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XVII. Die deutsche Mystik und die moderne Lichtfreundlichkeit mit Glossen versehen.

Es ist leider wahr, daß die Deutschen und insbesondere die deutschen Schriftsteller und Gelehrten Jahrhunderte hindurch zu ausschließlich Idealisten und Luftschiffer gewesen sind, daß sie selbst die Tatsachen der Geschichte wie der Gegenwart und der materiellen Wirklichkeit mit ihren Träumereien und Systemen verdorben haben.

Es ist wahr, daß der Idealismus und der Romantizismus den praktischen Verstand und den Sinn für die Wirklichkeit ruinieren, und daß derjenige, welcher die Welt nicht kennt, ihr auch keine Gerechtigkeit widerfahren lassen kann, ja daß mit der Unwissenheit und dem Gefühl des begangenen Unrechts Verhärtung und Erbitterung wachsen müssen.

Es war notwendig, die Rechte der Gegenwart, der Wirklichkeit und den Wert des positiven Verstandes so stark zu akzentuieren, wie es in der neuesten Zeit geschehen ist, aber es ist eben um deswillen, und weil diesem Aufruf des sinnlichen Verstandes von der ganzen Welt bis zur abscheulichsten Ausnüchterung, bis zum Materialismus und Atheismus Folge geleistet worden ist, und weil uns mit dieser neuen Heils- und Lebensordnung ein viel schlimmeres Übel als das überwundene bedroht, an der Zeit, darauf hinzuweisen, daß uns weder das eine noch das andere Extrem, sondern nur die Wahrheit retten kann, welche ebensowenig in den Exzessen des Idealismus und der Pietisterei als in denen des Materialismus und des Profanverstandes liegt.

Bisher war der Idealsinn wenigstens bei den Gelehrten und bei der Geistlichkeit vertreten, er hielt solchergestalt dem Profansinn der großen Masse das Gegengewicht. Mit seinem Verschwinden fällt die Welt notwendig der Gemeinheit und Barbarei zum Raube. Rom ging trotz seiner Nationalkraft an seinem monströsen Materialismus und an seinem Profanverstande zugrunde; und ein römisches Zeitalter droht der heutigen Welt.

W. v. Humboldt sagt tiefsinnig und wahr: »Es findet sich in der ganzen Ökonomie des Menschengeschlechts auf Erden, daß eben dasjenige, was seinen Ursprung im physischen Bedürfnisse hat, bei der weiteren Entwicklung den ideellsten Zwecken dient«, aber bevor es zu diesem Destillat des Geistes aus dem Naturalismus kommt, vergehen Jahrhunderte und Jahrtausende, wie wir an der Kulturgeschichte, insbesondere des Orients, und an jedem Bauerdorfe noch heute ersehen. Nirgends sind die materiellen Bedürfnisse besser bestellt als in England und Nordamerika, gleichwohl will der Idealismus dort nicht gedeihen.

Es ist mit diesem Entbindungsprozeß des idealen Lebens aus der Materie und gemeinen Wirklichkeit wie mit der Religion, die sich nach der Meinung der Profanverständigen mit einemmal im reifen Alter finden soll. Wenn aber die Mutter dem Knaben nicht die Hände faltet, so betet er auch nicht als Mann.

Theorie und Praxis, Beten und Arbeiten, Materialismus und Idealismus müssen von vorne herein zu gleichen Rechten gehen.

Die Literaten mußten den übertriebenen Tugenden wie Schwächen des deutschen Volkes entgegentreten, dabei verfielen sie aber nicht nur in den Irrtum, die edelsten Kräfte um ihres Mißbrauchs in die Acht zu tun, sondern sie übertrugen Miseren und Dummheiten der gebildeten Stände und zunächst ihrer eignen Kaste auf die Nation. Und so sind denn die Deutschen in den Verruf der Sentimentalität, der Ideologie, der Romantik, des religiösen Mystizismus und der transzendenten Tendenzen gekommen. Aber mit Ausnahme der Schwaben, der Hessen und weniger andrer Überbleibsel von deutschen Volksstämmen, welche allerdings einen Genius für theosophische Grübeleien und eine Respekt fordernde Gemütstiefe bekunden, wissen die Deutschen aller Lande verzweifelt wenig sowohl von Romantik als von Theosophie.

In Polen, in Frankreich und Italien oder gar in Rußland und in der Türkei existieren freilich selbst unter den gebildeten Ständen nicht so viel Prozente Philosophie, Romantik und Gemütsmysterien als in Deutschland unter Bauers- und Handwerksleuten am nüchternsten Ort; also sind auch diese Prozente für die Geschichte des deutschen Charakters von Belang; aber die relative Überlegenheit verwechselt doch kein gescheuter Mensch mit einer absoluten Kraft und Potenz. Der Affe wird deshalb doch nicht zu den Menschen gezählt, weil er dem Menschen an Gestalt, Verstand und grimassenhaften Leidenschaften ähnlicher ist wie jedes andere Vieh.

Es bleibt also eine Torheit der modernen Literaten und besonders der Radikalisten und Naturforscher vom neuesten Stil, bei allen Gelegenheiten in solcher Weise von der deutschen Mystik, Romantik und Sentimentalität, von der deutschen Philosophie und Poesie zu perorieren, als ob man jeden deutschen Schustergesellen für einen Vetter von Goethes Schuster, von Hans Sachs Anspielung auf Goethes Gedicht »Hans Sachsens poetische Sendung«. oder von Jakob Böhme halten dürfte, als ob alle deutschen Bürgermädchen Seherinnen von Prevorst »Seherin von Prevorst« nannte Justinus Kerner die durch ihn bekannt gewordene, im württembergischen Weiler Prevorst geborene somnambule Tochter des Revierförsters Wanner. und nur die deutschen Putzmachermamsells, die deutschen Ladenjünglinge Romanleser wären. Auch im romantischen Mittelalter waren die Deutschen nicht so massiv romantisch und theosophisch, wie es uns nach ihrer Hinterlassenschaft in Künsten und Literaturwerken erscheint. Künste und Wissenschaften wurzeln wohl im Boden des Volkes, der Zeit und des Himmelsstrichs, setzen aber Keime und Samenkörner voraus, die nicht in der großen Masse der Individuen liegen. An den mittelalterlichen Domen haben nur einzelne gebaut, von diesen einzelnen haben sehr wenige die Konstruktionen und das Technische verbessert oder gar die Ideen der Bauwerke begriffen und weiterentwickelt. Was jetzt als Fertiges vor uns steht, ist ein Bienenbau, an dem sich der Witz und Instinkt von vielen Jahrhunderten und Nationen beteiligt hat, so daß auf die Individuen und auf die Generationen blutwenig trifft. Ebenso haben an den alten Volks- und Kirchenliedern, an den alten Sprüchwörtern und Märchen nur wenig Genies mitgedichtet, und endlich hat die Zeit das Poetische und Heilige, das Bedeutsame an unserer Geschichte so sehr verdichtet, das Profane und Bestiale so ausgeschieden, daß das geschriebene und übriggebliebene Mittelalter dem wirklichen vielleicht nur so ähnlich sieht wie der Spiritus seiner Maische.

In unsern ausgelichteten Tagen aber auf einen vermeintlichen Überrest von Romantik und mystischem Helldunkel Jagd machen zu wollen, ist Absurdität und Phantasmagorie.

Im katholischen Deutschlande ist trotz einiger altväterischen Schablonen und Sitten, trotz des mittelalterlichen Kirchenzeremoniells und religiösen Kostüms im Volke nicht so viel vertieftes Seelenleben als in protestantischen Ländern zu finden, keine Spur von dem transzendent gewordenen Geiste, der hie und da im schwäbischen Volke eine Seele bis zur Sentimentalität potenziierte, eine romantische oder mystisch-theosophische Stimmung erzeugt. Das hessische Volk zeigt sich zunächst dem schwäbischen an Gemütstiefe, an Geistesfeinheit und Charakteroriginalität ebenbürtig, also auch für die Mysterien des Seelenlebens disponiert.

Bayern, Baden, Österreich, Sachsen, Brandenburg, Braunschweig, Hannover, Rheinpreußen und Polnisch-Preußen besitzen verzweifelt wenig Romantik, Mystik oder Metaphysik; und in Ostpreußen besteht neben einer sporadischen Phantasterei, Aszetik, Theosophie und Sentimentalität, als deren Repräsentanten beziehungsweise in der Literatur Hamann, Hippel, Herder und Hoffmann gelten können, auch die Erbnahme des logischen Enthusiasmus und des kritischen Rationalismus von Herder und Kant. Die Charaktersolidität, die nüchterne Urteilskraft, die Herzensfrische, der arbeitstüchtige Positivismus und Humor des ostpreußischen Volkes sind Fakultäten und Tugenden, die mich frappant an den Charakter des englischen Volkes gemahnt haben. Der Mangel an ästhetischen Qualitäten, an Grazie und konversationeller Liebenswürdigkeit bei Frauen und Männern, dazu der zynisch brutale Charakter der gemeinen Leute, gehört gleichmäßig zu den Schattenseiten des ostpreußischen wie des englischen Volks. Was nun die Mystik an ihr selbst, ihre Wahrheit und ihren Wert betrifft, so erschrickt man über die Gebirge von Blödsinn, Gefühllosigkeit, Konfusion und Trivialität, welche von der rationalistischen Literatur über dies Thema zusammengeschwemmt und -gemauert worden sind. Die Schwierigkeit liegt hier wie in allen sublimen Dingen darin, daß wir einen Prozeß reflektieren sollen, der negativ und unbewußt in uns wie der göttliche Geist gleichwohl die Seele unserer Seele ausmacht. Ich frage nicht sowohl was Mystik und wie sie möglich ist, als wo sie nicht ist; wie das Leben ein solches ohne Mystik, d. h. ohne Wunder, ohne Übernatur, ohne einen göttlichen Geist sein kann. Ich halte jeden Philosophen für nicht recht bei Troste, der die transzendenten und reziproken Prozesse alles Lebens, der den Dualismus von Gott und Welt, von Himmel und Erde, von Geist und Materie, von Sein und Nichtsein, von Zeit und Ewigkeit, von Ich und Nicht-Ich, von göttlichem und menschlichem Geiste, welcher sich alle Augenblicke neutralisiert und doch wieder polarisiert, der das Ineinander und Auseinander dieser Lebensfaktoren als kein Wunder und keine Mystik bekennen kann.

Der Umstand, daß das methodische, bewußte Verwundern die Schwachköpfe närrisch machen kann und daß der Geist, wenn er nicht vom Wundergefühl ersäuft werden soll, der Seele mit einem Begriffsschematismus und mit Arbeitsmechanik entgegentreten muß, ändert an der Wahrheit der Lebensmystik nichts.

Wir wissen alle, daß man von lauter Dichten und Denken wie von übertriebener Aszetik ein Tollhäusler und Taugenichts werden kann, erklären darum aber nicht Poesie, Philosophie und Religion für ein Übel oder eine Absurdität: was soll denn also der Hohn über die deutsche Mystik als über eine extraordinäre Misere und Abgeschmacktheit? Man braucht nicht den orientalischen Pantheismus zu Hülfe zu rufen, um deutlich zu machen, worin das Wesen oder Unwesen des Mystischen besteht, und daß man seinen Widerspruch in dem Wunder zu suchen hat, wie das Allgemeine im Individuellen und dieses in und mit jenem gegeben ist. Wir brauchen weder Heiden noch Spinozisten zu sein, um bei. allen Gelegenheiten zu fühlen, wie das Endliche im Unendlichen und dieses in jenem gegeben ist; wie sich Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Materie gegenseitig verneinen und affirmieren; wie eines in allem und alles in einem, wie Gott in der Natur und die Natur, die Menschheit in dem Weltgeiste weset; daß dieser Geist ein inweltlicher und gleichwohl ein außerweltlicher Schöpfer sein muß. Da hätten wir Deutsche und Christen also an dem Gefühl und Begriff der Immanenz und Transzendenz, an der Lehre des intramundanen und extramundanen Gottes ein neues Moment der Mystik, welches den orientalischen Religionen nicht konveniert. Wir dürfen aber nur einen Augenblick bedenken und fühlen, wie unser Ich alle Augenblicke vom allgemeinen Leben verschlürft und wiederum von ihm herausgegeben wird; wie in der Person die Natur und die Menschheit eingefleischt, wie durch den Geist des Menschen die ganze Welt zur Selbstanschauung, also zum essentiellsten Dasein und zur Wahrheit gebracht wird: um zum lebendigsten Gefühl und Begriff der Lebensmystik, der Gottes- und Menschenmystik gebracht zu werden; um zu erkennen, daß alle Dinge nur durch ihren Gegensatz bestehen, daß alles Sein im Nichtsein bedingt ist, und daß die Geschichte nichts anderes als die Entwickelung, die Steigerung und Vertiefung aller Lebensgegensätze, der Naturnotwendigkeit und der Freiheit, des elementaren Naturlebens in uns, wie des Geistes, der Vernunft und der Leidenschaften, also die Mystik Gottes, der Natur und Menschheit ist.

Eben daran, daß die gebildeten Leute die Existenz und den Begriff einer Religion und Poesie, daß sie Glaube, Liebe, Ehre, Heiligung, daß sie ein Wunder im Bewußtsein und in allem Dasein zugeben, und daß sie gleichwohl die Mystik desavouieren, kann man am frappantesten erkennen, daß sie nichts von jenen Mächten verstehen, mit denen sie so familiär enfiliert sind; denn Mystik ist eben die Blume des Glaubens, der Liebe und Poesie, das absolute Element, in welchem die Religion und die Geschlechtsliebe, die Physik und Metaphysik, die Natur und die Übernatur, die Menschheit und die Gottheit zusammenfallen. Jeder Lump, den man über den Genuß an einer Zigarre zur Rede stellt, weiß ihn zuletzt als einen übersinnlichen und mystischen darzustellen, und zwar mit Recht; wie aber alle Dinge und Genüsse und zumal die Philosophie, die Poesie, die Religion, wie ihr Zeremoniell und die Formeln der Metaphysik, wie Dialektik und jede sinnliche Empfindung mit dem Weltgeiste, mit der Ewigkeit und Übernatur in Kontakt und Polarität stehen, das bestreiten die rationalistischen Lumpe, das kapieren sie nicht.

*   *   *

Jeder Mensch, der es zur Meisterschaft in einer Kunst oder Wissenschaft bringt, jeder, der in einer Tätigkeit und Lebenslage alt geworden ist, wird, wenn er nicht eine absolut prosaische und gemeine Natur ist, ein Mystiker innerhalb seiner Sphäre, in bezug auf seine Verhältnisse und seine Geschäfte; er wird so, weil er im Verlauf des Lebens und der Situationen den Körper der Dinge, den Schematismus der Verhältnisse von der Seele und Symbolik unterscheiden lernt, weil er erfährt, daß die Seele der Dinge und Geschichten mit der Seele des Menschen in einer Polarität und Wechselbedingung steht, welche das strikte Auseinanderhalten des Objekts und Subjekts, der Materie und des Geistes, des Wesens und der Form, des realen und des idealen Faktors, »der Erscheinung und des Dinges an sich«, des Endlichen und Unendlichen, des immanenten und transzendenten Verstandes gar nicht mehr erlaubt.

Jeder Handwerker und Handelsmann lernt sublime, instinktive Diagnosen, Handgriffe und Politiken; jeder denkende und fühlende Mensch lernt solche Lebensverhältnisse, Einflüsse, Lebensmächte und Mysterien kennen, von denen er fühlt, daß sie unmittelbar erfahren werden müssen, weil sie über den lehr- und lernbaren Verstandesschematismus, über jede Bezeichnung und Regel hinausgehn, weil sie auf elastischen, auf flüssigen, der Metamorphose unterworfenen Formen, auf einer Komplikation von Elementen beruhen, die jeden Augenblick in eine andre Phase treten und nur mit dem Instinkte der Selbsterhaltung oder des überlegnen, organisatorischen Witzes beherrscht und gestaltet werden können. Der Fürst und der Bettler, der Feldherr und der Unteroffizier, der Welthändler und der Dütenkrämer, der Modenfabrikant und die Putzmacherin, der Diplomat und der Winkelsozialist, der Modenschneider, der Journalist und der Commis Voyageur, der Buchhändler, der Schriftsteller und der Buchbinder, der Galanteriewarenhändler, der Konditor und Restaurateur, der Zigarren- und Weinhändler, der Schauspieler, Komödienschreiber, Taschenspieler, Hanswurst und Friseur, sie alle werden, ohne es zu wissen und zu wollen, zu Mystikern, d. h. zu Leuten erzogen, welche still oder laut bekennen, daß es unkonstruierbare, unsägliche, keinem noch so feinspürigen Verstande zugängliche Mysterien, Symptome und Krisen gibt, daß jedes Ding und Geschäft und daß jeder Augenblick des Menschen mit allen andern Dingen, Verhältnissen und Kräften so unberechenbar verschlungen ward wie ein Einschlagsfaden mit einem kunstreichen Damastgewebe, dessen Schillerfarben, Lüstre und Dessins die Modekaprizen und Modeleidenschaften sind.

Worin unterscheidet sich nun das Glaubensbekenntnis des Theosophen, den man vorzugsweise einen Mystiker nennt, von der innersten Lebensfühlung eines Fürsten, eines Feldherrn oder Diplomaten, von dem lebendigen Wissen und Gewissen eines denkenden und fühlenden Landwirts, Musikers, Mediziners, Malers, Dichters oder einer Frau, die nur ein wenig Sinnigkeit, die ein Gefühl von den Mysterien ihrer Ehe und Mutterschaft besitzt, als darin, daß dem verhöhnten Mystiker die Aufzugsfäden jenes Lebensgewebes, an welches alle Menschen glauben, vom Himmel bis zur Erde, vom Jenseits bis zum Diesseits reichen; daß er durch sie den Weltgeist mit allen Menschengeistern und Seelen verbunden sein läßt; daß er an einen extramundanen Gott glaubt, der zugleich ein intramundaner zu sein, der nicht nur von außen zu stoßen, sondern sich auch mit allen Menschenherzen zu verweben, der die Seelen von seiner Naturseele abzuzweigen und doch mit seinem Geiste zu verbinden, der die zerrissenen Fäden wieder zu knüpfen, die Webemaschine zu kontrollieren, die Naturkräfte zu regulieren, die natürlichen Muster (die Weltgeschichten und Biographieen) in die himmlischen Quadrate einzuzeichnen und, wenn er will, in einem Augenblick die natürlichen Arabesken in übernatürliche Figurationen zu verwandeln und zu verklären vermag.

Eine Verlobte, eine Ehefrau und Mutter, ein Landwirt, ein Lehrer und Geistlicher, ein Richter und Arzt, ein Fürst und Minister, ein Diplomat, ein Dichter, Denker und Musiker, ein Gesetzgeber und Reformator, die nicht fühlen, daß sie von einen: unaussprechlichen, unausdenkbaren, jedem Kalkül halb entzogenen, weil von einem göttlichen Willen und von einer Weltordnung beherrschten Mysterium bewegt werden, verdienen nicht den Namen, welchen sie führen, und würdigen sich, indem sie das Unendliche im Menschen leugnen, noch tiefer herab als solche Mystiker und Asketen, welche die Forderungen unserer sinnlichen und endlichen Natur zurückweisen, indem sie den gesunden Menschenverstand und eine gemeinnützliche Tätigkeit verachten.

Es gibt eine himmlische wie eine irdische Bewegung im Menschen. Mit irdischer Geschäftigkeit allein ist nichts getan, wenn nicht ein Denken, Fühlen und Glauben dazu kömmt, das über Welt und Zeit hinausgeht. Wir dürfen nicht müßige Träumer sein, solange wir in diesen Leibern wandeln, welche Leibesnotdurft erheischen; wer aber über der Tagesarbeit und Sorge vergißt, daß er in Kraft des Geistes und einer unsterblichen Seele lebt, der bleibt ein geschäftiger Narr. Wer in der Arbeit nur das Mittel ersieht, sich geachtet, gesund und am Leben zu erhalten, wem nicht das Gefühl eines unaussprechlichen Weltheiligtums, eines heiligen Geistes die Brust erfüllt und den Impuls zur Arbeit gibt, so daß ihm alles Tun und Lassen, alles Erlebnis und die ganze Natur zu einer Abbildlichkeit übersinnlicher Mysterien erhöht wird, wer seine Arbeit nicht so überdichtet und überdenkt, daß er mit ihr Geist und Seele großzieht und einen Körper für die Religion gewinnt, der bleibt mit allen Werktüchtigkeiten, Tugenden und Verdiensten ein geschäftiger. Kotklumpe und ein Fratz, der gehört eben den Leuten an, die nicht begreifen und fühlen können, daß nicht die Geister um der Körper und Arbeiten willen, sondern daß Körper und Arbeit um des Geistes und der Seele willen da sind, und daß die Natur in Kraft der Übernatur existiert.

Von jeder jungen Mutter ist es bekannt, daß ihr die Mutterschaft den Verstand und die Sinne für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder schärft. Das leichtfertigste Mädchen wird eine sorgliche Mutter, und die Mutterschaft bildet sich zu einem Organ, durch welches sie die Mysterien der Natur, der Gottheit und des Menschenlebens begreift. »Wem Gott ein Amt gibt, gibt er den Verstand.« Ebenso verwandelt der Besitz, das Geld und jede Vollmacht Seele und Geist im Menschen.

Diese Tatsachen zeugen auch für die Mystik der Welt. Aber nicht nur die Verhältnisse und Erlebnisse oder der Besitz und die Sorge, nicht nur das Dichten und Denken, sondern die gemeinste Arbeit assimiliert sich unserm Verstande, unserer Sinnlichkeit und Seele, bildet unsern Charakter, wird in uns Person; wer aber in dieser Einfleischung, in dieser Vergeistigung des äußerlichen Tuns und Lebens eine Lebensmystik zu begreifen vermag, wie kann der so befremdet oder empört über eine Philosophie und Lebensrichtung tun, welche eben die Tatsachen der lebendigen Gottesmystik zum Thema und Ausgangspunkte ihrer Bildungsprozesse nimmt?

Der lebendige und mysteriöse Begriff des Absoluten ist nicht nur die abstrakte Ineinsbildung oder Neutralisation des Subjektiven und Objektiven, des Geistes und der Materie, des Dinges und seines Begriffs in der philosophischen Dialektik, sondern die Inkarnation des Reichtums der Natur- und Menschengeschichte in einem Dichter und Denker, in einem Genius, in der Person.

Der Geist der Welt und die Seele der Welt, die Quintessenz der Natur und Menschheit müssen in einer Menschenseele, Menschensinnlichkeit und in einem Menschengeist sich zum künstlerischen Witz und zum Wort konzentrieren, dann gibt's ein lebendig Absolutes, ein Mystisches, anders nicht. Gott muß Fleisch und Wort werden wie in Christo; das Ineinander von Sache und Begriff ist nur ein Moment des Absoluten und der Weltfülle, aber nicht das Mysterium und der Witz der Welt.

Ein begeistertes Herz und ein schematisierter Verstand, liebenswürdige Akkommodation und eine Charakterfestigkeit, die aus dem Gewissen kommt, natürliche Bonhommie und viel mutterwitzige Kritik erzeugen eine köstliche Polarität, die sich im Humor zu versöhnen sucht.

Man versöhnt sich selbst mit der bornierten und kranken Mystik, wenn man die absolut rationalen, die antimystischen, die schalen, schäbigen Philosopheme der Neuzeit an sich kommen lassen soll. Ein natürlich und übernatürlich gearteter Mensch kann ohne Gotteslästerung gedankenträge werden, aber nicht mit nüchternem Mute die Zukunft vorwegnehmen und prophezeien. All' diese Zukunftskonstruktionen, diese Antizipationen der Geschichte, diese Zukunftsmusik, Zukunftsmedizin, Zukunftskirche, Zukunftspolitik ec. sind deshalb so unerträglich, gotteslästerlich, prosaisch und absurd, weil sie auf einem borniertesten Verkennen aller Grundgesetze des Lebens, der Geschichte und des Menschengemüts beruhen. Alle Geschichte geht gleichmäßig aus Freiheit und Notwendigkeit, aus Natur und Geist und nicht aus Menschenwitz, Willenskraft und Willensfreiheit allein hervor. Wir müssen freilich schwimmen oder rudern, aber das Wasser trägt unsern Körper wie unser Schiff. Wir können und wir wollen nicht wissen, wie sich unser Leben und Geschick, unsere Künste und Wissenschaften weiterentwickeln, und welchem Ziel sie entgegengehen. Wir wollen uns nicht den unergründlichen Naturmetamorphosen und noch weniger dem Willen und dem Segen Gottes entziehen. Wir wollen nicht die Freiheit des Willens und die Vergötterung des wissenschaftlichen Verstandes so weit treiben, daß die unerforschlichen Ratschlüsse und Segnungen der Gottheit für uns entbehrlich werden; unser Gemüt, unser Herz, unsere Poesie, unser Wunderglaube, unsre Religion müssen an dem Gedanken zugrunde gehen, als könnten und dürften wir unsre Kulturgeschichte antizipieren und ganz allein unseres Schicksals Schmiede sein. Wir rudern und fangen zwar den Wind in die Segel, wir bauen das Schiff, aber die Gottheit führt das Steuer und hat die Sterne an den Himmel gestellt; sie gebietet den Wellen, und wenn wir auch nach Westen schiffen, machen wir doch die Bewegung der Erde von Westen nach Osten mit.

*   *   *

In der Musik gibt es glücklicherweise noch eine Freistätte für diejenigen, welchen Seele genug übriggeblieben ist, um zu fühlen, daß keine vollständige Psychologie möglich ist, daß die Mysterien der Natur in uns sich jeder Analyse, Verstandesvermittlung und Definition entziehen, daß die gangbaren Kategorieen der Ethik und Ästhetik, auf die Musik in Anwendung gebracht, eine abstrakte Mathematik bleiben müssen, daß der Mensch, wenn er Musik produziert oder reproduziert, eine transzendentale Kraft entwickelt, die so weit über alle lehr- und lernbare Wissenschaft und Sprache hinaus prozessiert wie der Weltgeist über die materielle Welt, wie die Übernatur über die Natur.

Die Ästhetik hat die Kategorieen des Naiven, Sentimentalen und Elegischen, des Satirischen und Humoristischen, des Erhabenen und Anmutigen, des Plastischen und Musikalischen erfunden; aber wir erfahren täglich, daß innerhalb der Sentimentalität, der Naivetät oder des Humors eine Welt von Mannigfaltigkeit prozessiert und Formen bildet, und daß die Unterschiede innerhalb einer und derselben Kategorie so wesentlich sein können als die zwischen den verschiedenen Kategorieen selbst. Man fühlt, daß ein Hund in den Augenblicken, wie er im Gram auf seines Herrn Grabe stirbt, eine Seelenpotenz bekundet, die doch sicherlich derjenigen überlegen ist, welche sich im Kannibalen dann verwirklicht, wenn er Menschenfleisch verspeist oder seine abgelebten Eltern mit der Keule erschlägt. Der kultivierte Naturalismus kann mehr Sittlichkeit in sich fassen als ein barbarisches Märtyrertum und umgekehrt dieses mehr Divination als eine metaphysische Prophetie. Es gibt plastisch-naive Humore und sehr zerfahrene, gestaltlose Naivetäten. Es gibt vollkommen naive und divinatorische Reflexionen und kritisch-reflektierte Naivetäten. Es gibt konfuse Regelmäßigkeiten und eine methodische Raserei. Es gibt einen logischen Enthusiasmus und einen Schematismus in Seele und Gemüt, eine Gewissensmathematik. Es gibt eine grammatische Poesie und eine poetische Grammatik; die erste steckt in Klopstocks Messiade, die andere in der deutschen Grammatik von Jakob Grimm.

Die Fugenmusik von Sebastian Bach zeigt ganz so eine Welt von Humor, Naivetät und Sentimentalität auf als Beethoven und Mozart.

Das alles will so viel sagen, daß mit Kategorieen nur mathematische Lineamente, nur ganz abstrakte Bestimmungen gegeben sind, von denen die Tiefe und der Reichtum des wirklichen Lebens und die Mystik des Seelenlebens nicht angerührt werden. Es gibt keine genügend förmlichen Vermittelungen zwischen Seele und Verstand oder Verstand und Sprache.

Die sublimsten, die verzweifeltsten und beseligendsten Tatsachen des Menschenlebens, die Mysterien der Welt- und Naturgeschichte stehen nicht selten außer allem Kontakt mit den Begriffen der wissenschaftlichen, sittlichen und künstlerischen Konvenienz.

Es gibt keinen förmlichen, keinen sprachlichen Verstand von der Seele und Musik. Unsere sublimste ethisch-ästhetische Terminologie hat gar kein Verhältnis zu den Prozessen und Tatsachen, welche aus der Polarität und Neutralisation von Seele und Geist, von Natur und Übernatur, von Materie und Geist, von Herz und Vernunft hervorgehen. Wer sie erlebt, der weiß, daß Musik, Seele, Phantasie und Gefühl für den Verstand etwas schlechthin Inkommensurables sind, und daß die Schönheit der Musik, die Genugtuung an ihr recht eigentlich darin liegt, daß man das Leben und sich selbst der wissenschaftlichen Analyse, der Verstandestyrannei und Verstandesklarheit entzogen fühlt.

Die Musik hat nichtsdestoweniger ihren aparten Verstand, von welchem aber der logische und konventionelle Verstand zusamt dem Wortverstande aufgelöst wird.

Wie dies möglich ist, lehrt die Religion, das übernatürliche Gewissen und das Herz jeden Menschen, der noch einen Rest von diesen altfränkischen Fakultäten und Requisiten aus der modernen Flut errettet hat.

Wie es möglich ist, daß der musikalische Komponist nicht schlechtweg närrisch wird, oder wie ein Mathematiker, Grammatiker, Logiker und Kalkulator noch so viel musikalischen, poetischen und symbolischen Verstand, wie er so viel natürlichen Instinkt und Gemeingefühl konserviert, daß er sich wie ein sinnliches Geschöpf bewegen, z. B. Balance auf zwei Beinen halten oder sich mit dem Löffel gerade in den Mund treffen kann, das ist auch ein Stückchen von der wirklichen Mystik und mystischen Wirklichkeit, die wir alle Tage erleben, ohne sie als das Wunder zu taxieren, was sie ist.

Die Weltanschauung und Weltfühlung, die Dialektik der so verrufenen Mystiker schließt durchaus nicht mehr Konfusion und Verstandesauflösung in sich als das »Ineinander« von Materie und Geist, von Verstand und Sinnlichkeit, von Schein und Sein, von Form und Wesenheit, von Ich und Nicht-Ich, von Selbstbewußtsein und allgemeinem Leben, von Freiheit und Notwendigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Diesseits und Jenseits, welches zugleich ein »Außereinander«, nämlich eine Polarität zu sein versteht, die sich jeden Augenblick neutralisiert.

Wer nach dem Studium der Hegelschen Logik und Dialektik, nach diesem Identifizieren und Dualisieren von Sein und Denken, von Sein und Nichtsein, von Wort und Sache, von Physik und Dialektik, von Vernunft und Wirklichkeit und von allen Gegensätzen der Welt noch von dem Mystizismus der religiösen Dogmen geniert sein kann, der läßt freilich zu wenig Logik an sich kommen und sucht mit der Kirche obenein Krakeel.

Was klar gedacht ist, perorieren die Verstandesgläubigen, das muß sich auch klar ausdrücken lassen – gewiß; aber das Klare ist eben das gefühllos und abstrakt Gedachte. Der vollbeseelte, inspirierte, von allen Kräften Himmels und der Erden getragene Verstand kann unmöglich ein mathematisch klarer Verstand sein. Die konkrete Empfindung läßt sich zu einer generellen destillieren und ist dann allerdings klar, aber eben darum ohne überschüssige Seele und, verglichen mit divinatorischem, mit liebevollem Empfinden, nur ein abstrakter Prozeß. Das konkret Empfundne und konkret Gedachte wird um deswillen ein Mystisches und Helldunkles sein; die sublimsublimsten Prozesse und Tatsachen lassen sich eben als solche unmöglich definieren und beweisen, d. h. auf Verstand, Sprache und Sinnlichkeit übertragen: sie müssen erfahren, geglaubt, geahnet werden; sie sind eine Selbstoffenbarung, sie umschreiben sich nur mit ihrem eigenen Sein.

Die Laien und Naturalisten sind nicht nur konfuse, sondern sie trennen auch solche Begriffe, die zusammengehören. Ganz so sündigen aber die Gelehrten in anderer Art: sie vergessen die erbetene Erlaubnis, die Harmonie und Einheit des Lebendigen, durch abstrakte Begriffe, durch einen fixierten Dualismus von Geist und Materie, von Subjekt und Objekt, Natur und Vernunft zu trennen; sie scheiden ganz profan und gefühllos, was Gott und Natur zusammengefügt haben. Sie begreifen nicht, daß das Konfundieren der Begriffe zwar ein Hindernis des Verstandes, aber die Wahrheit, die Intensität und Harmonie des Seelenlebens ist; und dann wieder reduzieren sie durch Abstraktion und Schematismus die Mannigfaltigkeit des Lebens auf eine Identitätsphilosophie, ohne einzusehn, daß dies Identifizieren eben nur in dem Mangel an entwickelter Sinnlichkeit, an Herzensroutine, an Instinkt für das individuelle Leben seinen Grund hat. Nur die Sympathieen des Herzens erschließen uns das Mysterium des individuellen Lebens, und nur die Herzenspraxis ist es, welche die Sympathieen und Antipathieen zu einer Gefühlsenergie, zu einem Witz des Herzens, zu einem natürlichen Charakter ausprägt, von welchem der Dutzendgelehrte ebensowenig weiß wie der Laie und Praktikant vom dialektischen Prozeß.

Die Denkgläubigen können gar nicht glauben, wie aus dem Idealismus ein Realismus hervorwachsen kann, und doch sind sie es eben, welche der Hoffnung leben, daß sich all' diese modernen Sozietäts-, Humanitäts- und Freiheitsideen solide Leiber zubilden werden. Wenn's der Weltgeist will, wird es geschehen; aber freilich mit den Abwandlungen und Restriktionen, die sich jede Idee gefallen lassen muß, wenn sie Verstand und Wirklichkeit, wenn sie Geschichte werden soll.

Die Mystiker können freilich nicht begreifen, wie die schönen und heiligen Ideen sich von der Naturgeschichte in den Genitiv stellen und jahrhundertelang deklinieren lassen müssen, bevor sie für die Lebensgrammatik nütze sind, aber die Profanverständigen, die Hasser der eximierten Stände, aller Standesunterschiede und öffentlichen Auszeichnungen zeigen sich ebenso borniert, wenn sie fassen oder glauben sollen, daß jede dauernd festgehaltne Idee sich einen übernatürlichen Verstand, also einen Ätherleib zubilden kann, der darum nichts weniger eine Realität ist, weil man ihn nicht mit Händen greifen kann.

Der Urirrtum des sinnlichen Verstandes bleibt von Anbeginn der, nur der Materie den Begriff der Realität zu vindizieren, während dieselbe naturnotwendig mit dem Gesetz des Geistes, mit den Ideen zusammengedacht und keinmal vergessen werden muß, daß die Weltschöpfung aus der Vermählung des Geistes mit dem Nichts hervorgegangen ist. Die Idee der Welt (wenn auch die abstrakte Idee) ging der natürlichen Schöpfung vorauf; die konkrete Naturgeschichte enthält die Rektifikation dieser Idee und wird selbst rektifiziert.

»Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.« Und wenn es in Wirklichkeit keinen Christus gegeben hätte, und wenn die Evangelien aus bloßen Mythen, aus lebhaften Volkswünschen und Fischermärchen hervorgegangen wären, so bleibt die Tatsache unerschütterlich stehen, daß die Idee von einem Gottmenschen und Erlöser der Welt, und zwar von einem solchen, der den Heiden- und Judenglauben von Dämonie, von Schematismus und Naturalismus, von Selbstsucht und Verstandesglauben gereinigt hat, daß eine solche Idee und ein solcher Glaube seit mehr als 18 Jahrhunderten Weltgeschichte, Menschheit, daß er Fleisch geworden ist, daß er die Sinnlichkeit, daß er den natürlichen Verstand und die Welt verwandelt hat. Der Glaube an die Freiheit ist ihre Realität; wer an seine Freiheit glaubt, ist ipso facto Lateinisch: tatsächlich. frei. Der Glaube an die Göttlichkeit Christi und die Welterlösung ist die Wahrheit und Wirklichkeit des Christentums, und der Glaube an die realisierende Kraft der Ideen und der Gläubigkeit ist das Wesen und die Realität des echten Mystikers.

Dem Profanverstande dünken viele Aussprüche durchaus evident und plausibel, die der tiefern Anschauung eine Trivialität, dem religiösen Sinn und Verstande ein Unsinn und eine Ruchlosigkeit sind. So ist der in dem Schneidemühler Glaubensbekenntnis In der posenschen Stadt Schneidemühl wurde am 19. Oktober 1844 die erste deutschkatholische Gemeinde gegründet, die bald darauf ihr Glaubensbekenntnis veröffentlichte. zuerst ausgesprochene Grundsatz, »daß alle Geschöpfe Gottes schon allein deshalb, weil sie Gott, der Herr, durch seinen heiligen Willen erschaffen und mit seinem heiligen Geiste belebt hat, (schlechtweg) heilig sind, und daß der Mensch sich nicht unterstehen dürfe, etwas noch heiliger machen zu wollen, als Gott selbst es schon gemacht hat«, ein irrtümlicher, weil er dem Begriff des Menschen in seiner erhabensten Bedeutung, in seinem mystischen Prinzip widerspricht. Der Mensch ist nicht ein bloßes Naturprodukt gleich den Pflanzen und Tieren; in ihm begegnen und versöhnen sich vielmehr die Gottheit und die Natur, und aus seiner Natur wird fort und fort eine übernatürliche Kraft entbunden, die auf die bloße Natürlichkeit in ihm und außer ihm veredelnd, vergeistigend und heiligend zurückwirkt, als worin eben die absolute und schöpfungskräftige Freiheit und die höchste Würde des Menschen, der wahre Grund aller Erziehung und Perfektibilität beruht. Gewißlich geht eine heiligende, eine weihende Kraft vom Menschengeist aus. Der Eltern Segen und der Eltern Fluch ist ein uralter Glaube, von barbarischen Völkern so wenig aus der Luft gegriffen wie von jeder zivilisierten Nation. Auf welchen Punkt des Lebens und der Dinge sich ein heiliger Sinn und Wille andauernd fixiert, der wird irgendwie schwanger vom heiligen Geist, von dem strömt eine Kraft aus, die höher und stärker ist als die des Urhebers der Weihe selbst. Die Stätte, sagt Schiller, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht; um wieviel mehr ein totes oder lebendiges Ding, das der heilige Sinn und Geist eines Menschen in Worten und Werken ausdrücklich heiligen gewollt.

Von jedem Menschen geht in erhabenen, gläubigen, begeisterten und liebenden Momenten eine Kraft aus, ein Genius, der gewaltiger ist, als der Mensch es weiß und begreift. Das ist das Freiwerden des heiligen Geizes, der an das irdische Teil gebunden ist. Das fühlt der Dichter, der Redner, der Denker, der Geistliche; das fühlen die Leser, die Hörer, die Gläubigen, die Segnenden wie die Eingesegneten, die Fluchenden wie die Verfluchten, das fühlen alle höher organisierten, alle sinnigen, nur irgendwie auf sich selbst und auf die sublimere Natur der Dinge merkenden Menschen. Bewirkt auch die Einsegnung der Speisen und Getränke keine Veränderung in deren materiellem Bestande, so bewirkt sie bei denen, die an die Einsegnung einen Glauben haben, in und mit demselben eine vergeistigte und fromme Lebensart; und selbst, wo die Einsegnung ohne alle direkte Kraft bliebe, wirkt sie eine erbauliche Erinnerung und Vergegenwärtigung an die höchste und bedeutungsvollste der Fakultäten und Bestimmungen, an die Kraft und Mission des heiligen Menschensinnes und Willens: auf Totes wie Lebendiges und auf die materielle Natur zu influieren mit einer höheren und sittlichen Natur, die darum nicht minder von Gott kommt, weil sie zunächst vom Menschen ausgeht, der sich eben durch seinen freien Willen, durch seinen frommen, gläubigen Sinn zum Organ der Weltkräfte, zum hohen Priester der Natur, zum Heroen und Propheten zu weihen vermag. Ohne solche Kraft, ohne einen Genius, der dem Propheten, dem Dichter, dem Denker, dem Redner, dem Priester über den Kopf wächst, der ihn beim Schopf nimmt, wie der Engel Gabriel es Muhamed getan, Eine der beiden Visionen, durch die sich Mohammed zum Propheten berufen glaubte. ohne das Wunder einer Kraftentwicklung und Entbindung, die dem Menschen, aus dem sie frei geworden, wie ein Dämon und wie ein zweiter Mann entgegentritt, ohne die Tatsachen der Heiligung und Weihe, welche die Christkatholischen heute mit einem Mal fortleugnen wollen, weil sie dieselben nie verstanden: da wäre die Menschenwelt eine gemeine, unmächtige, profane Welt und alle höhere Freiheit, Würde und Perfektibilität eine Redensart, der Mensch der Natur gegenüber nimmer ihr Herr, sein Geist nimmer der Welt- und der Gottesgeist, aller Verkehr ein Marionettenspiel, die Weltgeschichte selbst nur eine Komödie.

Möglich, daß heute nicht mehr solche Kraft von den Priestern ausgeht. In solchem Falle ist das Weihen und Heiligsprechen gleichwohl ein heiliges Angedenken an die ursprüngliche Begabung der Menschen, an die Kraft der Propheten, die im Glauben Berge versetzt hat. In der Kirche aber sollen die alten Zeiten zeichenreden, im Gottesdienst soll an die uralten Naturkräfte und an die Herrschaft des Menschengeistes über dieselben, an seine Kraft, zu weihen und zu entweihen, erinnert werden; oder – wo sonst? Der Aberglaube ist in allem Glauben gegeben, der Mißbrauch in allem Weltbrauch. Die Leute von heut' und gestern haben das alles nicht erfunden, sie haben es nimmer begriffen, sie haben mit ihrem Sinn und Verstande keinen Augenblick an das Heiligtum gerührt; sie verstehen sich nicht einmal auf seine äußere Zeichenschrift, aber splitterrichten und zerstören wollen sie es doch.

Dieselbe Dialektik, die man bereits seit den Tertianerjahren hinter sich hat, muß man sich jetzt von den Lichtfreundlichen wieder vorkäuen lassen. Leute, die in ihrem ganzen Leben über nichts anderes nachgedacht haben als eben über ihren Erwerb, über den Bissen Brot, den sie in den Mund stecken, Literaturlumpe, die noch lange nicht ein Vaterunser von Herzensgrund zu beten verstehen, die fühlen sich heute, wo alle Gedanken und auch die buckligen emanzipiert sind, berufen, über die Mysterien der Kirche und Religion reformatorisch und diktatorisch mit drein zu schmieren und zu schreien. Es wird aber den populären Gelahrten und Enzyklopädisten mit diesen Gedankenemanzipierten wie den allzu liberalen Erziehern mit ihren dummen Jungen ergehen: sie werden ihnen wiederum das ungewaschene Maul verbieten müssen. Zum Gescheutreden gehört mehr, als frech reden. Die Klugheit entbindet sich keineswegs so aus der Dummheit wie der Spiritus aus der Maische, und die Wahrheit wächst nicht auf den dicksten Irrtümern etwa so wie der Weizen auf fettem Mist. Diese weltbürgerlich aufgeklärten, formalgebildeten und von der öffentlichen Meinung oktroyierten Dummheiten, diese babylonische Verwirrung, diese graugrünen Redensarten, all' dieser saft- und kraftlose Dilettantismus, der in unsern Tagen auf die Mysterien der Religion angewandt wird, ist einem Unkraute gleich, in welchem alles Fruchtkorn ersticken muß. Dieses Dreinreden aller über alles gleicht den sieben Landplagen Ägyptens im Reiche des Geistes. Diese Broschürenfabrikation nicht bloß von Literaturlehrligen, sondern von Leuten, die sonst nicht einmal mündlich und unter Bekannten mitsprachen, die nie anders als in Kontobüchern oder in Akten herumschmierten, ist Pestilenz, Heuschreckenplage und ägyptische Finsternis auf einmal. Wenn diese Personagen noch willens oder imstande wären, ihre wirklichen Vorstellungen, ihre wahren Herzensempfindungen abzuschreiben und zur Rede zu stellen, so könnte das allenfalls einen Nutzen erzeugen, so könnte sich aus der ehrlich protokollierten und natürlichen Substanz über kurz oder lang der Geist entbinden, der in allem gesunden und unverstellten Menschensinn notwendig gegeben ist. Es geht aber den Dilettanten in der Literatur, wie es ihnen auf dem Liebhabertheater ergeht: die angehenden Komödianten haben etwas von der poetischen Erhöhung und vom Kothurn gehört, und indem sie – diesem zuliebe – ihre natürliche Lebensart und Deklamation quittieren, indem sie einen erhöhten Ton probieren, so geraten sie in ein unmögliches Pathos, in eine verrückte Emphase, in einen absurden Schwulst, während doch jeder von ihnen außerhalb der Bühne ganz wie ein gescheutes Menschenkind rezitiert und zu seiner Verwunderung die schönste Prosa improvisiert.

All' diese Eindringlinge und Fremdlinge der Literatur, diese Proletarier des Gedankenstaats beschränken sich nicht etwa auf ihre persönlichen Erfahrungen und deren chronikalische Verzeichnung, begnügen sich nicht damit, ihre etwaigen selbsteigenen Einfälle und Fühlungen, ihre Sympathieen und Antipathieen nach und nach in das Selbstbewußtsein und in den Redeverstand zu übersetzen, sondern sie werfen sich in ein halbgelahrtes Zeug, schnallen sich den neusten Literatur- und Demokratenstil an und reden sich in eine Art und Weise hinein, die ihnen den gangbaren Vorstellungen und Literaturtendenzen, den von den Zeitungen signalisierten Kulturbedürfnissen, kurz, der öffentlichen Meinungspolizei entsprechend erscheint. Damit entsteht dann so eine Abart von russischer Literatur und Kunst, eine inwendig gelogene, von außen nach innen probierte garstige Schablonenkultur. Wenn es schon wahr ist, daß man auch zwischen den Zeilen lesen, daß man alles mit einem Körnchen Salz nachwürzen müsse, daß nichts schlechtweg, sondern beziehungs- und bedingungsweise zu verstehen sei, daß dasselbe Wort und Werk bei zwei verschiedenen Gelegenheiten eine ganz entgegengesetzte Bedeutung gewinnt; wenn es an dem ist, daß Lüge und Wahrheit aus demselben Objekt, aus derselben Tatsache gezogen werden, je nachdem sich ein gesunder oder ein kranker, ein unschuldiger oder ein befleckter, ein ehrlicher oder ein lügenhafter Sinn, ein gescheuter oder ein dummer Verstand dazu stellt; wenn das in der Kunst und in der Literatur seine Richtigkeit hat, um wieviel mehr noch in allem unmittelbaren Verkehr mit dem Leben und der Wirklichkeit selbst, im Verständnis der Tages- und Weltgeschichte, in der Auffassung von Kirche und Staat! Worüber sich alle Weisen, alle sinnig organisierten, alle fühlenden und selbstdenkenden Menschen von Anbeginn still geeinigt, was sie in heiliger Gottesscham zu allen Symbolen und Normen, zu all' diesen Tatsachen und Prozessen der Sitte wie der Religion bei sich selbst hinzugesetzt oder hinweggetan, was sie akzentuiert oder gemildert, mit Seele durchhaucht und mit Fleisch umkleidet, was die großen Genien und Propheten in und mit einem großen Weltgefühl und Weltbilde begriffen, was sie abwechselnd zu einem Herzpunkt verdichtet und zur Vernunftperipherie erweitert haben: diese Wunderprozesse der Seele und des Gewissens, in denen nicht nur die kirchlichen Symbole, sondern die Formen der Schule zu einem ätherischen Leibe, zu einer unsichtbaren Kirche der Gläubigen verwandelt worden sind, diese Mysterien, in denen sich von Anbeginn der Geschichte die Gegensätze der Menschenfreiheit und Weltnotwendigkeit, der Natur und des Geistes, der Form und Wesenheit, des Endlichen und Unendlichen ineinsbilden und polarisieren: die soll heute die Kirche den Laien, den Dilettanten und dann wieder den Allwißlingen, den Klüglingen, den Lichtlingen, den Korrespondenzlern, den politischen Probenreitern, den Kultur- und Vernunftfratzen erklären und beweisen. Diese Geschichten Gottes im Menschen soll die Kirche und Theologie dem gebildeten und ungebildeten Pöbel, den Profanseelen, den geschulten Kretinen und Parias im Reiche Gottes naturwissenschaftlichermaßen vermitteln, formulieren, eintrichtern, mundrecht präparieren, in Fleisch und Blut transsubstanziieren. Das kann aber nicht sein, weil es unserm Herrgott nicht einmal möglich gewesen ist. Diejenigen also, welche in Wahrheit reden könnten, werden schweigen, und die Blödsinnigen, die Ruchlosen, die Aberwitzigen behalten das Wort.

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Warum denn diese umgekehrten Kreuzzüge und Literaturfehden gegen das Wunder!? Es spricht ja mit allen Zungen, es denkt ja in allen Köpfen, es pocht in allen Herzen, es sieht mit den Augen, es hört mit dem Ohr, es schauert tief in der Seele, wir atmen, wir leben, wir denken und träumen es mit und ohne Gewissen, mit und ohne Selbstbewußtsein, mit und ohne Liebe, mit und ohne Glauben und Treu'! Wir werden es nimmer los!

Wir treten das Wunder mit Füßen als festen Boden, es wölbt sich über unfern Häuptern als Wolke und Äther, als Firmament. Das Wunder der Geschlechtsliebe hat unsere Erzeuger einander in die Arme geführt, das Wunder der bildkräftigen Natur zeitigte uns im Mutterschoß, das Wunder der Mutterliebe nährte und behütete uns an der Mutterbrust und schon unter ihrem Herzen. Zwischen Wiege und Grab nichts als ein einziges, unausdenkbares Wunder des Daseins, der Entwickelung, der Blüte, des Verwelkens, des Sterbens und Auferstehens, eines Lebens im Tode, einer Zeit in Ewigkeit, eines Daseins in himmlischem und irdischem Sein; ein Wunder in Freiheit und Notwendigkeit, in Sondersein und Allgemeinheit, in Leib und Geist, ein Wunder im Nichtsein gleichwie im Sein, im Selbstbewußtsein und in der Bewußtlosigkeit, in Unschuld und in Schuld, in Himmel- und Höllenfahrt, in Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit, in Wahrheit und Trug, ein Wunder in der Begreiflichkeit nicht minder als in der Unbegreiflichkeit, ein Wunder in Wissenschaft wie in Kunst!

Allüberall ein Wunder, das uns ersticken, das uns blödsinnig oder toll machen müßte, wenn es noch etwas anderes gäbe als eben das Wunder! Oder sollen wir uns gegen Seele und Leib empören, bloß weil wir nicht demonstrieren können, wie beide eines und zwei zugleich sind? Ein jegliches Wunder erweiset sich ja wiederum nur durch ein Wunder von anderer Art als das, was es in Wahrheit ist, und diese andere Art des Wunders, in welchem sich das primitive Wunder bespiegelt und selbst inne wird, ist der herzenseinfältige Wunderglaube, der Glaube aber die Sache selbst in ihrer Lebensunmittelbarkeit.

Eben rennt mir eine zinnoberrote Spinne über das Papier, die so groß wie ein Stecknadelkopf ist. Als ich der tausendfixen Kreatur mit dem Finger nahe komme, steht sie plötzlich erschrocken still, stellt sich, auf den Rücken gelegt, regungslos tot. Also ein Wurm, welcher alle Augenblicke aus den spielenden Bildkräften der Natur hervorgeht, der wehrt sich seines Lebens, der fühlt sich von anderm Dasein unterschieden, der hat Todesschreck und Lebenslisten, der hat Nervenapparate, ist eine Welt im kleinen und doch nur aus ein paar Stäubchen in ein paar Augenblicken zusammengeblasen; begreife das, beruhige sich darüber, wer will und kann: mich macht's gläubig und dumm.

Es gibt grundgescheute, grundgebildete Männer, sehr freisinnige, sehr zartfühlende Frauen; aber sie haben doch nicht die transzendente Kraft der Seele, nicht das Gemüt, das Organ, mit welchem der Mensch die Mysterien des Daseins alle Augenblicke in allen Situationen und Gestalten begreift; sie haben nicht den symbolischen, den religiösen Verstand, welcher in den geringfügigsten Dingen und Erzeugnissen Tod und Leben, die Geschichten Himmels und der Erden und das Menschengeschick abgespiegelt sieht. Es gibt fromme Christen, Rigoristen der Sittlichkeit und Poeten die Menge, aber sie hören aus der Musik des Lebens nur die Melodie, die Verzierungen, die hohen Stimmen, nicht aber die Grundbässe und die Harmonie heraus; sie fühlen nur die Heiterkeit des Lebens, aber nicht seinen tragischen Ernst. Das Natürliche erscheint ihnen keinmal übernatürlich und das Jenseitige in keiner Gestalt im Diesseits zu sein. Ihr klarer, aber profaner Verstand hält bei allen Gelegenheiten und in allen Augenblicken, auch in der Liebe, im Glauben, im Hoffen, im Dichten, im Träumen, ja im Sterben das Diesseits und das Jenseits, das Endliche und das unendliche, die Natur und die Übernatur, den Geist und die Materie, das Wunder und den Verstand auseinander, nur um nicht der Mystik zu verfallen. Mit solchen Separatisten kann sich dann freilich so einer unmöglich verständigen, der die Gegensätze des Lebens auch als ineinander fühlt, der das Endliche auf das Unendliche und dieses auf jenes bezieht, der die Ewigkeit bereits in der Zeit und die Übernatur in allem Natürlichen fühlt, der über dem Wunder des Verstandes den Verstand verlieren möchte und aus dem sogenannten gesunden Verstande Narrheit und Blödsinn zu extrahieren versteht.

Man darf nur die Schößlinge an einer geköpften Weide betrachten, um zu fühlen, wie wenig sich der Lebenstrieb und die Ökonomie der Kräfte aus dem Mechanismus der Lebensmechanik, aus den Weltkräften und Impulsen erklären lassen. Wir ruinieren unser Hirn und Gewissen, wenn wir Materie und Geist, wenn wir Mechanik und Dynamik identifizieren, und wir verdummen ebenso, wenn wir die Gegensätze und Unterschiede des Lebens fixieren, statt sie auf eine göttliche Einheit, auf ein Absolutes zu beziehen.


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