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III. Das deutsche Volkslied.

»Die Volkslieder sind uralt. Sie wurden wegen ihres zum Teil noch heidnischen oder üppigen Inhalts ( laicorum cantus obscoenus nach Otfried Benediktinermönch des 9. Jahrhunderts, Verfasser des »Krist«, einer poetischen Evangelienharmonie (um 868 vollendet), mit der er der »heidnischen Volkspoesie« ( laicorum cantus obscoenus) entgegenwirken wollte. von der Kirche untersagt und daher auch nicht aufgezeichnet. Die heidnischen Elemente darin mußten verschwinden oder konnten sich nur sehr verblümt erhalten. Dagegen ist kein Zweifel, daß sowohl Liebes- als auch Spott- und Schelmenlieder ( winileot, siswa, sisesanc, lotirspracha, posa, giposi, scofleot nach Hoffmanns deutschem Kirchenlied, S. 8 August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben (1798 – 1874) »Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luther« (3. Ausg. 1861). überall verbreitet blieben, immer neu entstanden, bei Spiel und Tanz und frohen Gelagen nicht fehlen durften.

»Sie sind entweder unmittelbar aus dem Volke hervorgegangen, oder, wenn auch von Meistern des Gesangs gedichtet, ausnahmsweise so einfach und volksmäßig, daß sie in aller Mund kamen und zu Volksliedern wurden.

»In ihnen kehrt die durch die Minnesänger in eitle Subjektivität ausgeartete Poesie wieder zu anspruchsloser Objektivität zurück, auch da, wo sie nicht episch erzählen (Balladen, Romanzen), sondern nur das Gefühl des Augenblicks ausdrücken.«

Wolfgang Menzels. Geschichtschreiber, Kritiker und Literarhistoriker (1798-1873)

Volkslieder gehen gewöhnlich aus Erlebnissen, aus Ereignissen hervor, sie skizzieren Heldentaten, Abenteuer oder allgemeine Kalamitäten: Pest, Hungersnot, Kriegsdrangsal, Tyrannei der Machthaber oder den Sieg des Volkes. Die Lieder sind also wohl zuverlässig so alt als die Geschichten, Situationen und Helden, welche ihren Gegenstand bilden. Leute des Volks dichten oder prophezeien nur in der ersten allgemeinen Aufregung und Divination, die verhältnismäßig rasch vorübergeht.

Der gebildete Mensch findet in seiner bloßen Person und für seine Rechnung die Kraft, zu dichten und zu denken, das Volk aber befruchtet sich nur in der Masse, und die Individuen, welche das Wort oder die Tonweise finden, sind dann in Wirklichkeit so sehr die Organe des Volks, daß sie von ihrem persönlichen Empfinden und Urteilen so wenig wie möglich oder ganz und gar nichts hinzutun. In Volksliedern spiegelt sich selten der Charakter eines Individuums, sondern des Volkes wie der Zeit.

Der objektivste Dichter, wenn er einer Schule angehört und ein gebildeter Mensch ist, sucht seine eigene Stimmung und Weltanschauung auszusprechen und schmückt sie noch obendrein mit angenommenen, halbaffektierten Sentiments, mit Anempfindungen, mit sittlichen, patriotischen Ambitionen, mit solchen Phrasen, Wendungen und Intentionen aus, von denen er augenblicklichen Anklang erwartet, die er der allgemeinen Bildung oder Verstandesschablone für konform hält.

Der Volksdichter (wenn man ihn so nennen darf) hat selten eine Ahnung davon, daß durch Worte Geist und Seele fixiert, zur Rede gestellt und gleichsam zu Wirklichkeiten gemacht werden können; daß ein Mensch des Nebenmenschen Empfindungen fassen dürfe oder wolle; daß es erlaubt oder zweckmäßig sei, dergleichen seelische Transfusionen zu experimentieren. Er versucht also höchstens in dem ersten Stadio allgemeiner Aufregung, Teilnahme oder Begeisterung das offizielle Faktum und die reelle Stimmung, die mit demselben zusammenhängt, andeutungsweise zu skizzieren. Sublimsten Falls werden an die Sache ein paar Gedanken, d. h. die leidenschaftlichen Urteile, Schmerzens- oder Jubelrufe und Schimpfworte geknüpft. Ein zweiter und dritter Improvisator setzt Verse zum ersten Liede hinzu, und ein Schreiber oder Schulmeister nimmt etwa Änderungen mit einzelnen Worten, Wendungen und Bildern vor, welche nur dann angenommen werden, wenn sie dem Sinn und der Weise des Volkes entsprechender sind als die ursprüngliche Form, für welche die Massen eine getreuliche Sympathie zu bewahren pflegen, so wetterwendig sie auch in ihren sonstigen Gunstbezeugungen und Stimmungen sind.

Derselbe Mensch, welcher den ersten Impuls oder wirklichen Anfang zu einem Volksliede machte, dichtet vielleicht keines mehr, oder nur ein halb Dutzend, weil er fühlt und erfährt, daß Lieder eben Gelegenheitsprozesse und keine willkürlichen Kunststücke oder Persönlichkeiten sind, die man von dem Massenleben, den Freuden und Leiden aller ablösen kann.

Der Volkspoet kommt gar nicht auf die Idee, seine Phantasie oder seine persönliche Stimmung zu verlautbaren, er fühlt gar nicht das Bedürfnis dazu, er schämt sich seiner innersten Empfindungen, wie er sich seines nackten Leibes schämt, nämlich als eines zweiten Wesens, eines Andern in ihm, eines Göttlichen, das man nicht Rede stellen, nicht zeigen, mit dem man nur in verschleierter Gestalt umgehen darf.

Nur die Deutschen haben Volkslieder, in welchen Seelenzustände keusch an Naturbildern abgespiegelt, aber nie erschöpfend und räsonierend reflektiert sind. Die Lieder der Slawen charakterisieren sich wahlverwandt dem deutschen Gesange durch Melancholie, überhaupt durch Seele; aber das Gefühl des slawischen Volkspoeten konzentriert sich nur ausnahmsweise zu einer Leidenschaft und arbeitet sich noch weniger zu einem Gedanken heraus wie bei dem Deutschen; auch ist es den slawischen Liedern eigentümlich, daß sie einen Seelenzustand nicht für sich und an Naturszenen abspiegeln, sondern bei Gelegenheit eines Faktums aussprechen. Alle Volkslieder unterscheiden sich aber wesentlich dadurch von der kunstgerechten Lyrik, daß sie niemals, wie diese, Naturszenen allein schildern und ebensowenig aus bloßen Phantasiestücken ein Gedicht machen. Natur und Phantasie stehen beim Volkspoeten im Dienste einer Geschichte, einer Heldentat oder Leidenschaft. Das Volkslied kennt keine forcierten Gefühle und keine Ostentation: dies sind Entartungen der kultivierten Poesie!

Um mit Erfolg etwas von dem Volksliede zu sagen, muß man wenigstens ein paar Verse ins Gedächtnis rufen:

Aus dem Ambraser Liederbuch Die früher auf dem kaiserlichen Schloß Ambras bei Innsbruck aufbewahrte kostbare Handschrift mittelalterlicher Lieder befindet sich seit 1806 in Wien. Nr. 66.

Schein' uns, du liebe Sonne,
Gib uns einen hellen Schein,
Schein' uns zwei Lieb zusammen,
Ei, die gern beieinander wollen sein!

Dort fern auf jenem Berge
Leit sich ein kalter Schnee,

Dort nieden in jenem Holz
Leit sich ein Mülen stolz.

Sie malet uns alle Morgen
Das Silber, das rote Gold.

Dort nieden in jenem Grunde
Schlemmt sich ein Hirschlein fein.

Was führt es in seinem Munde?
Von Gold ein Ringelein.
Hätt' ich des Goldes ein Stücke
Zu einem Ringelein,
Meinem Buhlen will ich's schicken
Zu einem Goldfingerlein.

*   *   *

Docen, Bernhard Joseph Docen, Germanist und Literarhistoriker (1782–1828), »Miszellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur« (2 Bände, 1807). Misc. I, 262.

Wenn ich ein Vöglein wär'
Und auch zwei Flüglein hätt',
Flög' ich zu dir,

Weil's aber nicht kann sein
Bleib' ich allhier.

Bin ich gleich weit von dir,
Bin ich doch im Schlaf bei dir
Und red' mit dir.
Wenn ich erwachen tu',
Bin ich allein.

*   *   *

Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, ade!
Feinsliebchen schaute zum Fenster hinaus, ade!
– Ja, Scheiden und Meiden tut weh!

*   *   *

Ach Elslein, liebes Elslein,
Wie gern wär' ich bei dir;
So sein zwei tiefe Wasser
Wohl zwischen dir und mir.

*   *   *

Wollt' Gott, ich wär' ein weißer Schwan,
Ich wollte mich schwingen über Berg' und tiefe Tal,
Wohl über die wilde See,
So wüßten alle meine Freunde nicht,
Wo ich hingekommen wär'!

*   *   *

Walter, Volkslieder. W. Walter, »Sammlung deutscher Volkslieder«, Leipzig 1841.

Keine Rose, keine Nelke
Kann blühen so schön,
Als wenn ein Paar verliebte Herzen
Beieinander tun stehn.

Und kein Feuer, keine Kohle
Kann brennen so heiß
Wie die heimliche Liebe,
Davon keiner nicht weiß.

*   *   *

Walter, Volkslieder. III, 112.

Ich wollte, daß alle Federn wären Papier,
Und alle Studenten schrieben hier,
Sie schrieben ja hier die liebe lange Nacht,
Sie schrieben uns beiden die Liebe doch nicht ab.

*   *   *

Wunderhorn. »Des Knaben Wunderhorn«, eine Sammlung deutscher Volkslieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Klemens Brentano (1806-8). II, 12.

      Ach, was weint die schöne Braut so sehr!
Mußt dein Härlein schließen ein
In dem weißen Häubelein.

      Ach, was weint die schöne Braut so sehr!
Wenn die andern tanzen gehn,
Wirst du bei der Wiege stehn.

*   *   *

Wunderhorn. I, 34.

      Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.
Und alles, was er blies, das war verlor'n.
Schwarzbraunes Mädele, entspringe mir nicht;
Habe große Hunde, die holen dich.

      Deine großen Hunde, die holen mich nicht,
Sie wissen meine hohen, weiten Sprünge noch nicht. –
Deine hohen Sprünge, die wissen sie wohl,
Sie wissen, daß du heute noch sterben sollst.

      Es wuchsen drei Lilien auf ihrem Grab,
Die wollt' ein Reiter brechen ab.
Ach, Reiter, laß die Lilien stahn,
Es soll sie ein junger, frischer Jäger han.

*   *   *

Wunderhorn. I, S. 141.

Es ist kein Jäger, er hat einen Schuß
Mit hundert Schrot auf einen Kuß;
Feins Lieb, dich ruhig stelle,
Feins Liebchen, sitz still im grünen Moos,
Der Vogel fällt in deinen Schoß
Wohl von des Baumes Spitzen.
In deinem Schoße stirbt sich's gut,
Feins Lieb, bleib' ruhig sitzen!

*   *   *

Eins der berühmtesten Weinlieder ist:

Der liebste Buhle, den ich han,
Der liegt beim Wirt im Keller,
Er hat ein hölzin Röcklein an
Und heißt der Muskateller ec.

Anmerk. Die hier mitgeteilten Proben habe ich dem bei Krabbe in Stuttgart 1858 erschienenen Werk von Wolfgang Menzel entnommen: »Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit«.

Der Verfasser schließt den Abschnitt über bürgerliche Meistersängerei mit den Worten:

»Ich muß wenigstens einen Blick auf die reiche Poesie unserer Kinderlieder werfen. Kein Volk hat deren so viele und so naive. Es sind Wiegenlieder für die Kinder, Spiel- und Tanzlieder, welche die Kinder selbst singen; Rätsel, die sie sich aufgeben, und Anrufungen beim ersten Anblick von Tieren, z. B. des Maikäfers, des Storchs, der Schnecke ec. Endlich auch kleine harmlose Spottverse. Man hat in neuerer Zeit in ihnen Spuren des alten Heidenglaubens, der alten Götter und Göttinnen entdeckt, woraus ihr hohes Alter erhellt. Vergleiche die Schriften darüber von E. Meier Ernst Heinrich Meier (1813 – 66), Verfasser der »Deutschen Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben« und der »Deutschen Volksmärchen aus Schwaben«. von Stöber, August Stöber, Schriftsteller und Literarhistoriker (1808 – 84), der durch seine Tätigkeit viel zur Erhaltung des deutschen Wesens im Elsaß beigetragen hat. Die Schriften, auf die hier verwiesen wird, sind besonders: »Alsabilder«, »Oberrheinisches Sagenbuch« und »Elsässiches Volksbüchlein«.die reiche Sammlung in Müllenhoffs Karl Viktor Müllenhoff, bedeutender Sprach- und Altertumsforscher (1818 bis 1884), Verfasser einer grundlegenden »Deutschen Altertumskunde«, Herausgeber von »Sagen, Märchen und Liedern der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg« und Mitverfasser des »Deutschen Heldenbuchs«. Sagenwerk. Vor allem das große Werk ›Kinderlied‹, 1857, von Rochholz.« Ernst Ludwig Rochholz, deutscher Sagenforscher (1809 bis 1892). Der vollständige Titel des oben angezogenen Werkes ist: »Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel«.

In den deutschen Volksliedern spiegelt sich der unergründliche Dualismus des deutschen Wesens am wunderbarsten ab. Unser Volkslied atmet ebensoviel freieste, keckste Lebenslust als Melancholie. Es unterscheidet sich eben dadurch von den Gesängen anderer Nationen, daß sein Geist nicht, wie bei den Slawen, in Seele und Sinnlichkeit ersäuft wird, sondern die Fülle und Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen wie der Weltverhältnisse beherrscht. Es charakterisiert unser Volk, daß es die Kraft seines Herzens aus dem lebendigsten Verkehr mit der Wirklichkeit bezieht, daß es nicht nur Novellen, Kriegs- und Staatsaktionen zu besingen, sondern alle Töne anzuschlagen, daß es Wander-, Jäger-, Bettler-, Fuhrmanns-, Fastnachts-, Schelmen-, Zoten- und Trinklieder zu singen, sich mit dem derbsten, dem ungereimtesten, dem tollsten Leben in Harmonie zu setzen versteht; und dann wieder ist es das deutsche Lied, welches uns ein Ade, ein »Scheiden und Meiden«, ein Lieben und Leiden, eine Vereinsamung der Seele mit Worten vorsingt, in welchen der ganze bunte Weltwirrwarr, den unsere Sinne entzündeten, wie ein chinesisches Feuerwerk erlischt.

Und wie können diese einfältigen Liederworte, die bekanntesten Naturbilder solche Zauberwirkungen tun? Sicherlich, weil sie so knapp und keusch, so ungeschminkt und ungesucht, weil sie eben so einfältig sind!

Das deutsche Volkslied ist es, welches uns die tiefsten Mysterien nicht nur der Poesie und des Menschengemüts, sondern der Sprache und Lebensökonomie erschließen könnte, wenn wir einen Überrest von dem symbolischen Verstande behalten hätten, der die Hieroglyphen der Natur und die Zeichensprache des Herzens zu deuten, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht.

Eben wenn unsere Seele das Wohl und Weh des Lebens empfindet, wenn sie von Schmerz und Freude durchfurcht wird, dann spricht sie für sich und nicht für die Welt, dann sind ihr die kürzesten und einfältigsten Worte die liebsten, dann fühlt sie die Kluft, die zwischen dem Erlebnis und der Sprache befestigt ist, dann braucht sie Worte und Bilder nicht wie eine elastische und ebenbürtige Form für die Mysterien von Tod und Leben, sondern ähnlich dem Träumenden und Irrsinnigen, dem alle Worte und Zeichen gleichviel gelten, weil er nicht mehr Sache und Zeichen, Verstand und Seele zusammenreimen kann.

Die deutschen Volkslieder sind nicht allein deshalb so knapp und keusch in ihrer Sprachökonomie, sie zeigen nicht deshalb so viel Lücken und naive Phantasiesprünge, weil sie ein Liedertext sind, welcher die Bestimmung hatte, von der Musik koloriert und mit Fleisch bekleidet zu werden, sondern die Bescheidenheit, die Verschämtheit, die geistige Jungfräulichkeit ist das notwendige Symptom der deutschen Tiefe, Innigkeit und Wahrhaftigkeit; und eben sie begnügte sich mit Andeutungen von Mysterien, für deren förmliche Ausführung das Volk weder den Kunstverstand noch die Dreistigkeit und den Profansinn besitzt.

Der gemeine Mann hat, wie gesagt, noch heute keinen rechten Begriff und Glauben, wie das Wort die Sache decken oder an ihre Stelle eintreten kann. Es geht dem Menschen aus dem Volke bei gewissen Gelegenheiten mit dem Worte wie den kleinen Kindern, die sich einbilden, daß man ein Geldstück für so viel Wert anbringen kann, als man mit Worten erklärt, daß es gelten soll. Ein dreijähriges Mädchen gab seinem zur Universität abgehenden Bruder seinen ersparten Taler mit den Worten: »Lieber Ludolf (Rudolf), hier hast du einen Dulden (Gulden) und tauf (kauf) dir drei doldne (goldne) Dukaten.«

Die echten Volkslieder geben uns auch ihre Wortersparnisse mit der kindlich-gläubigen Zuversicht, daß der Zauber der Sprache und die Wahrhaftigkeit ihrer Empfindung alles das sagen und singen wird, was zur Sache gehört; so malen sie denn keinmal ihre Empfindungen aus, am wenigsten in tönenden Phrasen oder in witzigen Wendungen; sie begnügen sich mit Andeutungen von der Situation und Szenerie, die für sie sprechen muß; und sie haben sich nicht geirrt. Jeder Schmerz und jedes Entzücken macht uns wortkarg und stumm. In den ersten Augenblicken des Wiedersehens, in den letzten des Scheidens sprechen wir aus Verzweiflung, die angemessenen Worte zu finden, von den gleichgültigsten oder entlegensten Dingen, um desto freier dem Gefühl hingegeben zu sein.

Das Wunder der lyrischen Poesie reduziert sich auf Stimmung, auf Seele und Persönlichkeit. Der Mensch aus dem Volke hat es mit dem Wunder des Herzens, der augenblicklichen Lebensempfindung, aber nicht mit der Form zu tun; und wir fühlen eben an der Formlosigkeit oder an dem ungeschickten, dem lückenhaften und stammelnden Ausdruck die Tiefe der Empfindung und ihre Prophetie, die den konventionellen Verstand absorbiert und die gemeinen Organe verstummen läßt.

Wenn die Seele einer Erscheinung und Situation unsere Seele so befruchtet, »daß das Weltbild in unserm Gemüte wühlt« und uns gleichwohl die Eigenart und der Mangel an Bildung unfähig macht, mit Natur und Menschenwelt zu korrespondieren, dann genügt uns das einfachste Zeichen, die bloße Andeutung und Symbolik; dann haben wir es weder mit der Buchstäblichkeit noch mit förmlichen Vermittlungsprozessen zu tun. Das übervolle Herz kennt keinen Gegensatz von Welt und Individualität, es kennt keine Methode und keinen Widerstreit von Mitteln und Zwecken, es fühlt nur seine Freude oder seinen Schmerz und erlöst in diesem liebenswürdig-naiven Egoismus den Hörer und Leser von der Tyrannei eines Verstandes, der die Mysterien der Seele und Persönlichkeit aller Welt in schulgerechten Formen zu vermitteln bestrebt ist. Diesen Zauber wirkt eben das Volkslied. Seine Armut ist sein Reichtum, seine Weisheit besteht in seiner naiven Lebensökonomie, seine Lebenskraft in seiner Konzentration auf den engsten Raum, seine Wehr und Waffe in seiner Unschuld und Unwissenheit. In dieser Tiefe und Wahrhaftigkeit, in dieser Einfalt und Naivetät des deutschen Gemüts liegt die glückliche Kombination, die Lebensökonomie, die man den »kecken Wurf« genannt hat.

*   *   *

»Die alten schottischen Balladen haben fast immer eine geschichtliche Grundlage; sie sind voller Sprünge, kurz und kräftig, nur in späterer Zeit auf weitläuftige Beschreibungen eingehend. Auf Unwahrscheinlichkeiten, selbst auf Unmöglichkeiten kommt es den alten Poeten nicht an. – Ihre Dichtungen sind rauh und derb, voller Mark und Leben, bestimmt und scharf gezeichnet, aber frei von den weitläuftigen Naturschilderungen und der Empfindsamkeit Macphersons.« James Macpherson, schottischer Schriftsteller (1736-96), gab eine Sammlung alter, im schottischen Hochlande gehörter Lieder heraus, deren Echtheit anfangs bezweifelt wurde, aber neuerdings zum größten Teil bestätigt ist. Diese Sammlung erschien unter dem Titel »Works of Ossian«, 1765. – Ossian ist in diesen Gedichten der Name des Sängers, der im 3. Jahrhundert gelebt und sie verfaßt haben soll, Sohn eines Königs Fingal in Hochschottland.

(Geschichte der schottischen Volkslieder von Fiedler. Eduard Fiedler, »Geschichte der volkstümlichen schottischen Liederdichtung«, Zerbst 1846.

Im Volksliede gibt eine Grundstimmung, eine tiefe Melancholie oder der augenblickliche Mutwille allen Worten und Bildern Farbe, Wärme und Ton und ersetzt so auf naturgemäße Weise den Mangel der gebildeten Sprache und des Gedankenreichtums. Die Schmucklosigkeit und Schämigkeit, die Enthaltsamkeit des Dichters und seine schöne Armseligkeit machen, daß der Hörer und Leser mitdichtet, daß der Musiker Lust und Spielraum für eine Tonweise gewinnt, während die üppige Ausladung, die Beredsamkeit und Ausführlichkeit, die Sicherheit des gebildeten und renommierten Poeten uns das Gefühl der eignen Armut und Unbedeutenheit aufdringt.

Jedermann gibt und hilft der hilflosen Waise, dem Bettelgreise, jeder verfolgt mit Interesse die Laufbahn eines unerfahrenen, aber strebsamen Jünglings, der allein auf seinen Mutterwitz und seine Begeisterung angewiesen ist; während der Reiche, der Mächtige, der sieggekrönte Held oft Mißgunst und Opposition erweckt.

Gott und die Natur zeigen sich im Schwachen mächtig; wer die Formen beherrscht, dem verzehren sie nicht selten das Herz. Wer, einem Helden gleich, mit seinem Geiste das Leben bekämpft, der kann nicht die tausend Stimmen des Lebens belauschen; wer selbst eine Welt in seinem Geiste erschafft, wie der Gelehrte, der ist kein Spiegelbild für die Mysterien der Seele und Natur. Frauen empfinden viel leiser, feiner und sinniger, sie zeigen mehr natürliche Grazie und Poesie, mehr Inspiration und sittlichen Takt als die Männer. Ihr Herz durchläuft die ganze unendlich reiche Skala des Gefühls und der Empfindung vom leisesten Affekt bis zum Sturme der Leidenschaft, von der augenblicklichen Selbstbeherrschung und Verstellung der Gefühle bis zu ihrer Abtötung, zur Resignation; und die Frauen erwerben diese Virtuosität durch ihre verhältnismäßige Unwissenheit und Passivität, durch ihre Naturwüchsigkeit, die darum doch mit dem Geiste in Korrespondenz bleiben kann. Ähnliche Vorteile wie dem Wesen der Frauen kommen der Volkspoesie zu gut: sie ist keusch und inspirierten Herzens und dehnt dieses Herz momentan zu einem Weltgefühl aus.

Soll uns das Leben zum Vehikel und Organ für seine natürlichen und übernatürlichen Prozesse machen, so müssen wir zu schweigen, zu lauschen und auch wach zu träumen verstehen, so müssen wir der durch Geistesarbeit und Willenskraft verbrauchten Nervenkraft so viel Ruhe verstatten, daß sie einen Überschuß sammelt, durch den sie wieder mit den Kräften aller erschaffenen Dinge und mit den Seelen der lebendigen Geschöpfe in Verkehr treten kann. Pflicht und Lebensnotdurft fordern unsere Geschäftigkeit heraus, wenn sie aber nicht mit Ruhe und Besinnung abwechselt, so verschließen sich die Organe, mit welchen der Mensch das übersinnliche Gesetz und die Harmonie des Lebens vernimmt, die ihn zum Poeten und, was mehr sagen will, zum religiösen Menschen machen.

Der Preis vor allen Liedern gebührt dem deutschen Liebeslied; seine Tiefe, seine Herzenskraft und Frische, seine Naivetat und Wahrhaftigkeit wird nicht einmal von den Liebesliedern der stammverwandten Engländer, geschweige von andern Nationen erreicht. Gervinus Georg Gottfried Gervinus, deutscher Geschichtschreiber und Literarhistoriker (1805-71), einer von den Göttinger Sieben. charakterisiert die englischen Lieder, indem er sagt: »Man höre dergleichen von einem Engländer nur lesen oder singen, alles ist Aktion und Schauspiel, was bei uns simple Natur ist, alles tragisch, wo uns das Traurige genügt, alles pathetisch, was bei uns sinnig und tief, anspruchsvoll, was hier naiv und unschuldig ist. Die schmucklose Wahrheit des deutschen Liebeslieds litt nicht, daß sich irgend etwas Chimärisches in ihnen ansetzte wie in der Ritterpoesie so oft – die Naturfreude im ritterlichen Minneliede steht wie ein toter Schmuck neben der Freude an den Frauen; aber im Volksliede versenkt sich ein gedankenvolles Mädchen bis in die lebende Unterredung mit der Haselstaude (›Es wollt' ein Mädchen brechen gehn‹), hier blüht treue Liebe im Vergißmeinnicht, und die Blumensprache beruht nicht auf Konvention, sondern auf alter, echter Überlieferung im Volke. Sie brauchen es nicht zu sagen, diese Dichter, daß die schöne Natur sie beglückt; sie brauchen auch nicht die Schönheit der Geliebten so speziell zu beschreiben, wie die Minnelieder es tun; aber man sieht es und begreift's.«

Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über; aber je voller es ist, desto sparsamer spricht es. Das Liebeslied beschreibt und deklamiert nichts mit Pathos und Emphase, sondern versetzt uns naiv in die Situation, zu der fast immer die Naturszenerie wie der Körper zur Seele gehört. Natur und Liebe, Herz und Natur – Traum und Natur – fühlt das deutsche Volksgemüt als die ineinsgebildeten Faktoren, als die wechselnden Pole der Seele und setzt diese Tatsache so vollkommen bekannt bei allen Menschen voraus wie die fünf Sinne und den gesunden Verstand. Das deutsche Volkslied singt nur für sich und die Gleichgestimmten, denn ohne Mitleidenschaft sind alle Beschreibungen nicht nur Absurdität, sondern eine Säkularisation. Bei dem Hange des Deutschen zum Lehrhaften ist das tiefe Gefühl und der symbolische Verstand, welcher nicht nur den Geist der Dinge, sondern die Seele der Situation begreift, desto wunderbarer. Ebenso unbegreiflich ist es, daß durch das tiefe Naturgefühl der deutschen Lieder nicht das faktische, nicht der individualisierende Verstand verwischt wird, wie dies z. B. die Gesänge Ossians Vgl. S. 48, Anm. 1. charakterisiert.

Der Deutsche hat vielmehr seine Poesie immer aus der Wirklichkeit extrahiert. Diese Tatsache ist ein tiefer Zug und ein Zeugnis seines frischen Herzens wie seines Gemütswitzes, d. h. seines Humors.

Selbst die Phantasie des Liedes hält sich immer an die wirklichen Erscheinungen und wird nie ungeheuerlich wie in der Ritterpoesie; aber das Zentrum, den Herzpunkt aller Empfindungen wie Phantasiestücke bilden Liebe und Treue. »Die Leidenschaft bleibt immer das Herrschende«, wird nie durch das Beiwerk, weder durch Naturszenerie noch durch Witz und Phantasie-Arabesken noch durch Stilüberwucherungen beeinträchtigt oder gar verwischt.

Die Volkspoesie, und insbesondere die auf Naturgegenstände bezogene, von Naturbildern getragene slawische Volkslyrik, bewegt sich im engsten Lebenskreise, erscheint aber wie ein in den Teich geworfener Stein, der leise und immer leisere konzentrische Wellenkreise bis zum Ufer fortpflanzt und die Seele des Hörers oder Lesers ganz in solchen Gefühlswelten bewegt.

Das deutsche Volkslied unterscheidet sich dadurch auf das bestimmteste von dem slawischen, daß es einerseits die Natur vollkommen klar und unbefangen, ja mit einer naiven Geistesüberlegenheit reproduziert, welche sehr selten die Molltonart der slawischen Poesie zeigt, dagegen aber die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Gefühlsprozeß hineinzieht und das Schisma zwischen der sittlichen Konvenienz und dem eigenen Herzen mit einem satirischen Witz behandelt, welcher das elegische Element als andern Pol aufzeigt und sich so zu einem leisen Humor gestaltet, der dem Slawen sehr selten und dann nur als witziger Scherz zu eigen ist.

Die Seele des slawischen Poeten wird von Natur, und ebenso wird sein sittlicher Charakter von der Gesellschaft dergestalt absorbiert, daß die Reaktionen des Geistes nur leise zu verspüren sind. Der Deutsche fühlt sich durch seinen religiösen Sinn der Natur überlegen und bekämpft mit freiem Witz und Geist die Konflikte, welche sein Herz mit der Gesellschaft zu bestehn hat.

»Im Volke verfängt nur eine kleinste Geschichte, eine Situation, die mit der tiefsten Kraft des Herzens aus der Lebensmitte gegriffen und von der Bildkraft des Lebens selbst gestaltet worden ist. Der Literaturstil und die kokette Literaturästhetik haben, Gott sei's gedankt, auch heute noch keine Macht über das menschliche Herz. Jeder Schriftsteller, vor allen aber der Dichter, der die Sympathien der unverbildeten Menschen, der Massen sucht, muß sich eine Ader öffnen, muß sein Herzblut, seinen Nervensaft verspritzen. Ein Moment, ein Ding aus dem wirklichen Leben, plastisch, mit Seele und Leib, mit Hand und Fuß in Szene gesetzt, das verfängt, aber ums Himmels willen keine Literaturmiseren, keine eingebildeten Leiden, keine Selbstverhätschlung, kein versifizierter Krankenbericht aus den Kämpfen mit dem kultivierten Dasein, keine Blasphemieen auf den Unsinn der Zeit, keine Jeremiaden über die Differenzen mit ihr. Die Poesie soll eine Erlösung sein! Das Hauptverdienst der Volkslieder ist die ehrliche Intention, die tüchtige Natur, das unaffektierte Gefühl, der gesunde Menschenverstand (der so rar in den besten Gedichten ist), der nichts anzüngelt, was er nicht ablangen kann, – und nicht mit abgeschwächten ausgeleierten Formen oder Tagestendenzen kokettiert!

Eine Volksmelodie erschließt uns die tiefsten Gesetze der Poesie, der Sittlichkeit und alles Lebens, wenn wir ihre wunderbare Melancholie, ihre Symbolik zu deuten verstehen. Es singt und klagt da ein individuellstes Leben, eine Seele, so innig ihr eigenartigstes Empfinden, hält gläubig und naiv die Weise fest, in der ihr die Schönheit und Heiligkeit der Welt erklingt.

Eben diese naive Monotonie, diese Kraft und Innigkeit, zu der sich die Beschränktheit zusammenrafft, dieser gepreßte Schrei aus der kleinsten Welt, ergreift unendlich tiefer als ein behaglich geschmackvolles Spiel mit Formen, die der gebildete Verstand seelenlos von der Oberfläche des Lebens geschöpft, schamlos herausgewendet, breitgetreten und ausgeleiert hat. Wie anders geschieht uns mit ein paar Strophen aus einem alten Liede, das wir vielleicht auf der Gasse hören oder im Stammbuch eines Nähtermädchens lesen:

»Eine Lilie, eine Rose gebt mir mit ins Grab,
Weil ich Lilien, weil ich Rosen, ach, so lieb gehabt!«

*   *   *

»Das Feuer kann man löschen, die Liebe nicht vergessen;
Das Feuer brennt so sehr, die Liebe noch viel mehr!«

Solche Weisen, solche Worte pressen auch aus dem welken Herzen noch einen Blutstropfen heraus.

Eines fehlt allen schulgebildeten Dichtern und Dichtungen, es ist der Schrei des Herzens, der Witz des Herzens, der die Welt zu einem einzigen Bilde, das Leben zu einer tiefsten Empfindung konzentriert.

Im Volksliede, in einem Liede von Robert Burns, dem Schotten, entzückt uns der natürliche und begeisterte Mensch, der ganze heilige Poet, der dem redseligen, gezierten und geschulten Menschen auf den Mund schlägt und die Dinge dieser Welt wieder in die natürliche Rangordnung einzusetzen die königliche Leidenschaft besitzt; eine Leidenschaft, welche zum Witz und Vollmut wird, indem sie jeden Prozeß und jede Geschichte auf den kürzesten, den körnigsten Ausdruck reduziert, indem sie die erhabensten Ideen wieder mit den Naturgeschichten, mit den gemeinsten Dingen so zusammentraut, wie es die Gottheit bei der Schöpfung getan.

In der absoluten Kraft des Schöpfers wie der Natur gehen alle Kräfte, alle Lebensfaktoren zu gleichen Rechten, und so muß denn auch der echte Dichter ein Erlöser sein, der mit der absoluten Kraft des Herzens und mit seiner Lebensinbrunst die getrennten Welthälften, Natur und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft, die Wirklichkeit und die Ideen, wieder zusammentraut. Und der echte Dichter muß diese Versöhnung nicht mit Humor, Wohl ein Hieb gegen die sogen. »romantische Ironie«. sondern, wie der Volkspoet, im unschuldigsten Ernste vollbringen, er muß ein heiliger, ein naiver Mensch sein. Wer noch ästhetische Gewissensbisse empfindet, wenn er die Lebensgegensätze zusammenreimt, wer das verlorene Gleichgewicht seiner Seele und seines Herzens mit dem Weltverstande, mit Schule, Sozietät und Konvenienz durch krausen Witz und Extravaganzen zu maskieren sucht, der mag ein humoristischer Schulpoete sein, aber ein Volksrichter reimt die Verstandesgegensätze so harmlos und heil zusammen wie die ewig junge Natur.

Die Schulpoeten werden ungenießbar und unerquicklich, weil sie die Schönheit nur aus der Harmonie homogener Kräfte und aus purer leerer Formenharmonie, aus einer negativen Ökonomie ohne Verschwendung, ohne Kontraste, ohne Licht- und Schattenmassen erzeugen wollen, weil sie nicht beherzigen, daß die Harmonie sich in Dissonanzen stetig wiedergebären muß, daß das angestrebte Maß nur an exzentrischen Kräften zur lebendigen Anschauung gebracht werden kann. Das echte Volkslied aber ist sich dieser poetischen Gesetze instinktmäßig bewußt und ergreift uns durch einen wundervollen Verein von Energie und Grazie, von Melancholie und Lebenstrunkenheit, durch wilde Phantasie, durch einen Schrei des Herzens, durch eine ungebändigte Leidenschaft, deren Witz das Größeste und das Kleinste, die Person, die Sache, das Gefühl und den Weltverstand ohne Rücksicht auf Form und Konvenienz zusammenreimt und zu gleichen Rechten ausspielt. Und all' diese dämonischen Prozesse, diese Himmel- und Höllenfahrten des Herzens werden an einem Stichwort, an einer sich wiederholenden Redefigur, an einem Gedankenschema, an einer Kunstschablone absolviert, welche sich dem poetischen Sinn nichtsdestoweniger so darstellt wie ein Lattenspalier, das von traubenschweren Weinreben umrankt ist.

Was man auch dagegen sagen möge, das Volk, der ungeschulte Mensch besitzen trotz ihrer Unflätigkeit in Worten und Werken doch oft viel mehr verschämte Seele, mehr verschämten Geist als die schulgebildeten Leute. Die Poeten, die Philosophen, die Ästhetiker haben kulturnotwendig kaum einen Winkel ihrer Seele für die Gottesscham, d. h. für die unmittelbare Empfindung und Heiligung, für das Heimlichhalten eines göttlichen Objekts, einer Kraft, die nicht mit dem Ich identifiziert werden darf. Mit den Parolen der Öffentlichkeit, der Aufklärung, des Bewußtmachens, des präzis normierten Gewissens, der zum allgemeinen Besten gegebenen Nationalempfindungen, Leidenschaften, Divinationen, Schmerzen und Freuden verträgt sich wohl eine konventionelle, aber keine ursprüngliche, individuelle und natürliche Scham. Man müßte denn behaupten, daß eben mit den schematisierten Gefühlen und den schablonisierten Gedanken der Literaturpoeten ihr individuellstes Empfinden, ihr Seelenleben erst recht beschont würde. Was aber unsre modernen Poeten betrifft, so individualisieren und schematisieren sie in demselben Atem so viel, daß weder von der Seele noch vom Verstande etwas Reelles für die Scham, d. h. für die Heimlichkeit, die Heiligung eines göttlichen Andern übrigbleibt. Es ist also so weit mit uns gekommen, daß eben die schamlosen Leute die öffentlichen Träger und Organe unserer heiligsten Gefühle, Gedanken und Glaubensbekenntnisse geworden sind; denn den schämigen Leuten fehlt die förmliche Routine gleichwie die Dreistigkeit. Es kann nicht anders sein, es ist ein Kulturmalheur, aber heute an der Zeit, daß dem Kulturdünkel seine Unnatur und seine Schande zum Bewußtsein gebracht wird, da das Bewußtmachen Parole geworden ist.

Die Naivetät kann freilich Scham und Öffentlichkeit, Divination und Reflexion vermitteln, aber unsere Naivetät ist ähnlich unserer Natur und Scham eben nur eine kultivierte zweite, aber keine erste Natur und Naivetät.

Es gibt Kulturgemeinheiten, kultivierte Schamlosigkeiten und Barbareien, die durch die allgemeine Sitte eine zweite Natur, eine vollkommne Unbefangenheit, ja eine Liebenswürdigkeit geworden sind, wie z. B. in Italien die Schufterei, der Geldgeiz, die Geldgier, die Zudringlichkeit, die Ehrlosigkeit, die Submission des Untergebenen in Polen; die Vielweiberei in der Türkei; der Geldwucher und Schacher bei Juden und Christen in der ganzen Welt; die zur Schau getragne Frömmigkeit und persönliche Auszeichnung in der ganzen Welt; also halten wir freilich die Liebeslieder, d. h. die Literaturempfindungen, Literaturleidenschaften, Literaturlügen und -affektionen, bei den kultivierten Nationen der ganzen Welt für keine Schamlosigkeit; ich bin aber so kurios und taxiere sie so, wenn ich auch begreife, daß es sich so gemacht hat, nicht zu ändern, also zu entschuldigen ist.

Wenn uns die Schönheit und Wahrheit, die Herzenseinfalt des Volksliedes aufs Gewissen fallen soll, müssen wir einen dicken Band von gebildeten Versen zur Hand nehmen.

Der allgemeinste Zauber des Volksliedes wie der Märchen besteht eben darin, daß man ihre Verfasser nicht kennt. Eine literarische Notabilität, ihre künstlich stimulierten Gefühle, gichtischen Natur- und hämorrhoidalen Nationalempfindungen, ihre persönlichen Malheurs und Lächerlichkeiten und die profanen Episoden ihrer offiziösen Biographie schicken sich verzweifelt schlecht zu der inwendigen Illumination, die jedem Liede Licht und Farbe leihen muß. Ein dichtender Doktor will in der Regel die ganze Welt rektifizieren und mit Gewalt glücklich machen; wo er nicht lehrhaft sein und die Schöpfung umspannen kann, wo er das Experiment macht, mit seinem Herzen allein zu zahlen: da stellt sich bald heraus, daß dieses ohne Geschichte, ohne Witz, ohne Frische, ohne Prophetie, daß es insolvent ist, daß es auf längst abgeleierte Phrasen und Tonweisen ziehen muß. Es gibt auch gelehrte Leute mit einem inspirierten und innigen Gefühl, mit plastischen ursprünglichen Empfindungen, aber sie gehören nicht zum Dutzend; und das Volk versteht sie nicht, weil sie in der Regel zu gebildet, zu kompliziert und zu preziös in der Form oder zu exzentrisch sind. Goethes glückliche Organisation hat zwar das Problem gelöst, ähnlich den alten Griechen, das Gemeingefühl, d.h. die normale und inspirierte Naturempfindung, in welcher alle Gebildeten ihre eigne Naturgeschichte wiederfinden, mit seiner selbständigen Individualität auf die graziöseste und scheinbar einfachste Weise ineinszubilden: aber der Goethesche Genius ist zu rar, um ihn mit jedem Doktorhut vermählt zu glauben, und außerdem gähnt zwischen Goethes wie Uhlands Liedern und den Volksliedern doch die Kluft, welche zwischen Natur und Geist, zwischen Natur und Kunst, zwischen Traum und Wachen, zwischen Volk und Gebildeten ewig befestigt sein wird.

Wenn heute keine Volkslieder, Sprüchwörter und Märchen mehr zur Welt kommen, so rührt dies von dem forcierten Verkehr des modernen Volks mit den Literatur- und Kulturgeschäftigkeiten her. Das Volk will, wie der Diamant, mit seinem eigenen Staube, nicht aber mit Schulstaub und politischem Wüstensande geschliffen sein. Von den Unmassen der Ideen, der Kulturapparate und Kulturelemente, welche man heute kunterbunt, ohne Räson, ohne Gewissen, ohne Verständnis des Volksgemüts, der Volksmysterien und -missionen ins Volk wirft, müssen sich die bornierten und gemeinen Individuen berauscht und frech gemacht finden, während die talentvollen, bildsamen und sinnigen Naturen einen Einblick in ihre Unwissenheit und in das Chaos der Kulturprozesse gewinnen, der sie verwirrt, entmutigt und betäubt. Der Mensch kann nur so lange bildkräftig sein, als er naiv verbleibt; mit der Kritik, mit der Selbsterkenntnis beginnt die Verpuppung des Geistes, die Mauser. In dieser Kulturmauser befindet sich das deutsche Volk zu unsrer Zeit. Dazu kommt, daß die Kräfte von Poesie und Philosophie, von dem idealen gleichwie von dem individuellsten Leben hinweggewendet, ausschließlich auf die Wirklichkeit und ihre materiellen Forderungen, auf Politik, auf Sozialprobleme, Assoziation, Nationalökonomie und Industrie gerichtet sind. So kann es denn an den natürlichen Rückschlägen, d. h. an einem gemeinen, inhumanen, unliebenswürdigen, der Natur wie der Vernunftbildung gleich sehr zuwiderlaufenden Materialismus und Egoismus nicht fehlen.

Nicht nur unsre Gedanken, sondern unsre Gefühle sind bereits durch unsre Kulturmaschinerie und -kontrollen, durch unsre Kulturschleifereien schematisiert. Das Volkslied bringt zwar auch einen Schematismus in Anwendung, aber der Reim, der Refrain, die stereotypen Bilder, Wendungen und Rhythmen des Volksliedes sind nur das Lattenspalier, an welchem die Seele ihre Weinreben desto bequemer emporranken kann.

Wir gebildeten und geschulten Leute müssen einen Gedanken dem andern förmlichermaßen vermitteln, damit keine Gedankensprünge entstehen; denn wir erstreben ja nicht nur die Rechtskontinuität, sondern den ununterbrochenen Geschichts-, Kultur- und Denkprozeß. Wer in demselben Lücken lassen, Phantasiesprünge machen oder naive Apostrophierungen verschulden wollte, wäre ja ein kurioses Naturellgenie, ein Barbar im eximierten Reiche der korrekten Lebensart und des klassischen Geschmacks!

Wenn nun aber die Gedanken uniformiert, wenn sie in Reih' und Glied gestellt sind, dann werden noch die Gefühle und Empfindungen nebst den etwaigen Phantasiestücken in die Zucht der Ideen, d. h. der Vernunftanschauungen genommen, die aber in der Regel nichts weiter als von der Seele abgelöste, d. h. abstrakte Gedankenformeln sind, während doch die Vernunft nur dann ein Organ der absoluten Wahrheit und Humanität sein kann, wenn sie Natur und Geist, Person und Menschheit, wenn sie alle Lebensgegensätze in einem höchsten Prinzip zu gleichen Rechten umfaßt und begreift.

Der Mutterwitz des Volksliedes aber greift das Beste aus der Mitte; und diese lebendige Mitte ist das Herz der Dinge, der Menschen und Geschichten. Wenn wir es unser nennen, so wird uns alles andere geschenkt, denn dieses Herz, mit einem zweiten in Kontakt gebracht, dehnt sich durch Liebe augenblicklich zu einer Peripherie, in welcher die Mysterien der ganzen Welt abgefangen sind. Freilich ist der Instinkt und der Takt des Volksherzens wetterwendig und unfrei, weil er formlos, weil er oft gedankenlos ist; freilich bleibt zwischen der Divination dieses Herzens und dem förmlich vermittelnden Verstande eine Kluft befestigt, welche das Volkslied nicht zu überbrücken und nur selten mit seiner Phantasie zu überfliegen vermag. Das Bewußtsein, das Gewissen von dieser Unfreiheit ist der Grund und Inhalt der Melancholie, welche alle echten Volkslieder charakterisiert: aber die geschmackvollen, die leise dialektischen Vermittlungen von Natur und Geist, von Seele und Verstand, von Persönlichkeit und Sozietät, von Herz und Weltvernunft, welche unsre Literaturlieder zum besten geben, sind viel trostloser als poetische Melancholie, denn sie sind eitel Prosa, in Reime und Versmaß gebracht.

In solchen Zeiten wie die unsrigen, wo man aus dem Profanverstande, aus der Profanliteratur, aus den enzyklopädischen Naturwissenschaften, aus der Säkularisation des Mittelalters, der Vätersitte und des Väterglaubens den Honig saugt, welchen man zu der bittern Medizin der Gegenwart braucht; in unsern divinationslosen und unpathologischen Zeiten, in welchen sich der geschmackvolle Mensch nicht einmal zur Musik in einem pathologischen Verhältnis befinden darf, in einer Zeit, wo die Seele mit einem Pergament bekleidet, der Verstand aber so weltneugierig, so lüstern und kitzlig, so pathologisch und empfindlich wie eine entblößte Muskel geworden ist, da haben eben die schul- und weltklugen Leute keinen Begriff von der Lebens- und Gottesempfindung, von der religiösen Inbrunst, aus welcher das deutsche Kirchenlied hervorgegangen ist.

Eben in der Roheit, in der Unwissenheit, der Wüstheit und Unsicherheit der Zeit vor und nach der Reformation, in der Verwilderung im Dreißigjährigen Kriege, in der unseligen protestierenden Interimszeit, wo das Gemüt eine uralte Form und Weltanschauung aufgegeben und die neue noch nicht zur Reife gebracht, noch nicht eingelebt und zu einer sittlichen Gewohnheit gemacht hatte: in dieser Verzweiflung an der Geschichte, an der Kirche, am Staate, an der Welt, an der Menschheit und am eigenen Selbst, da fand der Deutsche das Heilmittel der Seele in Kirchenliedern, welche so lange ein Labsal für das Gemüt bleiben werden, als es noch deutsche Menschen, als es ein Verständnis Luthers und Paul Gerhardts geben wird.

In unsern durchgreifend zivilisierten, mittelmäßigen, nivellierten, formgebildeten und geschmackvollen Zeiten kennt man so barbarische Zustände, so trostlose, so absolut verzweifelte Gemütsverfassungen nicht, aber auch ihre Reaktionen, ihre Erlösungen, Bildkräfte, Heldentaten und fühlbaren Gotteshülfen, die himmlischen Zeichen und Wunder nicht mehr. Wir haben heute alles begriffen und formuliert, z. B. die Wahrheit vom Leben im Sterben, vom Sein im Nichtsein, von dem Gesetz, wie sich alle Dinge und Geschichten an ihrem Gegensatze potenzieren und wiedergebären müssen; aber zwischen konkreten und abstrakten Begriffen, zwischen der lebendigen Erkenntnis und dem Schulstil bleibt eine Kluft.

»Das Kirchenlied«, schreibt Philipp Wackernagel S. 23 der Vorrede zu seiner Auswahl deutscher Gedichte, 1835, Philipp Wackernagels (1800–1877) nach den Versmaßen geordnete »Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen«. »ruht auf einer tiefen, unergründlichen Vergangenheit. Es ist die Verklärung des weltlichen Volksliedes. Willig bot dieses, als die erwachte Kirche ihre Harfe stimmte, der Andacht seine Formen und Weisen dar. Wie wenig wir auch von früheren Volksliedern wissen mögen, da uns keine aus den ältesten Zeiten, aus den mittleren aber viel zweideutige überliefert sind, die man in demselben Sinne, wie sie entstanden scheinen, gesammelt, nämlich mit Sprachverwirrung und hochdeutscher Weisheit, so hat doch in unsern Tagen nicht in allen Landstrichen der unzufriedene Verstand die Einheit des Lebens aufgelöst, Liebe und Freude ertötet, die heimlichen Stellen verödet und aufgeklärt. Wir finden noch wahre Volkspoesie ... Im Choral leben alte Liederstrophen und alte Volksweisen, wohl uralte, nur umgestimmt und den strengen Ansprüchen des geistlichen Chores zugewandt. Wir singen in der Kirche, was vielleicht im grauen Altertume Melodie der Nibelungenstrophe oder der Form, die Otfried Vgl. S. 39, Anm. 1. benutzt, oder alliterierender Heldenmaße war. So rührt das Kirchenlied mit seinen Wurzeln an die fernste Vergangenheit.«

Zu den Wahrheiten, die aus der Geschichte der deutschen Poesie resultieren, gehört dieses Resumé:

Der Idealismus, welcher die Wirklichkeit ignoriert und seine Phantasiegebilde in blauer Luft verschwimmen und verschweben läßt, wirkt so wenig nach wie ein Traum. Man ersieht das aus der höfisch-aristokratischen Minnesingerei, aus der phantastisch-sentimentalen Ritterpoesie, welche, von der Wirklichkeit abgekehrt, alles Mutterwitzes, Humors und gesunden Menschenverstandes bar blieb.

Nach dem Gesetz der Reaktion, welche als die Pendelschwingung in allen Lebensprozessen anzusehen ist, erwuchs aus der, in sublimierter Förmlichkeit und Konvenienz verendenden Minnesingerei die mittelaltrige Volksdichtung, die von Anbeginn neben der Adelspoesie »still am Boden gewuchert hatte«. Ihr Naturalismus, der derbe Witz, die Opposition gegen Pfaffen und Adel, gegen Juristen und böse Christen, hob zwar das Selbstgefühl, bildete die natürliche Urteilskraft und den sittlichen Charakter des Volks, verdarb aber, wie alle didaktisch-polemische Manier und Satire, wie Politik und Nützlichkeitstendenz, die Poesie und Kunst in den Grund, und die Ausartung dieses realistischen Genres, die bäuerische Ungeschlachtheit und Unfläterei, die Schimpferei und Abgeschmacktheit bestärkte die große Masse in ihrer materiellen Gemeinheit und Formlosigkeit. Endlich hielt der Nürnberger Hans Sachs, der mehr als ein bloßer Meistersänger und reimender Sittenprediger im herkömmlichen Stile war, mit seiner nobeln, glücklich menagierten Natur die rechte lebendige Mitte von Natur und Geist, bildete Phantasie und Verstand, Idee und Wirklichkeit ineins; ergriff den reinen Gedanken der Reformation, ohne ihn in die politische Rebellion hinüberzuspielen. Hans Sachs verschmähte nicht die Stoffe, welche die Gegenwart und Wirklichkeit darbot, noch die didaktische Tendenz und Form, aber ohne Gemeinheit, und ohne es mit dem wüsten Treiben der Parteien zu halten, und legte durch dies weise Maß seiner edeln Natur, und indem er nicht nur aus der Bibel und von seinen Vorgängern, sondern von Plutarch, Seneca, Terenz, Cicero, Lucian und ebenso von Boccaz lernte, den Grund zu einer Regeneration der versunkenen und versumpften Volksdichtung, auf den sich nicht nur die nächsten Dichter feststellten, sondern der selbst einen Goethe in seinen Grundsätzen von dem Maße und der Harmonie der Kräfte, von organischer Form und Begrenzung befestigt hat.

Aber auch Hans Sachs hing mit seiner Zeit durch Vielschreiberei, durch Geschmacklosigkeit, durch breite Redseligkeit, durch förmliche Überwucherungen und eine Formenmengerei zusammen, die ihn nicht immer die rechte Art und Façon für den Stoff oder diesen für die angestrebte Form finden ließ. Im zunehmenden Alter griff er bunt durcheinander nach jeder Form und jedem Stoff, und seine Nachfolger beweisen endlich die Wahrheit, welche man auch aus unserer Zeit abstrahieren kann, daß die wahrhaftige Poesie und das Heil der Literatur wie der Kunst am allerwenigsten aus einem Formalismus hervorgehen kann, der, statt eine Ineinsbildung von Natur und Geist, von Ideal und Wirklichkeit zu sein, nur eine verstandes-impotente Abschwächung der Phantasie, des Herzens und des Mutterwitzes ist. In diesem Falle befand sich z.B. Platen handgreiflich, und in derselben unausstehlich formal-idealen Impotenz, die obenein mit periodischer Formlosigkeit, mit Utilitätstendenzen und mit politischem Realismus versetzt ist, befinden sich viele Poeten in unserer eklektisch alexandrinischen Zeit, die einen modernen Gnostizismus und Synkretismus erzeugt hat, dem natürlicherweise auch die Poesie verfallen ist. Es fehlt ihr an Herzenseinfalt und Herzensfrische, an Glaube, Liebe und Heiligung, an einer alles beherrschenden Idee, an einer durchgreifenden Richtung wie an der Konzentration der Kräfte auf einen Punkt.

Vergleicht man mit den Brutalitäten und Wirren aus der Reformationszeit und mit den Miseren aus der darauffolgenden Zopfzeit, mit den Nichtigkeiten und Affektationen der ausgetüftelten, konventionell verklingenden Minnesingerei und mit unserer schönstilisierenden Mix-Pickelwirtschaft die Nibelungen, so tritt ihre Bedeutung für jeden, der sich noch einen Rest von Kraft, von Natur und poetischem Gewissen bewahrt hat, im klarsten Lichte hervor.

Dieses ehrwürdigste und originellste deutsche Dichtwerk, dessen Stoff den Zeiten der Völkerwanderung entstammt, zeigt uns, daß ursprüngliche Produktionen nie unter fertig gemachte Rubriken zu bringen sind. Auf die Nibelungensage passen weder die gangbaren Kategorieen von Idealismus und Realismus noch von einer förmlichen Versöhnung beider Faktoren. Es ist in dieser Dichtung ein elementarer Naturalismus, jedoch von einer sittlichen Potenz und von einer Gewalt der Phantasie emporgetragen, welche weder dem altromantischen noch dem modernsentimentalen oder dem philosophischen Idealismus entspricht. Der realistische Faktor des urgewaltigen Gedichts manifestiert durch die tiefe Charakterzeichnung, die grandiosen Leidenschaften und die bestimmt gestaltete Fabel ebenfalls eine Potenz, die keinem andern bekannten Gedicht vergleichbar ist. Endlich haben wir in diesem immensen Epos, welches uns ein Maß der natürlichen Charakterenergie zur Anschauung bringt, von dem wir Modernen taumlig werden, eine Form zu bewundern, die sich bei aller Rauheit, Roheit und Monotonie gleichwohl organisch aus dem Charakter der Personen wie aus ihren Situationen herausbildet und die Fabel ganz so aus einem Wuchse mit der Handlung zeigt, wie sich diese selbst als die naturnotwendige Evolution der Charaktere darstellt. Diese Nibelungen sind eine Steineiche aus dem Teutoburger Walde, die Früchte Eicheln; aber der Baum selbst, sein Holz, sein Wuchs, sein Laub, sein Schatten, seine Symbolik hat unendlich mehr zu bedeuten als eine ganze Orangerie.

Ich schließe meine Bemerkungen mit einem Urteil von Gervinus über die Nibelungen und das Gudrunlied: Georg Gottfried Gervinus (vgl. S. 50, Anm.), »Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen«, Teil 1, Leipzig 1835, zusammengeschweißt mit kleinen Abänderungen aus zwei Stellen des Abschnittes »Regeneration des deutschen Volksepos«.

»Wir finden in dem Nibelungenliede die rein plastisch objektive Kunst der Alten, die reinere Wirkung auf die Sinne und die Phantasie, ohne Einmischung der Persönlichkeit des Dichters, ohne eine ausschließliche Einwirkung auf eine Empfindung des Lesers oder auf seinen Verstand. Kein Volk des neueren Europa hat hiermit etwas zu vergleichen; und wenn auch die Erfolge dieses Gedichtes und unsere ganze Natur uns sagt, daß wir nicht bestimmt waren, in dieser Gattung eigentümlich ausgezeichnet zu sein, so steht doch dies Werk in seiner grandiosen Anlage ganz allein neben dem griechischen Epos und beweist unsere Vertrautheit mit der allgemeinen Entwickelung der Menschheit, die wir in allen ihren Teilen zu vollenden strebten, auch wo, wie hier, äußere Hindernisse sich entgegenstellten. Wir gingen von dieser Art der Dichtung auf die am meisten entgegengesetzte über; von den äußeren Formen auf die inneren, von der objektiven, epischen zur subjektiven, lyrischen Kunst. Während wir am meisten unter den neueren Völkern uns in unserem Volksepos dem einfachsten Begriffe der Kunst, der in der Skulptur liegt, näherten, so fielen wir jetzt umgekehrt den entferntesten zu, der in der Musik liegt, mit der unser Minnegesang, der so ganz Empfindung ist, die engste Verwandtschaft hat. Wir sollten und wollten den ganzen Kreis der Dichtung beschreiben; wir verstiegen uns in die äußersten Extreme fast zu einer und derselben Zeit. Die größeste und entschiedenste Anlage gab sich in beiden kund; kein epischer Stoff tat es dem unseren an Großartigkeit, kein lyrischer Gesang an Tiefe der Empfindung gleich. Allein es fehlte an der Reife der Einbildungskraft, um in beiderlei Art vollkommnere Kunstwerke zu gestalten. Es schien, als ob wir auch das Unerlernbare uns erst durch Lernen aneignen müßten. Es erforderte Jahrhunderte der einseitigeren Kultur des Verstandes, die uns in jederlei Art von Erkenntnis weiterbrachten, ehe wir imstande waren, in einer neuen Periode jene Extreme zu versöhnen und die eigentümlichen Vorzüge der antiken Kunst mit denen der neueren zu vereinigen. Wir nahmen das ganze Reich der Gefühle und Ideen in unsere neuere Kunst auf, und daß sie mit diesem erschwerten Körper noch einen so hohen Flug nahm, dies zeigt von der allgemeinen geistigen Biegsamkeit und Energie der Nation.

»Viele Eigenschaften des Gudrunliedes möchte man den Nibelungen wünschen; es legt die trockne Farblosigkeit mehr ab, ohne die leere Prunksucht der Hofdichter anzunehmen. Beide Gedichte dürfen für die Nation ein ewiger Ruhm heißen. Sie reichen gleichsam in jene alten Zeiten mit ihren Taten, Sitten und Gesinnungen hinüber, aus denen die Stimme der mißgestimmten römischen Feinde die Tapferkeit, die Wildheit, aber auch die Treue und Verlässigkeit, die Zucht und Keuschheit unserer ehrwürdigen Ahnen rühmten. Wenn wir diese Dichtungen voll gesunder Kraft, voll biederer, wenn auch rauher Sinnesart, voll derber, aber auch reiner, edler Sitte betrachten neben dem schamlosen, eklen und windigen Inhalt der britischen und neben den schalen, läppischen und zuchtlosen Stoffen der französischen Romane, ja neben dem bigotten fränkischen Volksepos, so werden wir ganz andere Zeugnisse für die angestammte Vortrefflichkeit unseres Volkes reden hören als die dürren Aussagen der Chronisten; und im Keime werden wir bei unseren Vätern schon die Ehrbarkeit, die Besonnenheit, die Innigkeit und alle die ehrenden Eigenschaften finden, die uns noch heute im Kreise der europäischen Völker auszeichnen. Diese herrlichen Stoffe uralter Dichtung lassen, wenn sie auch nicht geistige Routine zur Schau tragen, wie das die fremden Poesieen jener Zeit besser können, auf eine Fülle des Gemütes und auf eine gesunde Beurteilung aller menschlichen wie göttlichen Dinge schließen, die ein Erbteil der Nation geblieben sind, das mit jedem neuen Umsatz wuchernd zu einem weiten Vermögen heranwächst.«


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