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Einleitung.

Ein halbvergessenes Original, das wieder modern geworden: das ist Bogumil Goltz. Er, der schon bei Lebzeiten den blendenden, aber dauerlosen Eindruck eines vorüberjagenden Meteores machte, der schon bei Lebzeiten von einem ernsten und wohlgesinnten Beurteiler zu den literarisch Toten geworfen wurde, den bedeutende Literaturkenner in ausführlichen und durchaus vorsichtig abwägenden Nekrologen als ein endgültig abgeschlossenes Stück der Vergangenheit behandelten, der gar im ersten Jahre unseres Jahrhunderts von einflußreichem Munde recht spöttisch und von oben herab als kleiner, sehr kleiner Carlyle bezeichnet wurde – er findet plötzlich Lobredner, die ihn als ganz erstaunlich unveraltet erklären, er wird neu gedruckt, Auszüge aus seinen Schöpfungen werden zu einem wertvollen und handlichen Bande vereinigt, maßgebende Zeitschriften reden für ihn. Woher kommt das? Doch wohl daher, daß Zeit und Menschen, Treiben und Denken nachgerade wieder denselben Charakter angenommen haben wie damals, wo Goltz gegen das Hasten und Jagen des Erwerbslebens, gegen die einseitige Betonung des Verstandesmäßigen in Wissenschaft und Kunst, gegen die Vernachlässigung der Gemüts- und Charakterbildung so keck und kühn zu Felde zog, daß uns heute gegen dieselbe Krankheit dieselbe Medizin wie damals zu helfen verspricht. Goltz als Arzt gegen die Einseitigkeiten unserer Zeit – wer ihn als solchen aufzufassen versucht, der wird es auch verstehen, daß wir seinen »Deutschen Genius« den Freunden von »Meyers Volksbüchern« hier in einer neuen erläuterten Ausgabe darbieten.

Bogumil Goltz stammte aus einer angesehenen Beamtenfamilie; als er am 20. März 1801 in dem damals preußischen Warschau geboren wurde, stand sein Vater als Direktor dem dortigen Stadtgericht vor. Daneben besaß er ein kleines Gut namens Lissewo in der Nähe von Thorn, und an dessen Bewirtschaftung dachte er, als er seinen Sohn, der inzwischen als Pensionär bei einem Pastor Jackstein in Bischofswerder seine nie vergessene »herrlichste Jugendzeit« verlebt hatte, nach den Gymnasialjahren in Königsberg und Marienwerder 1817–21 bei einem Herrn von Blumberg die Landwirtschaft erlernen ließ. Viel natürliche Begabung für diesen Beruf bewies Goltz indessen nicht, und das wichtigste Ergebnis seines Aufenthaltes im Blumbergschen Hause war seine spätere Verheiratung mit der Tochter seines Lehrherrn: 1822 verließ er, viel mehr zu den Früchten der Gelehrsamkeit als zu denen des Feldes hingezogen, die Agrikultur und widmete sich der Kultur des Geistes. Aber schon nach drei Semestern, die er auf der Universität Breslau mit philosophischen, theologischen, philologischen und ästhetischen Studien ausgefüllt hatte, mußte er auf dringendes Verlangen seines Vaters zur Melioration des Bodens und zur rationellen Schafzucht zurückkehren und die Verwaltung von Lissewo übernehmen. Der Vater starb bald danach, und der Sohn hatte mit Lissewo wenig Glück. Er verkaufte das Gut und versuchte es mit Pachtungen, aber eher mit schlechterem als besserem Erfolg. Endlich gab er die Landwirtschaft auf, ließ sich 1830 in dem Städtchen Gollub nieder und beschäftigte sich, von dem Zinsenertrag seines ihm noch gebliebenen Vermögens lebend, in beschaulicher Zurückgezogenheit mit literarischen Studien. Die erste Frucht dieser Studien erschien in demselben Jahre 1847, in dem er von Gollub nach dem etwas mehr geistige Anregung bietenden Thorn übergesiedelt war: sein prächtiges »Buch der Kindheit«. Es begründete mit einem Schlag seinen Ruf, und in rascher Aufeinanderfolge reihten sich nun seine übrigen Schriften diesem Erstlingswerk an: noch 1847 die »Deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen Lebensart«, 1850 »Das Menschendasein in seinen weltewigen Zügen und Zeichen«, 1852 »Ein Jugendleben, biographisches Idyll aus Westpreußen«, 1853 »Ein Kleinstädter in Ägypten«, 1858 »Der Mensch und die Leute« sowie »Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen«, 1859 »Zur Physiognomie und Charakteristik des Volkes«, 1860 »Die Deutschen« (in der 2. Auflage von 1864 unter dem Titel »Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius«) sowie die »Typen der Gesellschaft«, 1862–64 die »Feigenblätter, eine Umgangsphilosophie«, 1864 »Die Bildung und die Gebildeten«, 1869 endlich »Die Weltklugheit und die Lebensklugheit mit ihren korrespondierenden Studien« sowie die zwei Bände »Vorlesungen«.

Goltz hatte, als er sich in Gollub in die Schätze der Weltliteratur vertiefte, sehr bald einsehen gelernt, daß es für seine stark persönliche Art der Schriftstellerei mit der Bücherweisheit bei weitem nicht abgetan sei. Er beobachtete daher nicht nur scharfen Auges das westpreußische Landleben und die deutsch-polnische Kleinstädterei, die ihn umgaben, sondern flog auch weiter hinaus, um die Welt zu sehen, besuchte England, Frankreich und Italien, ja verwendete den Honorarertrag seines »Buches der Kindheit« zu einer Reise nach Ägypten. Seine oft wiederholten Reisen innerhalb Deutschlands aber hatten noch einen anderen Zweck, als Land und Leute kennen zu lernen: er trat als Vorleser auf, oder vielmehr, er pflegte diese geistreichen Vorlesungen über alle nur möglichen Fragen der Sitte, der Kunst, der Wissenschaft, des Völkerlebens u. s. f. meist zu extemporieren. Ludwig Pietsch erzählt in seinen Erinnerungen, wie bei solchen Gelegenheiten die Rede des hochaufgeschossenen Vorlesers »im unverfälschtesten westpreußischen Dialekt, fessellos wie ein wilder Bachstrom, bald prächtig rauschend, bald polternd, bald kristallklar, bald Geröll, Kies und schwere Blöcke wälzend, dahinflutete und -wirbelte ohne einen Moment des Stockens, der einem anderen die Möglichkeit gewährt hätte, ein Wort der Entgegnung dazwischenzuschieben. Man hörte ihm bald hingerissen und begeistert, bald betäubt und geärgert wortlos zu. Tiefe Weisheitssprüche, verwegene Behauptungen, spannende Erzählungen eigener und fremder Erlebnisse, Naturschilderungen, groteske Vergleiche, grimmige Ausfälle, Verwünschungen und Invektiven, polnische Juden- und westpreußische Dorf- und Kleinstadtgeschichten voll überwältigender Komik, glänzende Schilderungen, ergreifende Herzensergießungen, ästhetische Theorieen, kritische und enthusiastische Beurteilungen von Kunstwerken aus alter und neuer Zeit drängten sich in wirrem Durcheinander von seinen Lippen«.

Wie lange Goltz diese nach den übereinstimmenden Zeugnissen seiner Zeitgenossen von bedeutendem Erfolg begleitete Tätigkeit als Vorleser oder besser Causeur ausgeübt hat, wissen wir nicht; sicher ist nur, daß er die letzten Jahre seines Lebens, von Friedrich Wilhelm IV., der ein großer Verehrer seiner Schriften war, mit einer königlichen Pension bedacht, dauernd in Thorn zugebracht hat, weil ihn fortschreitende Kränklichkeit heimgesucht hatte. In Thorn ist er am 12. November 1870 gestorben.

Das Wort des beredten Vorlesers ist verhallt, aber geblieben sind uns seine Schriften. Mit einem autobiographischen Werke hat sich Goltz seine ersten Lorbeeren geholt, mit der Schilderung der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Erlebnisse in der Jugendzeit, mit der Charakterisierung lebensvoller Einzelgestalten aus seiner Umgebung. Bald aber schob er die Grenzen seiner Stoffauswahl weiter hinaus und skizzierte Gesellschaftsgruppen, Stände, Volksklassen, Geschlechter. Daneben wagte er sich drittens an die Erschließung der Eigenart ganzer Völker, wurde Volkstumsforscher. Genau so, wie er z. B. im »Jugendleben« in der Schilderung des drolligen, redseligen Schwiegervaters oder der sanften Schwiegermutter scharfumrissene Bilder von köstlicher Frische und heiterer Farbenfülle aus der Welt des mit liebenswürdigem Humor gezeichneten bürgerlichen Kleinlebens hinstellt, faßt er auch jene Gruppen, den Geistlichen, den Adligen, den Juden, den Pedanten, den Philister, den Renommisten, den Phlegmatiker, die Frau u. s. f., gewissermaßen als konzentrierte Einzelindividuen auf, deren Schwächen er mit einer an Jean Paul und Hippel erinnernden Satire geißelt, deren Lichtseiten, wie etwa die selbstverleugnende Dienstbarkeit, Zartsinnigkeit und Sorgfalt des Weibes, er mit warmer Anteilnahme hervorhebt. Ja, auch ganze Völker sieht er kaum anders als unter dem Bilde von Einzelindividuen vor sich: es ist der Deutsche, der Franzose, der Italiener,, den er porträtiert.

Daß Goltz zum Volkstumsforscher wurde, war nur natürlich; in den von einer deutsch-polnischen Mischbevölkerung bewohnten Gegenden, in denen er lebte, muß ja ein denkender Kopf zum Rassenvergleicher werden: die Unterschiede der Nationalitäten drängen sich ihm ganz von selbst auf. Dazu kamen die ausgedehnten Reisen, die Goltz unternahm, und daß er als ein Mann, der durch und durch voller »Deutschheiten« steckte, der deutschen Heimatssinn, deutsche Kindlichkeit, deutschen Individualismus und Idealismus, deutsche Phantasie u. s. f. in reichem Maße besaß, wenigstens über das deutsche Wesen ein Wort mitreden durfte, versteht sich von selbst. Freilich, zu einer wissenschaftlichen Ergründung von Volkstumsfragen genügt das durchaus nicht: die historischen und psychologischen Untersuchungen anzustellen, die dazu nötig gewesen wären, blieb Goltz seinem ganzen Bildungsgang nach versagt; seine Methode war lediglich die der Selbstbeobachtung und der Vergleichung der Völker untereinander. Daß auch auf diesem Wege tief erfaßte und scharf gezeichnete Bilder der Rassen gewonnen werden können, Bilder, die im großen ganzen gewiß von künftigen exakten Untersuchungen bestätigt werden dürften, davon kann sich der Leser auf den folgenden Bogen selbst überzeugen: hier aber gilt es, nur noch auf zwei Fehler aufmerksam zu machen, die am Volkstumsforscher Goltz so stark hervortreten, daß sie nicht verschwiegen werden können, wenn sie auch an den Ergebnissen seiner Studien nichts Ausschlaggebendes ändern. Erstens verfällt er gelegentlich in die Phrase: eine bloße Phrase ist es z. B., wenn er sagt, der Deutsche sei der »Universalmensch«, die »Mutter der übrigen Nationen«, das »Weib des Menschengeschlechts«. Und zweitens hat er zu stark ausgeprägte Sympathieen und Antipathieen. Dem romanischen Wesen vermag sein germanisches Naturell nicht gerecht zu werden, im Italiener sieht er nur Verkommenheit, der Franzose ist für ihn der Träger aller »Kulturbarbareien«, als deren größte ihm die Literatur des 18. Jahrhunderts erscheint, ja er glaubt in seinem patriotischen Übereifer, wenn man ein echter Deutscher sei, »dann wende sich einem das Herz im Leibe beim Gedanken an Frankreich herum«. Viel zutreffender ist die Charakteristik des Engländers, die er gibt, und auch seine Schilderung der Polen und Russen ist wesentlich unparteiischer als die der Romanen. Seine ganze, heiße, lodernde Sympathie aber gehört – und wer möchte ihn dafür tadeln? – seinem schönen, seinem großen deutschen Vaterland, ja wenn er auf das deutsche Volkstum zu reden kommt, da wird aus dem Beobachten und Forschen leise und unabsichtlich aus treuem deutschen Herzen ein – Verherrlichen.

Eine »Deutschheit« des Schriftstellers Goltz ist schließlich auch sein Stil, seine Darstellungsform. Vielleicht schon darin zeigt sich der Deutsche, daß er alles Angeschaute, Beobachtete und anderseits alle Stimmungen zarter und zartester Art viel besser in Worte zu kleiden vermag als abstrakte, logisch zugespitzte Gedanken. Aber auch in diesen Worthäufungen, diesen oft beinahe ungeheuerlichen Substantivbildungen, diesem unaufhörlichen Sprühfeuer von Aphorismen, diesen fabelhaft langen Satzperioden, diesem »Redegestrüpp«, wie man's einmal treffend genannt hat, wohnt etwas von jenem Überschuß an Kraft, den der Deutsche so gern als einen Zug seines Wesens sich zuschreibt. Freilich, für den Schriftsteller Goltz lag darin eine ernste Gefahr: es fehlte die künstlerische Zucht, und wie er einst von der landwirtschaftlichen Ökonomie nur wenig in seinen Kopf gebracht hatte, so verstand er jetzt auch nicht die Ökonomie der Literatur: dieser »gedankengequälte Geist« gab sich zu reich und zu rasch und zu wenig wählerisch aus.

Was ist es nun aber, das uns die Schriften dieses Mannes nach langer Vergessenheit wieder wertvoll macht? Man tut Goltz unrecht, wenn man ihn kurzweg einen »Humoristen« nennt, und man tut ihm auch unrecht, wenn man ihm vorwirft, gewisse Gedankenreihen kehrten bei ihm immer wieder: das sind meist gerade die bleibend wertvollen, diejenigen, die uns heute noch – oder vielmehr wieder – ergreifen und erfrischen. Nicht sein Kampf gegen die Kultur, wohl aber sein Kampf für Natur und Natürlichkeit, nicht sein Fehderuf gegen Literaten und Ästhetiker, wohl aber sein Feldgeschrei gegen den öden, die Individualität schädigenden Formalismus in Kunst und Literatur zieht uns an, und dann in der Tat sein kerniger, köstlicher Humor und neben diesem seine naturwüchsige Kraft und Derbheit, seine goldene Rücksichtslosigkeit, seine luftreinigende Grobheit, seine Widerborstigkeit, aber auch der mystische Zug seiner dogmenfeindlichen, doch wahren und reinen Religiosität, und vor allem seine fortreißende Begeisterung und sein tiefes Gemüt. Wenn man alle diese Eigenschaften des originellen Mannes mit dem Wesen und Walten der Gegenwart vergleicht, so sieht man, wieviel er hat von dem, was heute das Hasten und Treiben des Existenzkampfes, die Nervosität unseres Jahrhunderts bedenklich in den Hintergrund drängt, und daß man wohl ein Recht hat, diesen bis vor kurzem halb Vergessenen einen Arzt gegen die Einseitigkeiten unserer Zeit zu nennen.

»Der Mensch ist so verbissen nicht
Als sein Gesicht.
Auf die Menschheit schimpft er weidlich,
Mit den Leuten steht er sich leidlich;
Seinem Kopfe will weniges gut scheinen,
Mit seinem Herzen versteht er manches zu reimen.«

(Handschriftlich vor Goltz' Autobiographie.)


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