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IV. Das deutsche Volksmärchen

»Die Märchen nähren unmittelbar wie die Milch: mild und lieblich; oder wie der Honig: süß und sättigend, ohne irdische Schwere.«

Jakob Grimm.

»Die Nationen gleichen sich alle in der Unergründlichkeit und romantischen Tiefe ihres Gemüts; der ganze Volkscharakter ist es, der sich den Elementen der Natur wahlverwandt zeigt und in seinen unwandelbaren Sitten, seinen plastischen Leidenschaften und poetischen Intentionen an die verschiedenen Himmelsstriche, Naturreiche und Naturprodukte gemahnt.

»Wir finden in jedem Volke etwas Heiliges und Unbegreifliches, was da ist, ohne daß man weiß, wie und woher. Die Sitten und Institutionen prägen nicht alles aus, was in der Seele der Völker schlummert; Volkslieder, Volksmelodieen, Märchen und Sprüchwörter deuten auf ein ideales Reich, dem die Form oft nur andeutungsweise und bildlich entspricht.

»Die Geschichte der Volkspoesie zeigt uns, ganz so wie die Weltgeschichte, die wechselnden Momente und Gestalten der Wirklichkeit an einem Absoluten, d.h. in Kraft eines übersinnlichen, unwandelbaren Prinzips. Dieses Weltabsolute der Volkspoesie ist aber kein begriffnes oder deutlich angeschautes Ideal. Es gibt sich im Liede als eine ideale Lebensfühlung, als unbestimmte Sehnsucht und Wehmut, im Märchen dagegen als der Glaube an eine sittliche Weltordnung kund, als ein symbolischer Verstand, welcher in den menschlichen Geschichten wie in der Natur übernatürliche Mysterien zurückgespiegelt fühlt, die sich jeder Analyse wie Konstruktion entziehn.

»Jeden Augenblick schließt die Geschichte den Kreis; aber im Volkscharakter selbst fließt ewig die Quelle neuer Kräfte und Bildungen aus Tiefen hervor, die wir als den zeugenden Schoß Himmels und der Erde erkennen.

»Das Volksfundament ist freilich ein elementarer Naturalismus, ein Meer, aber der Geist Gottes schwebt darauf noch heute wie vor dem ersten Schöpfungstag. Die Masse des Volkes und seine Geschichte ist voll elementarer Prozesse, ist wie die See, die nur mit Hülfe der Sterne beschifft wird, von der man keine Probe in einer Flasche fortnehmen und für den Durst trinken kann. Mit der Hand geschöpft, rinnt das Meerwasser farb- und formlos durch die Finger: aber seine Masse schlägt Wellen, zeigt Ebbe und Flut, spiegelt das Blau des Himmels und das Licht der Gestirne zurück.«

(Zur Charakteristik des Volkes von B. Goltz)

*   *   *

Diese Tatsachen sind es, welche sich in der Poesie des Volkes, in seinen Liedern, Märchen und Sprüchwörtern zurückspiegeln. Wer sie verstehen und richtig würdigen will, darf nicht an Einzelheiten hängen bleiben, sich nicht in spitzfindigen Analysen und Analogieen oder in Kombinationen und in abstrakten Konsequenzen gefallen; er darf auch nicht an der Form einen Anstoß nehmen; denn diese Form ist es eben, welche bald einen skizzenhaften und schematischen, bald einen rätselhaften, sich sprungweise entwickelnden, oder einen rohen und ungeheuerlichen Charakter darlegt. Aber das Ganze der Märchen, der Lieder und Sprüchwörter, der Geist, der durch ihre Widersprüche und Abenteuer, durch ihren Witz, ihre krausen Humore geht, der ihre materiellen Trivialitäten im Wechsel mit dämonischen Leidenschaften zum einheitlichen Ganzen bildet, ist der Sinn und Geist dieser Erdenwelt, die ja ebenfalls in den Gegensätzen von Geist und Materie, von Tod und Leben, von Freude und Schmerz, von Scherz und Ernst, von erhabenen und nichtswürdigen Leidenschaften, von Glaube und Zweifel, von Weisheit und Narrheit, von Haß und Liebe, von Tugenden und Lastern, von Äther und Staub prozessiert.

Bevor ich zur speziellen Charakteristik des Märchens übergehe, schicke ich derselben ein paar Notizen aus Wolfgang Menzels Studien über das deutsche Volksmärchen voraus.

Die heidnischen Elemente desselben werden von jenem Autor (in seinem neuesten Werke: »Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit«) Stuttgart 1858–59, drei Bände; 2. Anflugs Leipzig 1875. ganz vortrefflich so aufgefaßt:

»Die unendlich reiche Märchen- und Sagenpoesie, die sich seit grauen Jahrhunderten von Munde zu Munde beim Landvolke fortgepflanzt hat, umfaßt hauptsächlich die Erinnerungen der vorchristlichen Heidenreligion. Denn was sie später in ihre Strömung mit fortgerissen hat, Erlerntes von andern Völkern, das bildet nur einen verhältnismäßig schmalen Rand um die breite Mitte des heidnisch Nationalen. Und wie auch die äußere Fassung sich verändert hat und vieles christianisiert und modernisiert worden ist, überall verrät sich doch der altheidnische Inhalt. Das eigentümlich Phantastische in dieser Poesie liegt in der heidnischen Naturauffassung. Der Grundzug bleibt aber immer ein sittlicher. Auch das Wunderbare, Schreckliche und Lächerliche wird immer unter den Gesichtspunkt der Ehrlichkeit genommen. Ein tiefes Rechtsgefühl und die anspruchslose Zaubergewalt der Unschuld beherrschen diese ganze Märchenwelt. Sie ist der älteste und treueste Spiegel des Volkscharakters.«

Riesenmärchen. Auch diese in Anführungszeichen gesetzten Darlegungen sind Zitat aus Wolfgang Menzels Werk; sie verbinden – unter mehrfachen Weglassungen – Teile aus Menzels Abschnitt »Riesenmärchen« mit solchen aus dem Abschnitt »Zwerg- und Elbenmärchen«.

»In der deutschen Sage wird vorausgesetzt, die Riesen seien vor den Menschen dagewesen. Sie gelten nur als die personifizierten Elemente und rohen Naturkräfte. Sie waren die alleinigen Herren der Natur, ehe die Menschen und die für die Menschen besorgten Götter kamen. Als ein rohes Volk von ungeheurer Größe befanden sie sich am Anfange allein auf der Welt. Die nordische Hervararsaga schildert das ursprüngliche Riesenreich als ein freundliches unter König Godmund. Erst als die Zwerge und Elben, Götter und Menschen kamen, trat das Bösartige im Riesencharakter hervor, weil die rauhen Elemente im Winter, Überschwemmungen, Bergsturz, unfruchtbare Nässe, Sturm ec. die Pflanzen- und Tierwelt und den menschlichen Anbau zerstören.

»In den norddeutschen Ebenen ist alles, was über die Fläche sich erhebt, nach der Sage von den Riesen zufällig hingeworfen und liegen gelassen worden. Hügelreihen und Dämme sind Sand und Erde, die einer Riesin durch ein Loch in der Schürze, in der sie dieselben trug, herausliefen. Die zahlreichen, vereinzelt in der Ebene liegenden zerstreuten Blöcke sind nach der Volkssage von Riesen im Kampf oder Spiel geworfen oder zufällig, häufig auch im Zorn, fallen gelassen worden.

»Die Riesen selbst stellen nur die anorganischen Elemente dar und bedürfen keiner Speise wie die Tiere und Menschen, ja alles, was mit der Nahrung dieser jungen Eindringlinge in die Schöpfung zusammenhängt, ist den Riesen verhaßt. Wie sie schon den Pflug von sich gewiesen haben, so ist ihnen noch mehr zuwider, was durch den Pflug hervorgebracht wird, nämlich das Brot.

»Wie sich die Riesen benahmen, nachdem die unfruchtbare Erde sich je mehr und mehr mit Vegetation und Saaten überzogen, erhellt am deutlichsten aus der berühmten Tiroler Sage von der Frau Hütt.

»Diese Frau soll eine Riesenkönigin gewesen sein, die das damals noch mit Wäldern und Wiesen bedeckte Hochgebirge über Innsbruck beherrschte. Als sie einmal ihr Söhnchen, das in den Schlamm gefallen war, mit Brot abrieb, wurde dieser Mißbrauch der Gottesgabe durch ein Ungewitter bestraft, das ihr Reich in eine Eiswüste verwandelte und sie selbst versteinerte.

»Wie das Pflügen der Erde, so ist auch das Häuserbauen den Riesen zuwider. Jeder Stein gehörte ursprünglich den Riesen und war gleichsam ein Glied des Riesenkörpers selbst. Seine Verwendung im Dienst und Nutzen der Menschen ärgerte die Riesen. Daher die vielen örtlichen Sagen von großen Steinen, die ein Riese, eine Riesin (oder nach christianisierter Vorstellung der Teufel) auf menschliche Wohnungen, Mühlen, Kirchen und auf ganze Dörfer geworfen haben soll.

»In den Bergzwergen werden die Metalle, die unterirdischen Feuerkräfte, in den Elben die zarteren Lufterscheinungen, dann hauptsächlich die Pflanzen und Tiere vergeistigt. Aber nicht bloß einzelne Blumen, Bäume, Tiere nehmen elbischen Charakter an, vielmehr wird in den Elben auch der ganze zauberhafte Eindruck einer Gegend, ja eines Moments in der Natur personifiziert, der Geist der Landschaft, der Flora und Fauna: es lag im deutschen Gemüt und liegt noch darin, sich durch die äußere Natur geheimnisvoll anfremden zu lassen. Das ist der tiefste Grund alles sogenannten Romantischen. Aber es ist viel älter als die christliche Romantik des Mittelalters. Schon unsern heidnischen Vorvätern trat der Geist der Landschaft, jenes wunderbare Geheimnis, das in den Wipfeln des Waldes rauscht und in den Wellen am Ufer, in der reizenden Gestalt einer Waldminne oder Meerminne entgegen, und alles Ungewöhnliche, vom Gemeinen sich Hervorhebende, Charakteristische, Wunderliche, Anziehende und Schreckhafte an Pflanzen und Tieren erschien ihnen als elbischer Spuk. Die ganze sie umgebende Natur wurde in diesem Sinn zu einer Geisterwelt.

»Die Riesen sind den Menschen an Körper, die Elben an Geist überlegen, aber beide entbehren die dem Menschen allein angehörige Seele. Die ganze organische Natur ist von Geist durchdrungen, aber ohne Seele. So alt wie die Metalle im Innern der Berge, so alt sind die klugen Bergzwerge selbst, so alt wie die majestätische Eiche und Linde auch der darin wohnende Elbe. Alle übertreffen den Menschen weit an Erfahrung. Als Geister der Natur beherrschen sie die geheimnisvollen Naturkräfte und bringen Werke hervor, die viel kunstreicher sind als alles Menschenwerk. Man sollte bisweilen glauben, die alten Deutschen hätten schon von den Fernwirkungen der elektromagnetischen Kraft und von der Macht des Gases eine Ahnung gehabt, so genau stimmen oft ihre Vorstellungen von der Magie der Elben damit überein. Aber bei all dieser Geistesmacht haben die Elben keine Seele. Diese Entbehrung fühlen sie schmerzlich und sehnen sich daher nach dem innigsten Verkehr mit den Menschen, rauben menschliche Kinder nur aus Liebe, um sich einzubilden, es seien ihre Kinder, und hoffen durch liebende Vereinigung mit den Menschen eine Seele zu bekommen.«

*   *   *

Mit diesem Begriff unsrer Voreltern von der Seele, mit dieser wundervollen Kraft und Ausdrücklichkeit des Glaubens der alten Deutschen an die Menschenseele, an ihre reelle Existenz und ihren absoluten Wert muß man die Lehre der Herrn »von Stoff und Kraft« Zu ihnen gehören die deutschen Philosophen L. A. Feuerbach und Strauß sowie die Naturforscher Vogt, Moleschott und vor allem Büchner. und den Beifall vergleichen, den sich der Materialismus bei den modernen Massen erwirbt, um zu wissen, wie tief die modernen Fortschritte ins Gemüt hinabreichen. Das Volksmärchen würde unsre Errungenschaften zu der Kunstfertigkeit der Bergzwerge, zur Körperkraft der Riesen, zu dem seelenlosen Verstande der Elfen, der Luftgeister zählen, aber schwerlich erzählen, daß diesen Kobolden, Geistern und Titanen der Neuzeit »eine Sehnsucht nach der unsterblichen Seele« innewohnt. Unsern Naturforschern gilt die Seele etwa für das beste Einpöklungsmittel – und nebenbei für das belebende Prinzip; das Leben selbst als Mittel für Nationalindustrie.

Das deutsche Volksmärchen ist eine wahrhaftige Naturgeschichte der deutschen Sitte und des deutschen Gemüts. Bei keinem Volke der Welt sind wie bei den Deutschen Seele und Verstand so ehrlich versöhnt und doch so neckisch kontrastiert; bei keiner Menschenrasse ist die Phantasie so liebenswürdig, so plastisch und doch so transparent in die Wirklichkeit hineingebaut, sind Traum und Wachen, Natur und sittlicher Geist, Pantheismus und Gottesglaube so paradiesschön zusammengetraut. Jede Falte und jeder Winkel des Märchenherzens atmet Menschenliebe, Blumenduft, Religion und Gerechtigkeit. Naturliebe und Gottesfurcht, Heimweh und Wanderlust in die weite Welt, Eigenart und Selbstvergessenheit, Herzenssympathieen und -antipathieen, Kleinmut und Trotz auf eigne Kraft, Einfalt und Grübelei, Wunder- und Zweifelsucht, Herzenssorge und leichter Sinn, Schwermut und Ausgelassenheit, alle Gegensätze des Menschengemüts sind im deutschen Märchen zu einer Wunderwelt, zu einer Lebensart versöhnt, die uns mit Adamskräften anhaucht und auf Engelsflügeln durch alle Weltreiche führt.

So voll Mitleidenschaft für das Geringste und voll Tiefsinn für das Größeste, so mutterwitzig und so herzig zugleich; so schalkhaft-spaßig und so voll süßer Melancholie, so flatterhaft und gewissensängstig, so verwandlungsvoll und so selbstgetreu, so vom Lebenswein, vom Lebenswunder berauscht und so naiv-brüderlich mit dem Tode gepaart ist nur der deutsche Märchenhumor. In ihm hat der Himmel Kindesunschuld und Prophetenweisheit, den Liebreiz des Weibes und die Gedankenkraft des Mannes, hat er die Blüte und Frucht des deutschen Gemüts und Gottesgewissens zutage gelegt und doch in den Duft des Paradiesgartens gehüllt.

Wenn wir an einem stillen Wasser stehen, so verschmelzen Licht und Finsternis, so sehen wir die Wolken und die Ufer zurückgespiegelt, und auf den blauen Tiefen des Himmels schwimmt unser Gesicht. Wir baden nackt im Elemente, es näßt und erfrischt unsre Glieder, wir tauchen unter, aber wir begreifen nichts von dem himmlischen Wunder, auch wenn es uns als verschmachtete Wanderer aus dem Felsenquell erquickt und dem Leben wiedergibt. Ganz so geschieht uns im Märchen. In ihm allein, wie in keiner andern Poesie, ist das Idealste, das Unerreichbarste mit dem Nächsten und Handgreiflichsten getraut. Das deutsche Märchen legt uns in die Fesseln des Traums, und doch fühlen wir uns so frei und leicht wie in unsrer wahren Natur. Wir werden so erfüllt und doch so erleichtert und aufgeräumt; wir erfahren so neubegierig eben das, was von Anbeginn im Seelenabgrunde lag. Uns ist so geweckt und verständig zumute wie kaum im wirklichen Leben, und gleichwohl verkehren wir mit guten und bösen Geistern, mit Hexen, Riesen und Zwergen, mit Tod und Teufel »Du auf Du«.

Wenn man nicht wüßte, wie man leben soll, in welchen Segnungen und Mysterien, in welchen Arbeiten, Sorgen, Freuden und Leiden, Torheiten und Lebensregeln die Welt besteht, so könnte man die himmlische und irdische Lebensökonomie aus dem deutschen Volksmärchen anschaulicher und erbaulicher lernen als aus irgend einem Buche der Welt, mit Ausnahme der Heiligen Schrift. Wie schön, wie tief aus dem Menschenherzen und der lebendigen Wahrheit ist der Zug gegriffen, daß Leute, die in Reichtum und Herrlichkeit leben, trostlos bleiben, weil sie keine Kinder haben; und daß sie sich zuletzt glücklich im Besitze eines »Däumlings« fühlen, der ihnen nach jahrelangen Wünschen und Gebeten vom barmherzigen Himmel beschert wird.

Ich lass' es mir nicht nehmen, nur ein Menschendasein, das so absolviert wird, wie es im deutschen Märchen geschieht; nur eine Welt, in welcher die Menschen so arbeiten und sorgen, so fromm, so herzenseinfältig und zugleich so mutterwitzig, so munter und schwermütig, so närrisch und gescheut, so lebensneugierig und doch ihren Lebensgewohnheiten so getreu sind; nur eine Welt, in welcher die Menschen das Kleinste und Größeste so grüblerisch und doch so gläubig überdichten und überdenken: das ist die Welt nach dem Willen Gottes und der Natur. Diese Märchenmenschen verwirklichen das segensreichste Leben, die wahrhaftigste Humanität.

Man darf nur den ersten besten Charakterzug des Märchens ins Auge fassen, um von dem sittlichen und religiösen Geiste ergriffen zu werden, der in diesen Volksdichtungen verkörpert ist. Wolfgang Menzel führt unter einer Fülle von höchst frappanten Beispielen an:

Aus Menzels Abschnitt »Nixenmärchen«, aber kompiliert aus zwei Stellen. »Wer die Gaben des Meeres mißbrauchte, verlor sie genau nach demselben Gesetz, nach welchem der Mißbrauch des Feldsegens bestraft wurde. Dies gilt von den Fischen wie vom Bernstein; nicht minder von den heilkräftigen Quellen. Eine Heilquelle versiegte, als sie mit einem Zoll belegt ward« (Wolf, D. Märchen Nr. 266).

Von der Insel Helgoland geht noch heute die Sage, das Meer habe dort von Heringen gewimmelt, aber sie wären verschwunden, weil die Einwohner einst gefrevelt, indem sie einen gefangenen Hering mit Ruten gepeitscht und wieder ins Meer geworfen hätten, oder weil ein Weib, welches nicht Gefäße genug hatte, die Menge von Heringen aufzubewahren, einen Teil derselben mit dem Besen ins Wasser gekehrt hätte. Ähnlich wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte alle Grundzüge der Menschennatur, die Grundfesten des menschlichen Daseins in ihrer ewigen Bedeutung zusammengefaßt und aufs eindringlichste hervorgehoben sind, hat auch das deutsche Märchen die Heimat, das Familienleben, seine Sorgen, seine Arbeiten, Leiden, Freuden und Verwickelungen zum Mittelpunkte seiner Darstellungen gemacht. Der Hauptsegen der Eltern sind die Kinder, gleichwie für diese das elterliche Haus der Ausgang und Schluß verbleibt. Die Abenteurer treiben sich in der halben Welt umher, um zuletzt zu fühlen, daß es nur ein Glück, ein Heil gibt: Elternsegen, Heimat, stillen, geordneten Fleiß, Vätersitte, Väterglaube, Arbeit und Gebet.

Abenteuer, Hexereien, Gewölbe mit Edelsteinen und Goldsäcken, Riesen und Zwerge, Ungeheuer und redende Tiere, belohnte Tugenden, bestrafte Bosheiten und glückliche Hochzeiten haben die Märchen aller Zeiten und Völker, vor allen Dingen die arabischen aus »Tausendundeiner Nacht«. Aber ein deutsches Gemüt kann aus einem wüsten Haufen von Phantastereien keine dauernde Genugtuung beziehen. Die deutsche Volkspoesie hat doch ein besseres Rezept als gute und böse Genien, endlose Verzauberungen, jähe Glückswechsel, reiche Geizhälse, weise Derwische, törichte Kaufleute, tugendhaft-verliebte Prinzen und unschuld-schöne Prinzessinnen mit Sklavinnen, die sich auf heimliche Rendezvous ihrer Herrin in duftenden Orangengärten verstehen. Wenige von diesen orientalischen Nebelbildern und Metamorphosen sind mit Humor und Mutterwitz gewürzt. In den italienischen Märchen gibt es außer den grob gezeichneten Grundzügen der Menschennatur und des menschlichen Lebens noch eine plump an den Schluß gehängte Moral, von welcher Glück und Klugheit zur Weltreligion gestempelt werden.

Man muß sich an den orientalischen und romanischen, an den slawischen Tiermärchen, an den absurd ungeheuerlichen Phantastereien der Kalmücken und Tataren, an der altnordischen Mythologie müde, wüste und trostlos gelesen haben, um das wunderschöne, heile Menschentum zu würdigen, welches nicht nur in den Weisheitssprüchen des deutschen Märchens obenauf liegt, sondern in seiner Fabel, in den Charakteren, Abenteuern und Situationen, in tausend großen und kleinsten Zügen, in dem Humor der Erfindung, in der Darstellung und Sprache enthalten ist.

An jedem Worte hängt ein Tröpfchen Blut, denn die deutschen Gedanken sind mit dem Herzen getraut. Das deutsche Volk allein hat einen beseelten Verstand, einen solchen, in welchem Phantasie und Sittlichkeit nicht geschieden sind.

Die orientalischen Märchen bilden nur den Körper einer oft sinnlosen Wunderwelt. Nur das deutsche Märchen vertieft sich in die Mysterien des Menschengemüts mit dem delikatesten und sinnigsten Verstande, mit einem Takt, der aller Tonleitern des Herzens, seiner leisesten Dissonanzen, seines Melodieenreichtums, seiner Himmel- und Höllenfahrten und all seiner Metamorphosen kundig ist. Das deutsche Märchen gibt uns den Ätherleib, der sich aus den Herzensgewohnheiten, aus dem Nachtönen der Geschichten, aus ihrem Blumen- und Moderduft erbaut.

Wo es Abenteuer gibt, da erfahren wir auch, was sie in der Seele und in dem Gewissen der Abenteurer wirken. Nur die »Odyssee« gleicht in dieser Zurückspiegelung der Dinge und Erlebnisse im Menschengemüte dem deutschen Märchen; übertroffen wird sein psychologisches Leben nur von der Heiligen Schrift, insbesondere von der Geschichte Hiobs und der ährenlesenden, frommfleißigen Ruth. Unübertroffen bleibt unser Märchen aber in der Herzensfrische, der Herzenslaune, in dem Witz des Herzens, mit dem ohne Aufhören die außergewöhnlichsten Dinge und Verhältnisse in ihren kleinsten Zügen photographiert werden, und gleichwohl zeigt sich mit diesem Realismus des Alltagslebens seine ideale Bedeutung erfaßt.

Im deutschen Märchen allein sind die Menschen so organisiert, alle natürlichen Dinge, alle menschlichen Verhältnisse so überdacht, so überdichtet, gewürdigt und geordnet, wie es ein deutsches Herz träumt und ein deutscher Verstand realisiert. Im deutschen Märchen allein findet der deutsche Mensch seine Kindheit, seine Jugendliebe, seine Sehnsucht und poetische Weltanschauung, seine Altersweisheit und Jugendtorheit, seine Paradiesträume, Grillen und Phantasmagorieen, findet er seine geheimsten Herzenssympathieen und Humore, einen Veilchengeruch des Herzens, einen Lilienhauch des Unschuldfriedens wieder, der ihn sonst nirgend mehr anweht.

Wenn wir alle Schönheiten und Heiligtümer des deutschen Volksmärchens bei Namen gerufen zu haben glauben, so zeigt uns das erste beste bei näherer Betrachtung denselben unerschöpflichen Reichtum wie die Natur.

In dieser Märchenwelt und für ihre Menschen gibt es wie in der Ökonomie Gottes und der Natur nichts Kleines, nichts Geringfügiges. Eben das Unscheinbarste, das scheinbar Nichtsbedeutende, das, was Hochmut oder Dummheit übersehen und herabsetzen, wird aus seiner Dunkelheit hervorgezogen und am liebsten zu einem Mittelpunkt von Abenteuern, zu einem Herzpunkt der schönsten Menschenverhältnisse erhöht.

Eine in den sinnigsten Variationen und Nutzanwendungen immer wiederkehrende Lehre des deutschen Märchens ist die, daß eben in dem unscheinbarsten Gewande, in den aller Welt verborgenen Sorgen und Arbeiten, in demütig stiller Pflichterfüllung das Gold des Menschengemüts verborgen ist; daß Hoffart, Wankelmut, Arglist, Neid und Eitelkeit bestraft, redlicher Sinn und Ausdauer aber, wenn sich ihnen noch ein hülfreiches und bescheidenes Wesen verbindet, nach allen Schicksalsprüfungen den Tugendlohn finden. Alle deutschen Märchen erläutern das deutsche Sprüchwort »Ehrlich währt am längsten«; und die tiefsinnigsten sind als die Illustrationen zu dem Spruche Christi zu betrachten: »Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.«

Der jüngste Königssohn, auf den die altern Brüder mit Hoffart herabsehen, ist der, welcher die gestellten Aufgaben durch seine schlichte, gute und treuherzige Art vollbringt, sich durch seine Dienstfertigkeit Freunde erwirbt.

Die kostbarsten Dinge erscheinen immer in der gewöhnlichsten Einkleidung und Umgebung. Der Vogel Phönix befindet sich in einem hölzernen Vogelbauer ohne Gesang, während neben ihm von schönen Farben gleißende Vögel in goldnen Käfigen singen. In dem Märchen »Wiesewittel« (dem Könige einer Wiese) fordert dieser ein Tröpfchen Blut für eine Mücke, ein Hirsekörnlein für eine Grille und einen kurzen Ruheort für eine kranke Motte in der Pelzmütze. Von drei Brüdern, an welche Wiesewittels Bitte ergeht, erfüllt sie, wie immer, nur der Jüngste und sieht sich sehr sinnig belohnt.

Kein Tier ist so garstig und geringe, daß es dem Menschen nicht Dienste leisten kann. Eine Kröte, ein Mäuschen, ein Wurm schlüpft aus seinem Versteck hervor, offeriert seinen Beistand, wird von den klugen Söhnen verhöhnt, aber von dem sogenannten »dummen Hans« angehört; und der befolgte Rat führt zum Ziel.

Der verspottete dumme Hans erweist sich in extraordinären Fällen als der rechte Mann; die verhätschelten und von ihren Erbansprüchen aufgeblasenen Brüder aber zeigen sich töricht und schlecht. Eine Hauptbedingung zu allem Gelingen und Vollbringen von Taten ist aber das Festhalten eines Glaubens, einer erhaltenen Weisung und des letzten Zwecks. Nur die Festigkeit des Charakters führt glücklich durch alle verwirrenden Stimmen in den Zaubergärten, wo die Fruchtbäume den Helden anbetteln, sie von ihrer Bürde zu erleichtern. Die Augenblickssympathieen sollen der Pflicht und dem festen Willen untergeordnet bleiben. Die Vernunft soll über das Herz siegen; unzeitiges Mitleid entfernt den Helden von seinem Ziel.

Die deutschen Märchen werden nicht müde, den Segen, welcher in Mitleidenschaft und tätiger Hülfe liegt, einzuschärfen. Die Lieblingshelden, die elternlosen oder zurückgesetzten Kinder, widmen Teilnahme und Beistand toten wie lebenden Dingen. Ein kleines Mädchen, eine verlassene Waise geht ratlos in die weite Welt; aber unterwegs macht sie einem kleinen Bache Luft, indem sie ihre schwachen Kräfte anstrengt, einen Stein aus dem Wasser zu schaffen. Dann wieder trägt das wandernde Kind ein Fischchen, welches aufs Trockne geraten ist, in sein nasses Element und einen aus dem Nest gefallenen Vogel zu seiner Mutter zurück. Einem kranken Kinde macht sie zum Zeitvertreib ein Mühlchen und bläst es todmüde mit ihrem letzten Odem an. Den Anstrengungen erliegend, wird die kleine Heldin von dem Bache erfrischt, von dem Vögelchen gefächelt, von dem Fischchen mit bunten Muscheln erfreut und von dem Engel, der als krankes Kind ihr Herz geprüft, gesund und glücklich gemacht.

Charakteristisch für alle Märchen ist die naive Gleichstellung der Tiere und Menschen, wie wenn diese nur durch die Gestalt von den letzteren unterschieden wären. Aber nur das deutsche Märchen gibt den Tieren außer der menschlichen Intelligenz auch ein menschliches Gemüt, mittelst dessen sie sich dem Helden des Märchens auf Tod und Leben verbinden. Die italienischen, die polnischen und russischen Märchen halten den Tiercharakter fest.

Aus dem deutschen Märchen schaut der Glaube an die Seelenwanderung, an die Unsterblichkeit und Gleichberechtigung aller Kreaturen und Seelen heraus.

Wenn dieser Glaube darin irrt, daß er alle Körper als ein taugliches Vehikel und Organ für alle Seelen ansieht und nicht begreift, wie Seele und Leib ineinsgebildet sind, und wie die Seele als der andere Faktor der Materie den Körper erbauen hilft, so hat die Lehre von der Seelenwanderung doch die Erkenntnis vor der modernen Naturforscherei und ihrem Materialismus voraus, daß die Seele nicht für ein bloßes Produkt der prozessierenden Materie und Organisation, sondern für eine selbständige Wesenheit gilt und die Leiblichkeit sich den Seelen zubilden und anbequemen muß.

Wer daran zweifeln wollte, daß der deutsche Mensch durch die tiefsten Sympathieen mit der elementaren Natur verbunden, von ihr inspiriert, durch sie erquickt, in seinem Herzen beseligt, zur Liebe und Poesie angetrieben ist, den könnte das erste beste Märchen belehren, daß die deutsche Seele mit allen größesten und kleinsten Naturmysterien getraut ist, daß der deutsche Verstand in allen Naturgeschichten und Verwandlungen ein Gleichnis des Menschenlebens wie der augenblicklichen Gemütsstimmung findet, daß ihm in der ganzen Schöpfung und Menschengeschichte der Verstand des Schöpfers und die Abbildlichkeit einer übernatürlichen Lebensordnung gegenwärtig ist.

Die Menschen des deutschen Märchens glauben noch an die vier Elemente; sie wissen nicht, aus wieviel Prozenten Sauer-, Wasser-, Kohlen- und Stickstoff, aus was für Modifikationen, Modalitäten, Komplikationen und Undulationen von Wärme und Licht, von Galvanismus, Magnetismus und Elektrizität das Wasser, die Lebensluft, die Nahrungsmittel oder der menschliche Körper besteht; sie wissen nichts vom Kreislauf, vom Stoffwechsel, von der Mauser, von der Pflanzenanalyse und Physiologie, denn zu ihren Zeiten gab es noch keine Enzyklopädieen von professionierten und dilettantischen Naturforschern für das Volk. Die Herren »von Stoff und Kraft« hatten noch nicht das Rätsel der menschlichen Seele auf das von der Materie reduziert, und das schöne Gleichnis »von dem Urin« erfunden, »der ganz so von den Nieren ausgeschieden wird als die Seele von dem Gehirn«, aber diese unwissenden Märchenmenschen fühlen und wissen desto inniger, daß sie einen Leib, eine Sinnlichkeit haben, welche mit der Natur korrespondiert und »ihr einen Tod schuldig ist«. Dazu glauben sie auch an ein übernatürliches Leben ihrer Seele wie ihres Geistes in Gott dem Herrn; und dieser Glaube macht ihren Verkehr mit der Natur unbefangener und liebevoller, als dies bei unsern Materialisten möglich ist, welche des Glaubens sind, daß die Natur alles Leben mit demselben Rechte verzehrt, als sie es erzeugt und ernährt.

Ob die Märchenmenschen traurig oder fröhlich sind – jedesmal wenn sie ihr Herz schwer oder bewegt fühlen, in jungen und alten Tagen wandern sie in die freie Natur und finden in ihrem Verkehr Erleichterung wie Rat. Im Märchen gewinnt ganz wie in der Kindheit jedes Wetter, jede Jahreszeit und Gegend eine Beziehung zum menschlichen Gemüt.

Auf der unfruchtbaren Heide, am öden Meeresstrande, tief im Gebirge zwischen starren Klippen ist den Märchenhelden die Natur nicht minder ans Herz gewachsen als in einer lachenden Flur; und die arme Witwe, der arme Fischer, Hirte und Jägersmann fühlen ihr Hüttchen als segensreiches Obdach im doppelten Maß, wenn es vom Wetter umstürmt oder im Schnee begraben wird. Das Herz und der fromme Sinn des Märchens erkennt die Gottheit im Aufruhr der Elemente, im unbarmherzigen Frostwetter, wenn der Himmel eine Glocke von blauem Stahl und die Erde eine versteinerte Naturgeschichte zu sein scheint; denn er weiß, daß der strenge Winter den wilden Tieren den wärmsten Pelz wachsen läßt, daß nicht alle Vögel tot aus der Luft herabfallen, und daß der Gott, welcher die Saaten unter dem Schnee ausgrünen läßt, noch vor dem Tauwetter der Freund und Wohltäter seiner Geschöpfe ist.

Das Märchen legt die Naturreligion, die Naturphilosophie und Naturdichtung des deutschen Menschen dar, und doch ist diese Naturliebe und -poesie kein heidnischer Pantheismus, sondern ein herziger Gottesglaube, der in der Natur die Umgebung und den Körper des Schöpfers, das Mittelglied und die Bildersprache begreift, durch die sich Gott auch den Sinnen des Menschen offenbart. Die Menschen des deutschen Märchens sind im Winter und im bösen Wetter gastfreier, frommer, geschäftiger und in ihrem Familienleben begnügter als im Sommer, wo sich das Herz zum Weltgefühl, zur Reiselust ausdehnt.

Vor allen Naturszenen aber ist es der Wald, in welchem sich alle Naturgeheimnisse und Naturwohltaten konzentrieren. An seinem immergrünen Nadelholz bricht sich die Herrschaft des Winters. Er belagert nur die dicht und hoch gewachsenen Waldbäume mit Eis und Schnee, aber ins innere Heiligtum, zu den Höhlen der Waldtiere, in die vor Schnee und Wind geschützten temperierten Räume dringt er nicht hinein, denn da hat sich (man weiß nicht, wo und wie) die Seele des Sommers hingeflüchtet. Wo es noch Wälder gibt, da kann der Herbst nie ganz aussterben, da gibt es auch einen Zufluchtsort für die alte Zeit, für das Naturrecht und einen Schutz gegen die Städte, gegen ihr kaltes Herz, ihre überfeinerte, hochmütige und gottlose Kultur.

Wenn ein paar Kinder von der bösen Stiefmutter gequält werden, so laufen sie in den nächsten großen Wald; wenn der Wanderbursch in seine dunklen Schatten tritt, so fühlt er sich vor Hitze oder vor Frost geschützt und den Mysterien der Natur überwiesen. Der Wald veranschaulicht und gewährt noch einen Überrest von dem gemeinsamen Eigentum, von dem Rechte, das in Paradieszeiten jeder Mensch auf die Naturprodukte hatte, denn den armen Leuten ist wenigstens das Leseholz, das Laub und Moos und das Einsammeln der Waldbeeren vergönnt, und sie machen da gemeinsame Sache mit den wilden Tieren, welche sich vor den Nachstellungen der großen Herren und ihrer Jäger in das Walddickicht zurückziehen.

Man müßte ein Buch schreiben, wenn man die Sympathieen des deutschen Märchens für den Wald erschöpfen und zergliedern wollte, und dieses Buch würde dann zugleich der Kern der ganzen Naturheiligung, der Naturliebe und des deutschen Gemüts sein, dessen Pole der Traum vom Paradiese und vom Himmelreich nach diesem Erdenleben sind.

Was sich nur irgend in einen großen Wald von Phantasiestücken hineinpacken, von Tier- und Räuberhöhlen, von Menschenfressern, von guten und bösen Zauberern oder Tieren und von Extraabenteuern hineindichten läßt, das hat das deutsche Märchen in die Wälder verlegt. Was die böse, überkluge, nüchterne, lichte und kalte Welt verschuldet und verwickelt, das muß der grüne, geheimnisvolle, bezauberte, finstere, kulturverschworene, aber dem Naturrecht getraute Wald wieder lösen und zu Rechte bringen. Wer noch ein Herz im Leibe hat, dem muß es weh tun, daß er nicht im Walde wohnen und von Waldbeeren leben kann.

Nicht minder tief und innig als die Auffassung der Natur im deutschen Märchen ist die Darstellung der sittlichen Verhältnisse des Menschenlebens und die Kenntnis des menschlichen Herzens bei alle den Gelegenheiten, wo sich Leidenschaft und Gewissen, Sympathieen und Antipathieen, Pflicht und Eigenliebe, Gewohnheit und Vernunft im Menschen streiten. Das stille Glück des Familienlebens und einer frommen, zufriedenen Armut bilden sehr oft den Anfang und das Ende der Geschichten.

Wunderschön und zart ist die Mitleidenschaft des Märchens für die hülflose, verwaisete Kindheit und für das vereinsamte Alter zutage gelegt. Die Leiden und Freuden der Witwen und Waisen wie die Bosheiten der Stiefmütter und der Mutter des Mannes, wenn ihr die Schwiegertochter nicht konveniert, sind ein Lieblingsthema des deutschen Märchens, und man verzeiht ihm gerne die im Bösen karikierten Charaktere, um so wundervoller Geschöpfe willen wie Schneewittchen, Aschenbrödel und die Stieftochter der »Frau Holle«.

Aus dem deutschen Märchen ersieht man, welche schönen und heiligen Gemütseigenschaften am deutschen Volke gefährdet und zugrunde gerichtet sind. Was könnten nicht nur unsere Dichter, sondern unsere Moralphilosophen, Psychologen und Theologen, ganz besonders aber die modernen Ethnographen und Naturforscher aus dem deutschen Volksmärchen lernen, wenn sie nicht über dem Vielen, welches sie gelernt, das Eine verlernt hätten, das Verstehen der Gewissens- und Herzensstimme, die eben in hochkultivierten Zeiten so berechtigt sind als Wissenschaft und Schulvernünftigkeit.

Der deutsche Tiefsinn tut sich im Volksmärchen durch unzählige und gar nicht Rede zu stellende Züge kund. Erwähnt sei andeutungsweise: ein schon dem Auge sichtbar gewordener Schatz sinkt mit dem ersten gesprochenen Worte wieder in die Tiefe zurück – (der Zauber wird durch Worte beschworen und durch andere vernichtet).

Über das Märchen vom »Machandelbaum« sagt irgend wer sehr wahr: »Es ist darin eine Tragik und Nemesis wie nur in den Tragödien des Äschylos; es erinnert an die Kraniche des Ibykos. Ein Vögelchen muß die unmenschliche Missetat der Stiefmutter an den Tag bringen.«

Und wie unbegreiflich schön, wie herzergreifend hat der Genius des deutschen Volksmärchens mit der teuflischen Stiefmutter ein Wesen wie »Schneewittchen« kontrastiert! Wo hat irgend ein Poet in alten und neuen Zeiten ein Bild geschaffen, das sich ohne Schatten modelliert, ein Mädchen, das dieser weißen Feldrose ohne Dornen und auf einem Lilienstengel zu vergleichen wäre? Wie quellfrisch duftet uns diese Jungfrauentugend aus dieser ihrer freiwilligen Dienstbarkeit an, bei häßlichen Zwerggeschöpfen in einem Walde! Und selbst diese Abschnitzel der Menschheit fühlen sich durch Schneewittchens Unschuld zu einem Schönheitskultus erhoben. Die Bosheit gewinnt keine Macht über ein reines Gemüt. Und wenn man meint, zu diesem Schneewittchen ließe sich keine Zwillingsschwester dichten, so finden wir das Problem in »Aschenbrödel« gelöst. Wie ist wohl ein lieblicheres Bild, eine sprechendere Situation möglich als Aschenbrödel in der Küche, wo die Tauben dem taubenfrommen, schwermütig sinnenden Mädchen den Mohnsamen aus der Asche lesen. Die süßen Mohnkörner sind die träumenden Gedanken in der Asche des Grams. Die allgemeine historische Gemäldeausstellung zu München hat ein reizendes Bild von Schwind Moritz von Schwinds (1804 – 71) Zyklus »Das Märchen von den sieben Raben« (1858). gebracht, dessen Gegenstand ein deutsches Märchen ist. Ich lasse hier die Beschreibung des Bildes von Moriz Carriere, Der Philosoph und Ästhetiker Moriz Carriere (1817-95). dem Referenten, folgen, weil man so am besten erkennen wird, wie glücklich unsre Märchenstoffe für die Malerei ausgebeutet werden können.

»In dem Augenblick, als eine Mutter gegen ihre sieben Buben, die mehr essen wollten, als da war, das Wort ausspricht: ›Wäret ihr doch besser Raben‹, da fliegen sie als Raben davon, die Mutter stürzt entseelt nieder. Das Schwesterchen läuft in den Wald, eine milde Fee befiehlt ihm, sieben Jahre zu schweigen und sieben Hemden zu spinnen, nur so könne es die Brüder erlösen. Sechs Jahre sind vorüber. – Wir sehen auf dem ersten Bilde die Jagdgesellschaft eines Prinzen, die nach einem ihrer Genossen späht und ruft; der aber erblickt auf dem zweiten ein seltsames Wild: die wunderschöne Jungfrau in einem Baumstamm spinnend; dann hebt sie der Königssohn herab, deren langes, blondes Haar die keuschen Glieder umfließt, eine Komposition von unendlicher Innigkeit und zarter Reinheit. Der Prinz führt die Gefundene auf seinem Roß von dannen, sie wird hochzeitlich geschmückt, sie geht als seine Gattin mit ihm spazieren, indem sie sich den Armen wohltätig erweist, immer schweigend und des Nachts bei Mondschein spinnend. Sie wird endlich von zwei Knaben entbunden, die aber als Raben davonfliegen, als die Hebamme sie baden will. Das Entsetzen der guten Frau kontrastiert komisch mit dem Schrecken des Gatten und mit dem schmerzhaften Dulderblick der schämigen Wöchnerin, der die Fee erscheint, zum Schweigen mahnend. Aber die Feme verdammt die Königin als Hexe zum Feuertod. Wir sehen den Holzstoß geschichtet und die Heldin des Märchens mit gebundenen Armen im Gefängnis, die Fee aber bei ihr mit dem Wunderglas. Bald ist die Zeit um, die Armen hemmen den Wagen, der ihre Wohltäterin zum Scheiterhaufen führt, während die Fee den Raben die sieben Hemden bringt. Als die Königin auf dem Holzstoß steht, ist der Augenblick der Erlösung da. Wie zum Finale einer Oper kommen die Brüder auf weißen Rossen jubelnd herangebraust, ruft nun die Mutter ihren Kindern entgegen, welche die Fee zurückbringt, freut sich das Volk, daß die Henker abziehen müssen, sinkt der König gerührt zu den Füßen des geliebten Weibes. Die Idee ist klar: durch Ergebung, Arbeit und Schweigen löst sich der Fluch eines frevelhaft voreiligen Worts.«

W. Menzel sagt:

»Das schönste deutsche Märchen, worin Saxos Saxo Grammaticus (1140-1206), der älteste dänische Geschichtschreiber, Verfasser der » Historia danica«, in deren ersten Büchern er die alten nordischen Sagen und Heldenlieder behandelt. Auffassung des Riesen Utgarthilogus mit dem schlafenden Riesen im Thor-Mythus der jüngeren Edda Um 1230 von Snorri Sturluson in Prosa verfaßt. in eine merkwürdige Verbindung gebracht erscheint, ist das vom Glückskinde:

»Ein König kam unerkannt in ein Dorf und hörte, es sei da eben ein Knabe mit einer Glückshaut geboren worden, der würde des Königs Tochter bekommen. Da kaufte er das Kind den Eltern ab und warf es in den Wald; es wurde jedoch gerettet und in einer Mühle aufgezogen. Als der Knabe herangewachsen war, kam der König zufällig in die Mühle, hörte, daß der Knabe ein Findling sei, erriet, es möchte derselbe sein, den er im Walde ausgesetzt, und schickte ihn zur Königin mit einem Briefe, worin stand, er solle sogleich hingerichtet werden. Der Knabe geriet unterwegs unter Räuber, die den Brief lasen und einen andern schrieben, des Inhalts: die Königin solle ihm sogleich ihre Tochter geben. So geschah es auch. Der König war, als er es erfuhr, in voller Wut und ersann die List, das Glückskind solle seine Tochter nur dann haben, wenn er ihm drei goldene Haare vom Kopf des Teufels brächte. Das Glückskind machte sich auf den Weg. Wo man es anhielt und nach seinem Gewerbe frug, sagte es, es wisse alles. Da gab man ihm in der Stadt auf, zu sagen, warum im Brunnen, wo sonst Wein geflossen, nicht einmal mehr Wasser fließe; in einer andern, warum der Baum, der sonst Äpfel trug, nicht einmal mehr Blätter trage; und an einem Fluß, warum der Fährmann nie abgelöst werde. Das Glückskind versprach, alle diese Fragen auf dem Rückwege zu beantworten. Dann kam es glücklich in die Hölle und fand des Teufels Eltermutter allein. Die erbarmte sich seiner, versprach, ihm zu helfen, und verbarg ihn in ihren Rockfalten. Nun kam der Teufel heim, roch zwar Menschenfleisch, forschte aber nicht weiter nach und schlief ein. Die Mutter hatte derweilen seinen Kopf im Schoße und riß ihm ein goldenes Haar aus. Er wachte auf, und sie frug ihn, was er geträumt habe. Von dem Brunnen, erwiderte er, der weder Wein noch Wasser gibt, weil eine Kröte darunter sitzt. Beim zweiten Haare sagte er, ihm habe von dem Baume geträumt, an dessen Wurzeln eine Maus nage. Beim dritten, er habe vom Fährmann geträumt, der abgelöst werden könne, wenn er einem andern die Ruderstange in die Hand gebe. Mit den drei Haaren nun und mit den drei Antworten kehrte das Glückskind heim und bekam für die Antworten viel Gold. Der König gab ihm sofort seine Tochter und wollte auch in die Hölle gehn, um ebensoviel Gold mitzubringen, unterwegs aber hieß ihn das Glückskind des Fährmanns Ruder nehmen: da war dieser erlöst, der König aber mußte fortan und in alle Ewigkeit rudern.« (Grimms Märchen, Nr. 29.)

*   *   *

Haben wir bis jetzt die Tiefe der Naturempfindung, den sittlichen Ernst und die Lehrhaftigkeit der Märchen in unsere Betrachtung gezogen, so lacht uns aus einer großen Menge von ihnen noch die Fülle der Lebensgesundheit und der originellsten Laune entgegen, die das Kleinste mit dem Größesten, das Individuellste und Zufälligste mit der großen Weltordnung balanciert und in diesem halb naiven, halb schmerzhaften Dualismus den deutschen Volkshumor produziert, in welchem der Witz mit dem Gemüte, der natürliche Verstand mit dem Gefühl des übernatürlichen Lebens polarisiert ist.

Auch das Volk fühlt und versöhnt den Bruch zwischen Materie und Geist, zwischen diesseits und jenseits, zwischen der Heiligen Schrift und dem profanen Weltverstande, zwischen der schwachen Persönlichkeit und dem Gewissen, welches uns allen die Norm und das ideale Ziel des Lebens vorhält. Je weniger aber der ungeschulte Mensch diesen Bruch in einer Kunstform oder durch Wissenschaft und seine Lebensart versöhnen kann, desto unentbehrlicher ist für ihn ein Scherz und Witz, der den Ernst und das Gefühl der Unmacht maskiert.

Solchen Prozessen, solchen tiefsten Mysterien, dem Schisma zwischen werktäglicher Gewohnheit und einem Gewissen von der idealen Welt, der wir alle wissend oder unwissend eingeordnet und verpflichtet sind, verdankt der Märchenhumor seine Existenz, und es wäre Räson, wenn ihn sich die literarischen Humoristen zum Muster nähmen, denn die moderne poetische Literatur verliert bei ihrer klassischen Prüderie immer mehr an Herz und Naturempfindung und ersetzt diesen Mangel, wie den eines Gewissens von der übernatürlichen Lebensordnung, weder durch Naturenzyklopädie noch durch Phantasiestücke, in denen man erfährt, was sich der Wald und die Vöglein erzählen.

Der Humor im deutschen Volksmärchen ist so wundervoll wie der in der Natur selbst. Im »Rotkäppchen« legt sich der Wolf, nachdem er die alte Großmutter gefressen hat, in ihr Bette und bemüht sich, ihre schwache Stimme nachzumachen, als das Großkind ankommt. Dieses aber meint, daß seine Großmutter heiser geworden ist. Als Rotkäppchen neben dem verstellten Wolfe im Bette liegt, wundert sie sich über seine rauhen Arme und erhält die Antwort: »Damit ich dich desto weicher umarmen kann«; über die langen Ohren: »Damit ich dich besser hören kann«; über die glühenden Augen: »Damit ich dich besser sehen kann«. Endlich wundert sich Rotkäppchen über den großen Mund ihrer Großmutter und erhält vom Wolfe die Schlußantwort: »Damit ich dich desto besser fressen kann.« Rotkäppchen wird sonica Französisch: alsbald. aufgeschluckt. Dann kommt der Jäger an dem Hause vorüber und wundert sich über das furchtbare Schnarchen der vermeintlichen Großmutter. Zuletzt wird sie und ihr Enkelkind dem schlafenden Wolf heil aus dem Leibe geschnitten, und diesem praktiziert man eine Portion Steine in den Leib, so daß er endlich erwacht, nicht zum Fenster hinausspringen kann und sein Leben quittieren muß.

In der Geschichte mit den jungen Zicklein, die der Wolf so gierig verschlingt, daß sie ihm die alte Ziege aus dem Leibe schneidet, während er schläft und Steine an die Stelle packt, wiederholt sich der Spaß. Der Bauer kann es dem Wolfe nicht verzeihen, daß er ihm die Schafe und Füllen frißt, und läßt ihn immer ein schlecht Ende finden. Als der Wolf sich mit der Stärke des Menschen messen will und auf den Jäger trifft, berichtet er höchst witzig und kurios, der Mensch hätte ihm aus einem Stock einen scharfen Hagel ins Gesicht geblasen, zuletzt aber sich eine blanke Rippe aus dem Leibe gezogen und ihn fast zu Tode gehauen. Höchst originell und naiv ist die Geschichte, wie der Wolf, als er auf Beute ausgeht, von der Sau angeführt wird. Sie kommt dem Wolf entgegen und macht ihm den Vorschlag, ihre Ferkel zu taufen, bevor er sie frißt. Während er das sehr bequem auf einem Stege verrichtet, der über einen tiefen Bach führt, rennt ihm die Sau so stark auf den Leib, daß der Ferkelfresser ins Wasser fällt und ersäuft.

»Hans im Glücke« gibt seinen ehrlich und fleißig im Dienst erworbenen Goldklumpen, der ihn unterwegs drückt, für ein Pferd; das wilde Pferd, welches ihn abgeworfen hat, tauscht er für eine Kuh, die ihn beim Melken mit den Hinterfüßen schlägt; für diese unbequeme Milchkuh nimmt er ein fett Schwein. Dieses, weil er es auf einer Schiebkarre fortschaffen muß, tritt er für eine fette Gans ab; diese händigt Hans, weil er sie nicht tragen will, einem Scherenschleifer für einen raren Schleifstein aus, der ein ordinärer Straßenstein ist, mit dem er aber durch geschliffene Messer und Scheren sein täglich Brot verdienen wird; und endlich legt der müdgewordene Glückshans die Steine auf den Rand eines Brunnens, von dem sie ins Wasser fallen, als er trinken will, – und nun ist er auch die letzte Plage los. Köstlich ist der Gedanke Hansens, daß ihm sein gutes Glück in der Not mit dem schweren Goldklumpen, mit dem wilden Pferde, mit der obstinaten Kuh, mit dem schweren Schwein, der schwereren Gans, dem schwereren Schleifstein immer zur rechten Zeit beigestanden hat. »So ein Glückskind gibt's in der Welt nicht zum zweitenmal«, ruft er seelenvergnügt.

Ebenso harmlos, aber originell phantastisch und naiv ist der Humor in dem »Geschichtchen vom süßen Brei«. Ein armes frommes Mädchen, das nichts mehr für seine arme fromme Mutter zu kochen hat, erhält von einer alten Frau im Walde einen Zauberspruch zum Geschenk; wenn sie zu einem Töpfchen sagt: »Töpfchen, koche!«, so kocht es süßen Hirsebrei, und wenn sie sagt: »Töpfchen, steh!«, so hört der Zauber auf. Der Spruch bewährt sich prächtig; die alte Mutter vergißt aber das »Töpfchen, steh!«. Die Tochter ist nicht zu Hause, es kocht also das ganze Haus und zuletzt das ganze Dorf voll Brei, bis die rückkehrende Tochter dem Zauber Einhalt tut. Die guten Leute des Dorfs müssen sich aber durch den Brei hindurchessen, um zu ihren Häusern zu gelangen. Es ist die Geschichte vom Goetheschen Zauberlehrling ins Kompakte übersetzt und auf die Philister angewendet, ohne daß das Märchen sich den Unterschied zwischen Brotmenschen und Adepten zum Bewußtsein gebracht hat.

In dem wundervollen Märchen vom »Dornröschen« wird durch den bösen Zauber einer nicht zur Hochzeit geladenen dreizehnten weisen Frau Dornröschen (das einzige lang' ersehnte Königskind) und das ganze Schloß in einen hundertjährigen Schlaf gesenkt, so daß es mit Dornen verwächst, die kein Menschenkind durchdringen kann. Der Zauber geht so plötzlich vor sich, daß der Koch nicht mehr Zeit behält, den Kochjungen zu ohrfeigen, obgleich er schon dazu ausgeholt hat. Wie aber die hundert Jahre vorüber sind, da durchbricht ein Prinz die Dornen, weckt das schlafende Dornröschen mit einem Kuß, und in demselben Augenblick erwacht das ganze Schloß. Da schallt die verhaltene Maulschelle, da brutzelt der Braten, da kriecht die eingeschlafene Fliege auf der Wand weiter fort, da flackert das Herdfeuer wieder auf, und die Magd rupft das Huhn zu Ende, bei dem sie eingenickt war.

Die Hochzeit versteht sich von selbst, »und wenn die glücklichen Leutchen nicht tot sind, so leben sie noch heute«. Man kann behaupten, sie leben noch, denn sie leben in Herzen von Kindern und allen Menschen fort, welche Märchen verstehn.

Bezeichnend ist es, daß das Märchen vom »gestiefelten Kater«, welches die Umgangspolitik mit überlegenem Humor illustriert und die Maschinerie darlegt, durch welche man bei Hofe sein Glück zu machen pflegt, aus Italien und Frankreich eingebürgert worden ist. Intention und Grundfärbung gehören dem kritischen Welt- und Sozialverstande, der bereits über die bürgerliche Sphäre hinausgegangen ist und den Stoff verarbeitet, aus welchem die Revolutionen hervorgehn.

Die Fabel ist diese:

Ein Müller hinterläßt dem ältesten Sohne die Mühle, dem zweiten den Esel; der jüngste muß sich mit des Vaters altem Kater begnügen, der aber Menschenkenntnis besitzt und nur ein Paar Stiefelchen verlangt, um in die Welt zu gehen und seinem gekürzten Herrn ein besseres Glück zu verschaffen, als Esel und Mühle zusammen wert sind. Der Kater weiß Rebhühner und junge Hasen zu überlisten, die er jedesmal in die königliche Küche abliefert, und zwar als ein Geschenk vom Grafen Carabas. Dann muß sich der Müllerssohn in einem See baden, und in dem Augenblick, wo der König mit seiner Tochter vorüberfährt, schreit der Kater, als Diener gekleidet, nach Hülfe gegen die Diebe, welche seines Herrn Kleider gestohlen haben. Als der König vernimmt, daß der Beraubte derselbe Graf Carabas ist, welcher ihm so oft Wildbret verehrt hat, läßt er ihm Kleider aus seiner Garderobe reichen und die königliche Karosse anbieten. Die schöne Gestalt des Helden und seine natürliche Anmut gefällt den Augen der Prinzessin gar wohl. Die Reise geht weiter; der gestiefelte Kater macht aber den Läufer und bedroht die Ernteleute am Wege sowie die Viehhirten, daß sie, befragt, welchem Herrn Wiesen, Felder und Schlösser gehören, sagen sollen, alles sei Eigentum des Grafen Carabas, andernfalls würden sie alle des Todes sein. Die List gelingt. Der König wird von dem Reichtum des Grafen ebenso eingenommen als zuvor von seinen Küchengeschenken, die Prinzeß aber läßt sich vollends nicht nehmen, daß ihr Reisebegleiter der liebenswürdigste und nobelste Kavalier auf dem Erdboden ist. Nachdem noch der Kater den Besitzer eines großen Schlosses, einen bösen Zauberer, dahin überlistet hat, daß dieser sich, um seine Künste zu zeigen, erst in einen Löwen und dann in eine Maus verwandelt und als solche vom Kater fressen läßt, wird der Müllerssohn Schloßbesitzer, königlicher Schwiegersohn und Erbe des Reichs.

Wie sehr den Naturmenschen die Neigung charakterisiert, alles auf Schrauben zu stellen, zu verhäkeln oder zu balancieren und vieldeutig zu machen, sehen wir nicht nur an jedem Bauern, Der Teufel im Märchen staunt einmal über die von einem Bauern erzielten Feldfrüchte und will sie mit ihm teilen. Der kluge Bauer überläßt nun dem Teufel die Wahl zwischen dem, was über oder unter der Erde wachsen wird. Der Teufel wählt das letztere, der Bauer aber säet nun Korn und behält die ganze Ernte. Im nächsten Jahre will der dumme Teufel die Sache besser machen und wählt, was über der Erde wächst. Da säet der Bauer Rüben und behält wieder die ganze Ernte. mit dem wir als Nachbar einen Vergleich zustande bringen wollen, sondern aus dem Volksmärchen in tausendfältiger Gestalt. Eben der Naturmensch, der Araber, das Weib, der Wilde, der Mann aus dem Volke halten das Einfach-Unverfängliche und den geraden Weg für dumm und ordinär. Ihr elementarer Sinn sucht eine Geistesbildung und findet sie im Verstande. Dieser erwachende Verstand aber braucht und erstrebt Anhaltspunkte und Übungen im Komplizierten, Zweideutigen, Verhäkelten, im Witz, im Scharfsinn, in der Pfiffigkeit. Daher in allen Märchen die sogenannten »knifflichen«, die orakelhaften, zweideutigen Aufgaben und die Lösungen in demselben Sinn. Ich entsinne mich aus meiner Kindheit eines Märchens, in welchem einer klugen Magd die Aufgabe gestellt wurde, nackt und doch bekleidet, zu Fuß und doch gefahren vor das Schloß zu kommen, in welchem sich der Prinz befand, welcher der Heldin zum Gemahl beschieden war, falls sie die Aufgabe löste, und siehe da, die Vorgeladne vollbrachte das Stück, indem sie nackt, aber mit einem Fischernetz bekleidet, auf einem Kinderwägelchen erschien, welches sie mit ihren Füßen auf dem Wege weiterschob.

Unerreichbar ist der deutsche Volkshumor da, wo er sich innerhalb seiner angestammten Sphäre hält, wie in dem plattdeutschen Märchen vom »Swienagel«, der mit dem Hasen die Wette eingeht, daß er dreimal hintereinander eine Ackerfurche rascher entlanglaufen wird als jener. Der Swienagel gewinnt die Wette durch die List, daß die »Frau Swienagelin«, welche dem Herrn Gemahl auf ein Haar (oder vielmehr in jedem Stachel) gleich sieht, an dem Ende der Furche dasitzt, wenn der Hase atemlos dort anlangt.

Höchst charakteristisch ist die humoristische Verspottung der philosophisch und sentimental gearteten Naturen im deutschen Märchen; schwerlich kommt von solcher Tendenz bei irgend einem andern Volke ein Beispiel vor.

»Die kluge Else« soll Bier im Keller zapfen, da bemerkt sie über ihrem Kopfe im Kellerbalken eine alte Hauaxt stecken, und indem sie darüber nachsinnt, wie leicht ihr oder ihrem Kinde das Mordinstrument auf den Kopf fallen und den Tod bringen könnte, muß sie sich so in Tränen setzen, daß sie alles Bier aus der Tonne auf den Boden laufen läßt. Den Hausleuten, die ihr nachgeschickt werden, erzählt die voraussorgende (Möglichkeiten als Wirklichkeiten behandelnde), überkluge Närrin ihre Phantasieleiden, durch welche alle mitsammen ins Lamentieren kommen, bis der Mann selbst die gerührte Gesellschaft im Keller aufsucht und zu vorläufigem Räson zu bringen versteht. Ein andermal soll Else ein Getreidefeld ernten; da sie aber bei ihrer großen Klugheit und systematischen Methode zuerst mit sich darüber ins reine kommen will, wie und von welchem Ende sich die Arbeit am zweckmäßigsten angreifen läßt, ob jetzt oder spätere ec., so schläft sie über diesen gründlichen Meditationen ein. In dieser Situation findet sie der Mann, als er ihr das Frühstück aufs Feld bringt. Er wirft ihr dann als einer nichtsnutzigen Personage ein Vogelnetz mit kleinen Schellen über den Leib. Als sie abends erwacht und an ihrem Leibe klingeln hört, weiß sie nicht gewiß, ob sie es ist oder ein anderes Menschenkind. Um darüber etwas Positives zu erfahren, fragt sie an ihres Mannes Fenster, ob Else zu Hause ist, und da die Frage bejaht wird, geht sie in die weite Welt, aus der sie noch heute wiederkommen soll. Ihr Geschlecht aber starb nicht aus.

Neben dieser köstlichen Verspottung einer deutschen Phantastin selbst im Volke muß man aufs äußerste frappiert sein, in dem Märchen vom »Gruselhans« den Grundgedanken veranschaulicht zu finden, daß einem Dummkopf die übersinnlichen Mysterien verschlossen bleiben. Der dumme Hans, der in die Welt geht, weil er das Gruseln (Grauen) lernen will, schiebt mit Totenköpfen Kegel wie die übrigen Gespenster im Kirchengewölbe und bietet denen Ohrfeigen an, die ihm zu dreist auf den Leib rücken. Er geht mit seiner materiell profanen ungläubigen Dreistigkeit aus allen Abenteuern siegreich hervor, aber es zeigt sich auch am Schlusse, daß ein geborner Dummkopf sogar bei den richtigen Worten und Erlebnissen das Alberne meint; denn als dem Gruselhans ein altes Weib, die er mit seinem Reisezweck bekannt macht, einen Zuber mit zappelnden Gründlingen über den nackten Leib schüttet, da erklärt er zu wissen, was Gruseln ist, und zeigt solchergestalt, daß er das Geistergrauen (die rätselhafte Vorempfindung einer übernatürlichen Welt und ihrer Wesen) mit einem Kitzel auf der Haut verwechselt hat.

Mit ähnlichem Humor wie die Gespenster der Verstorbenen müssen sich Tod und Teufel im deutschen Volksmärchen behandeln lassen. Der Teufel wird in allen Fällen von klugen wie von dummen Leuten überlistet und besonders da geprellt, wo er, um recht sicher zu gehen, einen Kontrakt gemacht und sich gar mit einem Geistlichen eingelassen oder es auf den Betrug von Witwen und Waisen abgesehen hat. Der Tod ist stärker wie der Teufel und wie aller Menschenwitz, aber dem Zauber des Apostel Petrus muß auch der Tod sich überwunden geben, und einer verzweifelten, bittenden Mutter läßt er das kranke Kind, wenn er es auch schon mit fortnehmen wollte. In irgend einem Märchen holt eine Mutter ihr gestorbenes Kind aus einem unterirdischen Totengarten zurück, wo die Kinder in Blumen verwandelt sind.

»Der Schmied von Jüterbog« vexiert sogar den Tod auf seinen Birnbaum hinauf und hält ihn dort durch einen vom heiligen Petrus früher erworbenen Zauber so lange fest, bis er selbst seines Lebens überdrüssig ist. Zuvor aber fängt er den Teufel, wie er durchs Schlüsselloch zu ihm schlüpft, in seinem Blasebalg auf und walkt ihn, indem er seine Gesellen zu Hülfe ruft, mit schweren Hämmern so windelweich, daß der Böse sich nach der Befreiung auch in der Hölle noch nicht sicher fühlt. Die Hexen überlisten den Teufel eine feine Weile zu ihrem Dienste, zuletzt holt er sie aber doch zusamt ihren Katzen und allem Hexenschurrmurr. Der Tod und seine Ansprüche werden im Himmel wie auf Erden respektiert. Was staubgeboren ist, muß sterben, aber Klapperbein hat die Lebensart eines ehrlichen und billigen Mannes, er erinnert seine Patienten und gewährt besondern Lieblingen eine wiederholte Frist.

Selbst der liebe Gott und der Weltheiland müssen dem Märchen zuliebe auf Erden umherwandeln. Petrus und Christus kommen auf ihrer Wanderschaft im Kroatenlande mit einem Schneider zusammen; die Nacht wird von den dreien im Walde zugebracht und ein Lamm zum Imbiß am Spieße gebraten, von dem der naschige Schneider die Leber fortmaust. Er leugnet dem nachfragenden Heilande die Tat selbst da noch, als ihn dieser in Feuers- und Wassersnot bringt. Petrus aber kennt die Kroaten besser, holt einen Beutel mit Goldstücken hervor, teilt sie in vier Teile und verspricht dem, der die Leber gegessen, zwei Teile des Geldes; da beschwört der kroatische Schneider mit Hast, daß ihm der Preis gebührt, weil er der Leberdieb ist. Ob dies Märchen ursprünglich deutsch ist, überlass' ich den gelehrten Kennern zu beurteilen.

In der Geschichte vom Butt (Steinbutte) finden wir den Übermut des Menschen im Glück, die Unersättlichkeit bei befriedigten Wünschen, die Unvernunft und plumpe Hoffart eines gemeinen Weibes und das Pantoffelregiment, unter dem ein Schwachkopf zum Diener der Torheit wird, mit so köstlich trocknem Humor, mit so plastischen Zügen konterfeit, daß es scheinen könnte, als wäre die Kenntnis vermenschlichen Schwächen, der gemeinen Wirklichkeit die ausschließliche Virtuosität des deutschen Volks; aber es ist im Himmel wie auf Erden zu Hause, sobald es sich auf sein tiefstes Gewissen und auf seine Herzenssympathieen besinnen will.


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