft; also auch keine ersprießliche Geschichte ohne orientierende, rektifizierende und regulierende Kritik. Wer den Tod und das Jenseits nicht erkannt hat, kann das Leben und das Diesseits nicht regulieren. Die Kritik soll die Magnetnadel zusamt der Berechnung ihrer Abweichungen sein. Wenn in der Geisterwelt die Meridiane nicht gemessen, nicht einmal die Weltgegenden bestimmt sind, wie will man dann wissen, ob ein Kurs richtig ist oder falsch? Die Kräfte müssen sich üben und versöhnen, also auch der Witz, der Scharfsinn, die Phantasie und die Kaprice, aber sie dürfen nie die Vernunft verdunkeln. Der Wein kann Mousseux haben, aber er darf nicht aus lauter Schaum bestehen. Gehören die Dummheiten, die Dreistigkeiten, die Einseitigkeiten, Neuigkeiten, Rebellionen und Gärungsmittel zum Leben, so gehört sicherlich auch die Rektifikation und Kritik dazu. Es ist aber freilich ein Elend, wenn die Kritik nur den Standpunkt innerhalb oder außerhalb kennt; wenn sie ganz inklusive, ganz zeitgemäß, ganz national, volksfreundlich und profan oder ganz exklusiv, jenseitig, transzendental ist, oder wenn sie nur den Schreibestil und zwar nach dem Muster des altjungfernden Literaturstils kontrolliert.
So viel ist gewiß, daß nur ein Mensch, in welchem Natur und Geist, Divination und Verstand, Sinnlichkeit und Vernunft zugleich ihre Kommanditen haben, daß nur ein Genius, welcher den Herzpunkt zur Menschenliebe auszudehnen und die Vernunft zu einem witzigen Verstande zu verdichten versteht, zum Kritiker berufen ist; und daß von allen Völkern der Erde nur das deutsche Volk eine Vernunftkultur besitzt, welche seine Literatur zu einer kritischen, d. h. zum Regulativ für alle andern Literaturen machen darf. Augenblicklich steht es mit der deutschen Kritik freilich so, daß die Pedanten ihre Maßstäbe und Ideen nur aus der Literatur und nicht aus der Weltgeschichte, daß aber die Freigeister ihre Prinzipe und Impulse nur aus der Tagespolitik und Naturgeschichte entnehmen. Der Volksinstinkt und Zeitgenius haben sich immer noch nicht in einem neuen Propheten inkarniert.
Die Welt ist ein Wunder, aber ein Gelehrter geht weit über alle Wunder und ein deutscher Rezensent über alle Gelehrten und Ungelehrten hinaus. So ein Natur- und Geschichtsforscher, Mythologe und Philosoph verspeist das bißchen Natur- und Weltgeschichte, und es liegt ihm freilich im Magen; was soll man aber von den Verdauungskräften und dem Appetit der Leute denken, die wiederum jene Universalmenschen, jene Allverschlinger verschlingen, ohne daß man es ihrer Taille, ihrem Stil oder ihrem Witz und Gewissen anmerken kann? Letztlich ist noch zu bemerken, daß Rezensenten keinmal satt gegessen oder nur je von chronischer Nüchternheit geheilt worden sind.
Wie dem auch sei, der Kritikus denkt so: was ist Natur und Genie oder Poesie und Seele oder Lebensbegeisterung und Märchenphantasie oder Lebenspraxis und Prophetie, was ist die ganze Natur viel anders als ein himmelblaues, grasgrünes, romantisches Wirrsal, in welches die kritische Naturphilosophie erst klassischen Menschenverstand und einen objektiven Schematismus hineinpraktizieren muß? Was haben Gras und Kraut zu bedeuten, solange sie von der medizinischen oder von der Schäferkritik nicht für Heilkräuter deklariert werden; was ist Bohnen- und Linsenmehl, wenn es die Physikatskritik nicht gefälligst in » revalenta arabica« Vgl. S. 211, Anmerkung. übersetzt; was sind Galvanismus und Elektrizität, wenn aus ihnen die öffentliche Patientenmeinung nicht rheumatische Ketten Ketten und Gürtel, geladen mit elektrischer oder galvanischer Kraft und getragen zur Heilung rheumatischer Leiden. fabriziert? Was tut man also mit der unrezensierten Natur und mit dem nackten Leben? Was tut man selbst mit der Gesundheit ohne einen kritischen Arzt, der ihr durch Rezepte den bestialen Charakter benimmt und es der Krankheit an der Nase ansieht, daß sie nur eine verkleidete Gesundheit ist?
Glaubt denn heute irgend ein modern gebildeter Deutscher im heiligen Ernste an seine Seele und Unsterblichkeit, an seinen Fürsten, sein Vaterland oder an einen Gott im Himmel, wenn er nicht aus einer Naturgeschichte durch die Herrn »von Stoff und Kraft«, durch einen Leitartikel oder aus der öffentlichen Literaturmeinung entnimmt, daß jene guten Dinge mit der politischen Gesinnungstüchtigkeit verträglich, daß sie nicht in Verruf getan, vielmehr solche Dinge sind, die man mit der neuesten Naturkunde, Nationalökonomie und Sozietätsphilosophie bequem zusammenrennen kann? Und wenn einer auch ein Solodenker und Metaphysiker ist, der über den modernen Realismus hinausgeht, muß er dann wieder nicht sein Ich von einem Oberphilosophen verassekuriert sehen? Aber Heil uns, daß wir kritische Deutsche sind!
Wenn es keine Rezensenten gäbe, so wäre das Chaos und die babylonische Verwirrung zusammengetraut, so müßten wir unrezensierte Bücher lesen, unrezensierte Notabilitäten respektieren, unrezensierte Eier verschlürfen und dgl. verzweifelte Dinge mehr. Ob man z. B. nach Zentralafrika hinein oder von da hinaus mausete, ob man einen Blaustrumpf zur Mutter und eine gelehrte Hose zum Vater hätte: es wäre alles für nichts; man käme vom unrezensierten Ort und durch unrezensierte Kräfte zur Welt; man wüßte also nicht, wer man förmlicher- und rezipiertermaßen wäre; man hätte das Paßvisa nicht!
Mein Himmel! was wäre der Himmel, die Religion, die Naturgeschichte, die Weltgeschichte, die Liebe, der Roman des Lebens, das Wachsein und der Traum ohne Rezensenten und stehende Rezension? Was ist ein moderner Sterbender, ein lichtfreundlicher Dichter und Denker in den letzten Zügen, was sind wir alle, wenn wir unrezensiert leben und sterben müssen, ohne zu wissen, was unsere Herzens- und Hirngespinste wert sind, zu welcher Schule und Kategorie wir gehören, und welcher Platz uns im Himmel angewiesen ist? So scheint es beinahe, ist aber nicht so schlimm. Die Tageskritik hat nicht mehr und weniger zu bedeuten als der moderne Verstand. Von der Unsterblichkeit des seelenlosen Verstandes steht nichts in der Heiligen Schrift. Ich denke also, die Tagesrezensenten sind nur die Hofnarren der echten Gelehrten, Propheten und Helden, denen sie zum Spaß die »Wahrheit« sagen und verzerren dürfen, damit die Kolossalzüge der himmlischen Göttin an dem kritischen Karikaturbilde desto faßlicher hervortreten.
Ein Schuster fühlt es dem Kalbleder mit den Fingern an, ob das Kalb Heu gefressen hat. Ein Kritiker sollte nun wenigstens so viel Schustergefühl oder Tastsinn haben, daß er es den Literaturhäuten, d. h. den Schriften anmerkte, ob ihre Verfasser die Milch des Lebens gesogen oder das Heu und Häckerling der Literaturgeschichten (z. B. mit geistreichen Arabesken verzierten Nomenklaturen) gefressen haben. Aber von diesem Talent besitzen die kritischen Tyrannen unserer Tage entweder keine Spur, oder sie machen die verkehrte Nutzanwendung von demselben; sie wollen eben das gelahrte Heu und Stroh heraustasten, welches sie selbst durch sieben gelehrte Mägen zu einem Literatursaft, zum Literaturfleisch rektifiziert haben. Also wehe den Eindringlingen der Literatur, die ihre Nahrung unmittelbar aus den Brüsten des Lebens und nicht aus dem ungeheuren Literaturtintenfaß beziehen, mit welchem verglichen das Heidelberger Weinfaß kaum einen Fingerhut vorstellen darf!
Wir alle sind freilich mehr und weniger wie ein altes Papier, das immer wieder in seine alten Kniffe und Falten zurückfallen muß; aber die Literaten, die Literaturkomödianten dieser Welt gehören zu den künstlich gekniffenen Papieren, aus denen die Taschenspieler nach Belieben ein Jabot, eine höfliche Manschette oder ein impertinentes Visier, ein altmodiges Schlafsofa oder eine moderne Laterne und was weiß ich mehr machen können. Wenn man sich dies kunstgekniffene Universalpapier lebendig vergegenwärtigt und dabei an Montaignes Ausspruch denkt, welcher treffend sagt, daß sich nichts so leicht an alle Irrtümer schmiegt als unser Verstand; daß derselbe dem Schuh des Theramenes Bezieht sich auf die politische Wankelmütigkeit des feingebildeten, klugen und beredten, aber charakterlosen Atheners Theramenes (5. Jahrh. v. Chr.), der von der volksfeindlichen Partei zur volksfreundlichen, dann wieder zu jener überging. gleicht, der jedem Fuße paßt, dann braucht man wenigstens nicht mehr im Zweifel zu sein, worin die universellen Talente und Kunstfertigkeiten der Literatenzunft begründet sind. Finger- und phrasenfertig wenigstens sind sie, daß es einen Menschen, der nicht zum Handwerk gehört, förmlich verblüffen muß; aber über diese Form, diese Stilfertigkeit, über den Literaturleisten geht's selten mit ihnen hinaus.
Ich bin bekanntlich gegenüber der Kirche, dem Staate, der Justiz kein Verehrer des nackten Naturalismus und der kitzligen Persönlichkeit; aber vis-à-vis den modernen, hetärenhaft aufdringlichen Literaturliebenswürdigkeiten im populären Stil, der gleichwohl ein hölzerner, längst krepierter Literaturleisten bleibt, da schwärme ich für die Rechte »der süßen heiligen Natur« und wünsche, die schulfüchsigen Literaturhelden, die Eintagspropheten gingen wenigstens auf der natürlichen Spur, da sie von der übernatürlichen so wie so nichts verspüren.
Man hat dem Deutschen nicht mit Anrecht die Lästerzunge vorgeworfen. Er versteht es, in Wirtshäusern und in Boudoirs, in vertrauten Mitteilungen und in Schandkritiken die Leute zugleich naiv und kritisch abzutun, die ihm widerwärtig oder unbequem sind. Der Franzose plaudert und treibt Spaß, der Pole macht seinen Affekten Luft, der Italiener verfolgt und intrigiert bis auf den Tod, oder er klatscht aus Langerweile wie ein alt Weib, er lästert aus Mangel an reellem Stoff und getrieben von seinem lebhaften Geist. Der gebildete Russe wie der Spanier strebt mit der Verlästerung einen bestimmten Zweck an: der Gegner wird moralisch oder körperlich aus dem Wege geräumt; die Lästerung ist nur das Mittel dazu und wird eben Intrige, indem sie ein letztes Ziel und einen bestimmten Gegenstand ins Auge faßt. Der Franzose, der Pole, der Italiener, der Spanier, sie alle fühlen sich nur vorübergehend und bei bestimmter Veranlassung zu Verunglimpfungen aufgelegt, die schon darum in die Klasse der Mokerieen gehören, weil sie gewöhnlich aus Laune und Geist um des Amüsements und des Witzes willen verschuldet werden. Der Deutsche aber macht aus giftigen Bemerkungen und Zwischenträgereien sehr oft eine witzlose und langweilige Lebensart, eine permanente Herzenserleichterung, die so sehr zur andern Natur wird, daß er sie um ihrer selbst willen, wie den Genuß starker Getränke, wie irgend eine Hausmedizin brauchen muß, wenn er nicht die letzten Springfedern seiner geistigen Regsamkeit und seine Lebenslust verlieren soll. Man kann ihm leichter Schnupf- und Rauchtabak verbieten. Er verleumdet zu gründlich, zu scharfsinnig, ruhig, ernst und überlegt, um ein bloßer Klätscher, Plauderer oder so einer zu sein, der für eine ihm widerfahrene Unbill augenblickliche Revange nehmen muß. Es handelt sich bei der deutschen Lästerung um eine tiefeingewurzelte chronische Lebensart, um ein Lebensbedürfnis, eine Gesundheitsmaßregel, Diät, Berauschung, um ein Opiat. Der Deutsche kann ohne diesen Stimulus nicht sein. Er will niemand vernichten, will nur schaden, wenn er in Person angegriffen ist; aber er will räsonieren, er braucht Persönlichkeiten, die er bemakeln und zergliedern kann. Er ist ein geborner Physiolog und Psycholog, auch wenn er nicht Philosophie studiert hat. Er muß also den Leuten ins Eingeweide greifen, er muß es herauswenden; er muß sich und andere im Reflektieren, im Mokieren und Interpretieren deutlich machen, wie der Nebenmensch organisiert, was er eigentlich wert ist, und wieviel in der vergleichenden Anatomie oder wenn man ihn an eine Norm hält, noch von ihm übrigbleibt. Der Deutsche ist ein gründlicher, ein unergründlicher, ein abgründlicher Mensch. Er ist alles ganz und gar; er ist also auch so gründlich närrisch oder gemütlich in der Verlästerung; nicht weil er Unheil stiften, sondern weil er seine Naturanlagen, sein Talent und seinen Drang entwickeln will; und zu diesem Drange gehört auch das Räsonieren, die Kritik, das Taxieren, das Ab- und Auswägen bis auf ein Haar; gehört die vergleichende Methode auch in der Blasphemie. Der Deutsche urteilt über seinen Mitchristen trotz des Christentums (oder vielmehr erst durch dasselbe gestärkt, geharnischt und potenziert ) mit demselben Eifer, mit derselben Beharrlichkeit ab, wie wenn von seiner Sentenz das Wohl und Weh der Weltgeschichte und Wissenschaft abhängig wäre. Er ist ein geborner Schulmeister und Schülermensch; er schreibt also Zensuren mit dem Munde, solange er lebt. Da sich dies nicht mit Gründlichkeit und Bequemlichkeit den Leuten ins Gesicht machen läßt, so geschieht's im Rücken; das ist die Naturgeschichte der deutschen Verlästerung. Sie ist unserm Menschenschlage so sehr eine andre Natur, daß diese Sünde uns nicht einmal Gewissensbeschwerden macht, wiewohl wir zur gewissenhaftesten Rasse des Erdbodens gehören. Die Lästersucht ist die zur Leidenschaft gewordne Kritik, und diese selbst geht beim Deutschen aus einer Urteilskraft hervor, deren Entwicklung bei keinem andern Volke sich als einen so vorherrschenden Prozeß darlegt. Wer ganz und gar aus Gefühl und Gewissen besteht, pflegt in irgend einem Punkte ganz gefühllos zu sein; den umgekehrten Fall kennt man an Giftmischern und Raubmördern; sie zeigen sich mitten in ihrer Gewissenlosigkeit, Unbarmherzigkeit oder Lüderlichkeit plötzlich gefühlvoll oder skrupulös und präzis. Jedes Organ und Talent im Menschen hat seine Ruhe, seine Unruhe, sein Luftloch, seinen Verschluß und seinen kitzligen Fleck. Große Genies erscheinen unbegreiflicherweise in solchen Situationen und Dingen stutzig, schwierig oder vernagelt, über die jeder gewöhnliche Menschenverstand mit richtigem Instinkt und Urteil, mit dreistem Griff und Pfiff hinwegkommt; aber, was kein Alltagsmensch zu begreifen und zu handhaben weiß, ist dann wieder dem Genie Kinderspiel. Das sind so die Spiele und Launen der Natur an Rassen und Individuen; und die deutsche Rasse ist gründlich mit Launen, Spielarten und Widersprüchen bedacht; das heißt im vorliegenden Falle: die deutsche Kritik und Lästersucht wird immer wieder von erhebenden Zeugnissen der Gerechtigkeit, der Billigkeit, der Wahrheitsliebe, der Gewissenhaftigkeit abgelöst; also sei auch die deutsche Kritik pardonniert. Nach einer Notiz der Originalausgabe wurde das Manuskript an: 10. November 1859 in Thorn abgeschlossen.