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XIV. Expektorationen zur Ehrenrettung der deutschen Romantik und des deutschen Naturgefühls.

»Es lag im deutschen Gemüte und liegt noch darin, sich durch die äußere Natur geheimnisvoll anfremden zu lassen – dies ist der tiefste Grund alles Romantischen; – aber er ist viel älter als die christliche Romantik des Mittelalters.«

Geschichte der deutschen Poesie von W. Menzel Vgl. S. 40, Anmerkung.

Ein Autor, der die Deutschen charakterisiert, sieht sich zu einem scheinbaren Widerspruch fortgerissen. Es ist ein ander Ding um das schöne, alte, deutsche Thema und ein anderes um die närrischen Variationen; man muß den heiligen deutschen Dom von seinen elenden Anbauten unterscheiden. Um aber an der modernen Phantasie und Gemütsverfassung zu verzweifeln, muß man die Schmeckproben unseres neuen protestantischen Kirchenstils studieren, der ganz so sinnlos aus Würfeln, Halbgloben, Pilastern, verkröpften Simswerken und auf die Wände geklebten Ornamenten zusammengesetzt ist wie unsre ganze moderne Kultur. Man kann von der Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit sprechen. Im Hintergrunde der Tagesdramen und Novelletten zeigen sich die Geister der Verstorbenen und sprechen hin und wieder wie Hamlets Geist im Harnisch mit dem akademisch gebildeten und philosophischen Sohn, welcher von sich selber aussagt, daß seinen Entschließungen voll Kraft und Leben des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Man kann die Söhne nicht schelten, ohne die Vorväter zu rühmen. Die Deutschen haben überhaupt den Charakter, daß ihren schlimmsten Gebrechen und Narrheiten die sublimsten Tugenden und Geistesfakultäten zum Grunde liegen. Wer den Deutschen charakterisiert, muß ihn in demselben Atem schelten und loben, sich an ihm ärgern und ihm verzeihen.

Die historischen Grundlagen der deutschen Kultur sind der tiefsten Bewunderung wert; aber die modernen Reaktionen gegen die mittelalterlichen Prinzipe und Erbschaften, die modernen Bildungsambitionen sind zum großen Teil erbärmlich, weil widernatürlich, affektiert, gemacht und profan. Das Naturell des Deutschen ist ein Produkt der Natur und Übernatur; er ist noch heute ein Gewissensmensch, ein Geschöpf, in welchem Himmel und Erde ihre Kommanditen haben; aber das moderne Wissen hat das altmodige Gewissen übertönt, hat eine Unzahl von kleinen nichtswürdigen Affekten, Kapricen, Luxusgedanken und Geschäftigkeiten, hat den gewaltigen Rhythmus der adamitischen Leidenschaften, der Grundtugenden und den großen Stil des Lebens absorbiert.

Der alte deutsche Sinn und Verstand ist noch nicht erstorben, der Idealismus und Enthusiasmus des deutschen Herzens, die Treue, die Tiefe, die Romantik des deutschen Gemüts, die Transzendenz der Seele und des Geistes ist im deutschen Volke nur in eine andre Phase getreten; das deutsche Wesen befindet sich in einer Verpuppung, in einer bedenklichen Mauser oder, wenn man will, in einem Raupenstande. Der Seidenwurm will sorgfältig mit dem rechten Blatt gefüttert sein; mich dünkt aber, man mengt dem deutschen Seidenwurm zu den Maulbeerblättern zu viel Literatur und Makulatur. Von diesem Literaturmalheur, von der verpuppten Gegenwart, von den verschuldeten und unverschuldeten Korruptionen der deutschen Natur- und Kulturgeschichte, von dem verlorenen Paradies, von den modernen Feigenblättern aus Papier kann heute aber nur ein Literat verhandeln, der es drauf ankommen läßt, daß man ihn als obstinaten Sonderling, als melancholischen Querkopf, als antiquierten Romantiker verhöhnt.

Es gibt im Menschen eine musikalisch-pathologische, eine überschüssige Seele, die mit allen Geschichten, mit allen erschaffenen Dingen in divinatorischer Mitleidenschaft steht; ihre Prozesse sind das Wesen der romantischen Poesie. Es gibt aber auch zu allen Zeiten eine naiv-plastische, eine immanente, schwerer lösbare Seele, die sich mit dem sinnlichen Verstande zur festen Form ineinsbildet und einen auf sich selbst gestellten Charakter, ein Gemüt produziert, welches sich ohne viel Mitleidenschaft, ohne viel Gewissensreaktionen, ohne perspektivische Phantasmagorieen konstituiert. Diese sogenannte gesunde Seele ist es aber, die mit ihren sinnlich prallen Formen und intellektuellen Intentionen das Wesen der antiken Poesie ausmacht. Daß in derselben sich die überschüssige Seele und das unterdrückte Gewissen als tiefes Schicksalsgefühl und als dämonische Leidenschaft in Szene setzt, versteht sich aus Gründen der Reaktion und Integrität unserer Natur.

Die Griechen standen mitten im Naturalismus; ihre Bildung war verfeinerte Sinnlichkeit; folglich brauchten sie in den Künsten einen sittlichen Schematismus, einen Stil. Unser modernes Leben ist aber Schule, Schematismus und Konvenienz bis in die Konversation hinein; dazu verlangt das Christentum eine Kreuzigung des Fleisches, also müssen wir wenigstens in der Poesie und Kunst einen veredelten Naturalismus rehabilitieren, zu dem Ende aber unser Seelenleben, also auch unsre Phantasie und die mit ihr Verbündeten Herzensgelüste mit delikaten Rücksichten erziehen. Indem wir nun gegenüber dem sittlichen und wissenschaftlichen Schematismus das verlorne Paradies beklagen, verklären wir den Naturalismus zur Romantik, steigern wir das Seelenleben zu transzendenten Empfindungen, zu der überschüssigen Kraft, welche sich als selbstständige und ebenbürtige Macht konstituiert. Sie findet sich dann in zweierlei Gestalt zu jedem Dicht- und Kunstwerk heran, und eine von ihnen gewinnt, ohne daß es der Künstler weiß und will, das Regiment. Entweder ist's die Seele des sinnlichen oder die des sittlichen Lebens, der natürliche oder der schulvernünftige und schematisierende Geist. Entweder nehmen den Poeten die Mysterien des sittlichen Lebens oder die Träumereien des verlorenen Paradieses in Beschlag. Je nachdem Natur oder Geist siegen, zeugt sich eine romantische oder klassische Poesie und Kunst. Aber die Romantik braucht keine Nervenkrankheit, keine hohle, formlose, konfuse Phantasterei, und die klassische Dichtkunst braucht kein genicksteifer Verstandesschematismus zu sein.

Das Mysterium der Romantik liegt in einem Herzen, welches mit der Phantasie, mit den Naturgeschichten getraut ist und an dem Gegensatz eines gebildeten Geistes Sinnlichkeit wie Seelenleben potenziiert hat.

Jeder verständige Mensch muß eine Kunst respektieren, welche dem unbändigen Naturalismus, dem formlosen Metamorphosenspiel der Phantasie und den Leidenschaften mit einem sittlichen Prinzip, mit einem ästhetischen Schematismus entgegenarbeitet, den vernünftigen Geist über die elementaren Triebe erhöht, wie es der echte Klassizismus erstrebt. Wenn derselbe aber nicht zu einer toten Schulvernünftigkeit, zu einer ästhetischen Schablonenfabrik entarten soll, so braucht er die echte Romantik ganz so zum Gegengewicht und ergänzenden Prinzip wie der Mann das Weib. Eben die Poeten, welche sich Männer fühlen, werden von der Romantik tiefer angezogen als von der Klassizität. Die echte Romantik braucht ebensowenig ein vernunftloser, phantastischer, selbstschwelgerischer Naturalismus zu sein, als die echte, klassische Poesie in einem seelenlosen, widernatürlichen Schematismus besteht. Die wahrhaftige Lebensempfindung, die echte, von innen heraus evolutionierende Lebensbegeisterung, Liebe und Leidenschaft bedarf keiner ästhetischen, keiner sittlichen oder grammatischen Rechtfertigung. Ihre Existenz und Bildkraft ist ihre Wahrheit und ihr Recht; denn diese Lebensfaktoren widersprechen sich nimmermehr, sondern sind nur die verschiedenen Entwickelungsstufen, Gestalten und Spiegelungen einer und derselben Lebensökonomie. Nur die echte Leidenschaft, die Hingebung und Begeisterung für einen Menschen des andern Geschlechts, für die Natur, für irgend eine Idee, für irgend eine Gestalt und Form des Daseins erschließt uns die Tiefen des Lebens, gibt uns die Harmonie der Welt und des eignen Wesens zurück. In der Geschlechtsliebe erfassen wir die Menschheit, die Natur, die Gottheit; so erweitert sich das Herz zur Welt; dies ist das Mysterium der romantischen Poesie, die freilich von miserabeln Romantikern zur Karikatur des Heiligsten entstellt wird. Welche Widernatürlichkeiten, Marionetten, Deklamationen und stilistischen Emphasen sich nicht nur die französischen, sondern auch die deutschen Klassiker zu schulden kommen lassen, weiß jeder zur Genüge, der die Literatur kennt und nicht selbst ein gestelzter Phrasenkünstler und prädestinierter Deklamator ist.

*   *   *

»In der Odyssee ist ein Stufen gang des Seltsamen und Unerhörten; es steigt regelmäßig mit der Entfernung nach Westen und sinkt ebenso mit der Rückkehr nach Osten; hier sind alle Elemente der lebendigsten und ausgebildetsten Romantik schon frühe unter dem Volke ec. Das räumlich Romantische hörte, wie es mit einem einzelnen Reiseabenteuer in der Odyssee begonnen, mit dem ›Robinson‹ vollständig auf.«

Gervinus.

Es mag unstatthaft sein, das Romantische auf eine Nation und Lokalität oder auf eine bestimmte Zeitperiode ausschließlich zurückzuleiten; denn Deutsche und Franzosen, wie die britischen und irländischen Abkömmlinge der Kelten und die Normannen haben zur Romantik Phantasie, Feuer, Beweglichkeit, Liebesglut, Frömmigkeit, Gemütstiefe und Witz dargeliehen; aber so viel muß auf der andern Seite beherzigt werden, daß die Romantik ein so allgemeiner Begriff wie das Leben ist, und daß sie eben darum so wohlbegründete Unterschiede wie dieses darbietet und notwendig macht. Man hat zutreffend bemerkt, daß die Romantik sich überall da eingefunden habe, wo sich alte Formen lösten, wo sich den Menschen eine neue Welt, ein neues Leben erschloß; wo Nationen, Sitten und Religionen sich tumultuarisch durchkreuzten, wo die Grundneigungen und Fakultäten ganzer Völker einen neuen Impuls und Wirkungskreis empfingen, wie z. B. zur Zeit des Zerfalls der Herrschaft Alexanders des Großen, durch welchen der Orient zum erstenmal auf nachhaltige Weise mit dem Okzident in Berührung kam; daß diese Romantik des Neuen und Märchenhaften sich zur Zeit der Kreuzzüge über halb Europa verbreitet habe, und daß sie nicht nur durch die Völkerwanderung vorbereitet, durch die Erinnerungen an dieselben und an Karls des Großen Zeit genährt, sondern daß sie bereits zu Hadrians Also im 2. Jahrhundert n. Chr. Zeit in Italien, in Kleinasien, in Ägypten, in Griechenland und besonders in Rom ein integrierendes Element der Kulturgeschichten ausgemacht habe. Man darf aber bei dieser Wahrheit nicht außer acht lassen, daß die Romantik, wenn sie sich auch überall und zu allen Zeiten als eine Lösung, als eine phantasiereiche Kunst und Lebensart, als eine freie Lebensfühlung, als eine erweiterte Weltanschauung, als eine neue Beseelung und Vertiefung des alten und formfesten Verstandes gezeigt hat, sie gleichwohl so viel Weltgegenden, Himmelsstriche, Naturreiche und Inkarnationen darbietet wie die Welt; und daß die römische Romantik von der im Mittelalter so grundverschieden war wie der römische Sinn und Geist vom Germanischen, wie das Heidentum vom christlichen Geist, wie der sinnliche Verstand vom Gemüt. Die Frauen verraten unter allen Himmelsstrichen, bei allen Nationen und in allen Zeiten die Grundschwächen wie die Tugenden des Weibes; nichtsdestoweniger aber zeigen sie trotz der geschlechtlichen Gleichheit die wesentlichsten Verschiedenheiten des Charakters, der Rassen, der Volksstämme wie der Zeiten und der Kulturstufen auf. Das Christentum hat trotz seines einheitlichen Geistes und himmlischen Wesens in den Germanen einen andern und tiefern Geist gewonnen als in Romanen und Slawen. Wer die Frauen und das Christentum in Deutschland kennen gelernt hat, wer selbst ein Deutscher ist, wird sich nicht einreden lassen, daß der weibliche Sinn und Geist im ganzen christlichen Europa derselbe sei. Eben darum aber darf der Deutsche auch nicht zugeben, daß die Romantik, welche doch wesentlich in den Mysterien der Geschlechtsliebe wie des Christentums beruht, bei allen Nationen dieselbe, und daß sie sogar zu heidnischen Zeiten vorhanden gewesen oder gar zur Blüte gekommen sei.

Wer das Gesagte an einem bestimmten Beispiel näher prüfen will, der darf nur die französischen Troubadours mit den deutschen Minnesängern vergleichsweise studieren. Gervinus sagt in seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1. Band): »Die träumerischen deutschen Minnesänger reiben sich in Selbstquälereien auf. Von Kriegslust, von Wetteifer und Ritterpflicht singt jeder Provenzale; von Standesstolz und Haß gegen andere Stände glühte Castelnau; (Glanzvolle provenzalische Dichtergestalt des 12. bis 14. Jahrhunderts). von Zorn über Juristen und Prälaten Bonifaz von Castellane; (Glanzvolle provenzalische Dichtergestalt des 12. bis 14. Jahrhunderts) von Eifer gegen Rom und den Papst Figueira. (Glanzvolle provenzalische Dichtergestalten des 12. bis 14. Jahrhunderts.) In Deutschland klagen sie, daß man sie nicht an den Hof zieht. Sie singen nicht ein einziges Kriegslied. Aber die Deutschen sind in wenigen Empfindungen tief und innig, wo die Provenzalen in einem Rausch von Bildern und Empfindungen zerflattern; sie kennen die deutsche Schüchternheit nicht, sind aber auch nicht ganz so weibisch als die Deutschen.

Jene sind Romantiker und Sänger wie diese, bleiben aber nichtsdestoweniger ganz und gar Franzosen, d.h. sie zeigen sich in ihrer Romantik wie überall sinnlich, lustig, leichtfertig, praktisch, die Welt der Realitäten ins Auge fassend, also von den politischen Zuständen und Begebenheiten in Anspruch genommen. Sie singen die Lust der Liebe, die Schönheit der Frauen, den Genuß im Wechsel des Lebens und der Liebe; aber sie verherrlichen nicht wie die deutschen Minnesänger die stille, verborgne Liebe, das in sich gekehrte, vom Weltgetümmel geschiedene Gemütsleben, die unwandelbare Treue gegen die Geliebte und den Lehnsherrn. Die französische Romantik bleibt dreist, frivol, ostensibel, unverschämt und profan nach außen gekehrt, wie die sinnliche, oberflächliche Franzosennatur überhaupt. Auch in der neuesten Zeit haben ja die Franzosen den Deutschen die romantische Literatur und Kunst nachgemacht; aber selbst da, wo dies nicht ohne Erfolg geblieben scheint, wird jeder sicherlich den Unterschied der vaterländischen und der französischen Romantik selbst mit einem Krückstock herausfühlen, wenn er ein echter Deutscher, ein von Natur prädisponierter Romantiker, d.h. ein solcher Mensch ist, der die Mysterien und Metamorphosen des sinnlichen Lebens zugleich mit dem Weltgeiste im Gemüte bewegt; dieser vernünftige Geist ist es, welcher über allem Gestaltenwechsel derselbe bleibt, den Geist fort und fort zur Natur zurückbildet und diese natürliche Seele zu einer übernatürlichen erhöht.

Die Unmacht und Unnatur der modernen Romantik wie der modernen Klassizität bestand und besteht darin, daß beide Kunst- und Lebensanschauungen aus Reflexion hervorgingen; daß sie gemachte und übertriebene Tendenzen waren, und daß namentlich die Romantik in Affektation, in Monstrosität und Fratzerei ausartete.

Die Pietät für den antiken Klassizismus gründete sich ganz verständig und berechtigt nicht nur darauf, daß die moderne Literatur und Kultur im Christentum und Altertum zugleich wurzelt, sondern daß die mittelalterliche Kunst und Lebensfühlung den idealistischen Faktor im deutschen Leben zu stark betont und vollkommen entwickelt hatte; und so mußte man wieder den Realismus und das der Sinnlichkeit immanente antike Ideal, die stilfeste, gehaltene Form, den gesunden, plastisch-naiven, der Sitte und dem Staatsleben versöhnten Naturalismus der Alten ins Leben rufen, wenn anders die Kunst, die Literatur und die Kultur nicht am hohlen Idealismus zugrunde gehen sollte.

Die mittelalterliche Romantik, die Mystik, die übersinnliche Lebensanschauung war so vollkommen zur Reife gediehen wie einst die griechische Sinnlichkeit, Plastik und Politik. Die ältern, verständigen, sittlich gearteten und maßhaltenden Naturen zogen es vor, in der Kunst und Poesie zum antiken Prinzip und den antiken Mustern zurückzukehren; sie hatten dabei unleugbar den Vorteil, sich vor Überschwenglichkeit, Formlosigkeit, Monstrosität, Selbstschwelgerei und grenzenlosen Narrheiten bewahrt zu sehen. Die großartigsten Kräfte bewährten sich in dem Anschluß an die antike Weltanschauung und Kunst; die geringern Talente sahen sich schon um ihrer Machtlosigkeit willen zur Opposition und mit derselben zu den absurdesten und widerwärtigsten Exzentrizitäten getrieben. Sie entlehnten vom Altertum den Naturalismus, aber ohne das antike Maß, ohne den antiken Verstand und ohne jene immanente Idealität, welche gleichwohl die sinnlichen Formen umleuchtet und den sinnlichen Verstand zu einem sittlichen verklärt. Ebenso verfratzten diese Neuromantiker das Christentum, indem sie den transzendenten Idealismus bis zur formlosesten Phantasterei und zu einer mystischen Naturphilosophie ausbildeten, in welcher Natur und Vernunft, Sinnlichkeit und Sittlichkeit zusamt dem gesunden Menschenverstande zugrunde gingen.

Während das Christentum den alten Adam ersäuft und eine Übernatur im Gemüte, im werktäglichen Leben und in stiller Selbstverleugnung zur Inkarnation gebracht haben will, überboten sich die Romantiker in Selbstschwelgereien, in nackten Ausschweifungen, in der Auflösung und Verflüchtigung jeder festen Form, in der Verneinung jeder geheiligten Sitte und Norm; in Humoren, hinter denen die Charakterlosigkeit, der Dualismus und das miserable Gewissen mit sich selbst Versteck zu spielen versuchten; in einer Ironie, durch welche wir die sittlichen Ideale auf bloße Naturformen und Naturintentionen reduziert und eine Religion des Fleisches proklamiert sehen. Das waren die Zeiten der Wieland, Schlegel und Heinse, die Lucinde-Ardinghello- und Combabus-Ideale, Johann Jakob Wilhelm Heinses (1749-1803) »Ardinghello, oder die glückseligen Inseln«, Friedrich von Schlegels »Lucinde« und Wielands »Combabus«. die poetischen Früchte des französischen Sensualismus und eines Theismus, der um so freier mit Atheismus und heidnischen Mysterien abwechselt, als damals romantische Geistliche der neuen Ästhetik ihre Sympathieen liehen und den gebildeten Leuten das Christentum mit Ästhetik mundgerechter machten. Andre bewiesen, daß es im Grunde genommen keinen Atheismus geben könne, und daß ein christliches Herz sich nie verliert. Mit den wüsten und formlosen Prozessen Wie der Leser leicht sieht, gebraucht Goltz das Wort »Prozeß« häufig im Sinne von »Produkt, Erzeugnis«. der Romantiker vertrug sich weder die Ökonomie der gesunden Natur noch die Plastik und Naivetät der Kunst.

Die Welt- und Kulturgeschichten, die Leute und ihre Konventionen mögen immerhin erbärmlich sein, der Poet aber darf sich diese Tatsache nicht zum Bewußtsein bringen. Wer den idealen Faktor der Wirklichkeit leugnet, wer ihre Poesie nicht zu extrahieren versteht, wer die Phantasie zu einer Lebensphilosophie, zum Prinzip erhoben hat, weil ihm alle Gesetzmäßigkeit und Ordnung in der Seele zuwider ist, wer Willensfreiheit und positive Religion schlechtweg für Unsinn deklariert, der hat sich mit dieser Ironie auch die Kunst und Poesie verschlossen. Eben weil die natürliche Intention der Poesie dahin geht, den sittlichen Schematismus und Rigorismus, den Schulverstand und die Kulturformen aufzulösen, darum braucht sie den Gegensatz der Vernunft und der Form, denn die Ineinsbildung von Sinnlichkeit und vernünftigem Geiste macht das Wesen und die Bedeutung aller Kunst. Weil insbesondere die Romantik der neuern Zeit dahin neigte, den Geist wieder in das Chaos der elementaren Phantasie zurückzuschicken und ihn in dem Tumulte titanischer Leidenschaften, in dem Metamorphosenspiel ewig wechselnder und nie befriedigter Gelüste zu betäuben, darum ging sie desto schneller zugrunde. Die Lyrik, weil sie Gefühlspoesie ist, also zur Formlosigkeit und Auflösung inkliniert, hat zum sittlichen Gegengewicht den Rhythmus und den Reim; so bedarf auch die Romantik eines festen Prinzips, eines großen Glaubens, ein Gegengewicht von prägnantem und sittlichem Verstande.

Das Mittelalter hatte dieses Gegengewicht; es hatte die wahre Romantik; denn sie ging aus dem christlichen Glauben, aus ritterlichem Geiste, aus der Mystik des Gemüts, aus seinen Tiefen, aus inspirierter Naturanschauung hervor. Die mittelalterliche Romantik war die Ineinsbildung des idealistischen Christentums mit der durch dasselbe potenziierten Natur, sie war das wundergläubige, das phantasiereiche und bildkräftig gewordene deutsche Volksgemüt, der wiedergeborne Adam; nicht der moderne aufgelöste Verstand, sondern die mit der Übernatur versöhnte Natur.

Eine nachgeäffte, nachgeborne Romantik, die ihre Wurzeln nicht mehr im Leben des Volkes hatte, mußte ganz so mißraten wie die nachgemachte klassische Naivetät, wie die idealisierte antike Sinnlichkeit.

Wie heute die Grundstimmung des Volks und seine Aufklärung beschaffen ist, bei diesem alles beherrschenden Rationalismus, bei dieser in allen Schichten proklamierten Verstandes- und Geldreligion, bei diesem Materialismus, der alles Idealleben längst verzehrt und auch den gebildeten Leuten das Herzblut ausgesogen hat, da kann es keine Volkspoesie, keine Kunst mehr geben, die im wirklichen Leben, in der Geschichte wurzelt, die auf die Volksmassen und die Sitten zurückwirkt. Heute gibt's nur noch eine Kunst und Poesie der Individuen, der Genies; und diese müssen sich an ihre Natur, an ihr Gemüt, ihre Persönlichkeit und Divination halten; denn mit fremden, gegebenen Formen und Elementen läßt sich das Mysterium der Zeugung nicht vollbringen. Wer die bildkräftigen, die phantasiereichen Menschen unserer Zeit näher ins Auge faßt, der begreift kaum, wo heute nur die subjektiven Poeten, geschweige die objektiven Dichter herkommen sollen, von denen das Leben und der Genius eines ganzen Volkes, einer Zeit oder der Weltgeschichte dargestellt werden kann. Hat hier und da ein Christ und Deutscher einen griechischen oder mittelalterlichen Geist oder beides zugleich, so mag er seine Kräfte versuchen. Weder in Wieland noch in Klopstock oder in irgend einem andern Dichter der Neuzeit erscheint der moderne und antike Geist zu einem dritten zeugungskräftigen Charakter verschmolzen, und der zweite Teil des »Faust« von Goethe ist ein Beweis dafür, daß auch dem größesten Meister die Ineinsbildung christlicher und heidnischer Formen und Weltanschauungen mißlingen muß.

Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden, und was die Weltgeschichte so entschieden getrennt hat wie Heiden- und Christentum, das soll auch der künstlerische und poetische Witz nicht vermischen. Es kommt nichts Erquickliches, nichts Erbauliches, nichts Charakterfestes dabei heraus.

Die Künste, die uns heute natürlich sein und gelingen können, sind Genre- und Landschaftsmalerei, profane Historienmalerei, das Drama und der Roman mit gewissen Einschränkungen. Es ist nicht nur mit dem Epos oder mit dem Märchen, dem Volkslieds, dem Kirchenlieds, sondern auch mit der Lyrik vorbei, weil es uns an tiefem Seelenleben, an Phantasie, an Divination gebricht. Unsere Architektur und Skulptur muß sich auf Reproduktion der antiken und mittelalterlichen Muster beschränken; Münster gleichwie Heroen- und Heiligenbilder lassen sich nicht mit Profanverstand, mit »Stoff- und Kraftglauben« erschaffen. Die Profanmusik scheint die uns ausschließlich angehörende Kunst zu sein. Was man unter derselben heute versteht, welchen Inhalt sie darlegt, welche Korrespondenzen sie mit unserm Seelenleben unterhält, wie sie unsere Gemüter bildet und erbaut, wie sie unsere Herzen erfrischt, davon ließen sich Bücher schreiben, welche durchaus überflüssig wären, da allen Gebildeten die Sache und der Prozeß aus der Erfahrung bekannt sind. Ich meine, die Musik einer Zeit kann nicht füglich viel seelenvoller und viel sittlicher, viel romantischer und viel klassischer sein als das große Publikum; denn zuletzt verdorren und entarten auch die Genies in einem unfruchtbaren Boden, d.h. in einer prosaischen und profanen Zeit, die in der Person nur ein Staatsteilchen, im Staate aber eine Nationalkraft und Nationalökonomie begreift.

Da wir einmal Germanen und Christen und aus den Kulturprozessen des Mittelalters hervorgegangen sind, so ist es eine Unnatur, wenn wir uns so individuell und abgeschlossen, so unpathologisch, naiv und unverwickelt zu den heutigen komplizierten Weltprozessen, zu den heutigen sozialen Aufgaben stellen wollen wie die Rhapsoden zu den Zeiten des Phidias und des guten Homer. Andererseits ist es unzweifelhaft, daß unser Nervensystem nicht durch einen Romantizismus, durch eine forcierte Sensibilität, eine musikalisch-pathologische Lebensart ruiniert werden darf, welche statt der gesunden Bildkraft des Mittelalters nur seine Phantasterei und Sozialmiseren zurückbeschwört. Wir sollen weder Griechen noch Ritter, weder gemachte hölzerne Klassiker noch aus mystischen Gasen zusammengefahrene Romantiker, wir sollen Deutsche des 19. Jahrhunderts sein, mit einem Tun und Lassen, einem Dichten und Denken, wie es unsern heutigen Weltanschauungen, Weltverhältnissen, sittlichen Lebensmitteln und Kulturprozessen entspricht. Haben wir aber die politischen und sogar die kirchlichen Autoritäten abgetan, so scheint es mehr wie abgeschmackt, so dürfte es absurde sein, daß uns eine Clique von kritischen Ästhetikern, von ausgekinderten oder nie schwanger gegangenen Poeten, daß uns solche Pedanten, welche die Literaturgeschichte ganz und gar mit der Natur- und Weltgeschichte zu identifizieren belieben, formulieren dürfen, worin das Klassische oder das Romantische bestehe, wie es zu dispensieren, zu mengen, zu mischen, zu meiden, zu scheiden oder zu medizinieren; wie es zu deklinieren und zu konjugieren sei, falls das richtige und berechtigte Dichten, Denken und Leben herauskommen soll. Bevor diesem Literaturunwesen nicht gesteuert wird, bevor die Leute nicht die Courage und Verstand gewinnen, für eigne Rechnung zu fühlen, zu denken und drauflos zu leben, werden wir die Literatur und das Leben immer mehr verderben und verdrehen.

Die Kardinaldummheiten der Gelehrten (man kann nicht sagen die Vollblutdummheiten, denn sie haben nicht Blut genug) fangen da an, wo die guten Leute aus dem schulkonventionellen grammatischen Verstande herausgehen und sich auf die Lebensarten der Seele und der Poeten einzulassen so unschuldig sind.

Wir haben heute Masken, Schatten und Abgängsel von Dichtern, die neuen Dichter und Philosophen sind echtestenfalls Goldschläger, Vergolder und Ziseleure, während die alten Psalmisten und Rhapsoden mit Bergleuten, Goldarbeitern, Markscheidekünstlern und Erzgießern zu vergleichen waren. Unsre verdammten Subtilitäten und philosophischen Feinschnitzeleien bringen uns um alle Poesie. Die Dichter mit Paradiesempfindungen und Adamskräften im Herzen, die Menschen, welchen die Natur ihre Prozesse in Träumen zuflüstert, wohnen nicht mehr unter uns. Es gab einst Poeten, welchen Himmel und Erde, Sonne, Luft und Meer ihre Mysterien verrieten, ihre Geburtsschmerzen zuseufzeten, welchen die »Winde ihre Buhlschaften mit den Wassern« in die Seele fächelten, welchen die Kreatur ihre Existenzempfindungen ins Herz jauchzete; aber die Geschäftigkeit, der Lärm, der Mechanismus der neuen Welt hat alle Seelenmysterien übertäubt und inhibiert.

Wir sind heute mit Weltschmerzlern, d.h. mit Literaten, die am welthistorischen Katarrh laborieren, mit melancholischen, geistreich reflektierenden, tendenzreichen, zweckbeflissenen, mit gehämmelten Hamletgespenstern, mit gesinnungstüchtigen, mit politischen oder mit frömmelnden Dichtern heimgesucht.

Der gottgesegnete, gotterfüllte, von der Natur geküßte, vom heiligen Schöpfergeiste durchhauchte, von allen Mysterien des Lebens durchschauerte, von allen Elementen beseelte, von allen Lebenstönen durchbebte Dichter hat kein Organ und keinen Impuls, sich mit einer gemachten Zeit, mit Menschenwitz, mit dem konventionellen Geist, mit Schule und Politik, mit staats- und spießbürgerlichen Miseren oder mit einer Melancholie einzulassen, die das Produkt der Literaturmiseren, der Widernatürlichkeit, der innern Leere, der Seelenschwäche und eines blasierten Geistes, eines wurmstichigen Gemütes ist. Der Poet von Gottes Gnaden ignoriert die öffentliche Eintagsmeinung und die tintenwüchsige Nationalität; er weiß auch nichts von den Formen, den Rechten und Pflichten einer widernatürlichen Konvention; er haßt und flieht die menschliche Tierquälerei in unserer abgehetzten Literatur und abgelebten Sozietät.

Nie haben diese schulfüchsigen Ästhetiker und Literaturpoeten ein Gewissen davon, daß ihre Tugenden, nämlich ihr formaler Verstand, ihre förmliche Haltung, ihre abstraktobjektive Auffassung der architektonischen Elemente des Lebens, daß ihr stilistisches Geschick, ihre Selbstbeschränkung und sinnliche Menage, daß ihr Takt und Geschmack in dem Verkehr mit konventionellen Formen der Literatur und Kunst eben nur aus der sinnlichen Impotenz, aus der Abwesenheit aller der elementaren, dämonischen und divinatorischen Kräfte hervorgeht, die das Genie zwar zu Exzentrizitäten verleiten, aber dann auch zu jener lebendigen Anmut und Harmonie zurückführen, die nur in der gesättigten Kraft, aber nicht in der abstrakten Sittlichkeit und förmlichen Verständigkeit verschnittener oder impotent geborner Naturen möglich ist. Wenn diese Ästhetiker und Literaturhistoriker, wenn diese Päpste des klassischen Stils und Geschmacks produktiv zu werden versuchen, so bringen sie im glücklichsten Falle ein Literaturparadigma, eine ästhetische Schablone zuwege, in der sich ebensowenig eine Persönlichkeit als eine lebendig gewordene Idee manifestiert. Lieber doch ein romantisches Dicht- und Kunstwerk mit einem Herzen ohne Vernunftperipherie als ein schulfüchsig klassisches Exerzitium mit einer Weltperipherie ohne Mutterwitz und ohne Herz!

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Man kann Tatsachen vor Gericht aussagen, man kann seine Meinung sagen oder verhehlen und verhüllen, man kann den handgreiflichen Körper der Wahrheit konstruieren und bei Namen rufen, man kann ihre Mathematik und Grammatik lehren und lernen, aber die Seele der Wahrheit, ihre Gottesökonomie, ihr Hauch ist dem Menschen nur leise und dämmernd bewußt, ist in uns wirksam wie das Gesetz des Lebens und der Schönheit. Wahr, im ewigen und absoluten Sinne, weltwahr ist nur, was schön und lebendig, was sittlich und weltheilig ist. So wenig nun ein Mensch die Natur und Grazie, so wenig er eine heilige Naivetät, eine Schönheit und Gottesscham absichtlich erzeugen, bezeugen und machen kann, so wenig steht die Grazie der Wahrheit und ihre lebensheilige Ökonomie in seiner Gewalt. Je mehr er sich zur Wahrheit und Aufrichtigkeit in allen Augenblicken zwingt, desto befangener, übertriebener, gemachter und unwahrer muß er werden, desto mehr muß er den mysteriösen, schämigen Organismus der Wahrheit in einen toten Mechanismus verzerren, der ihn alle Augenblicke Lügen straft. Nun gibt es aber prosaische, pedantische und profane Naturen, die sich kaum auf die Scham eines Hofhundes, der sich ins herrschaftliche Putzzimmer verirrt hat, geschweige auf die Mysterien der Menschenseele und der Weltgeschichte verstehen; aber sie haben studiert, ihre angeborne Nüchternheit und Spitzfündigkeit, ihr abstrakter Schablonenverstand hat ihnen die mechanische Seite der Philosophie zugänglich und einen gewissen Formalismus geläufig gemacht, durch ihn und den in studierten Familien erblich gewordenen deutschen Stil sind sie auf Moralphilosophie gekommen; und da diese der Ästhetik grenznachbarlich ist, so sehen sich diese Leute plötzlich zu den schönen Künsten und Wissenschaften avanciert. So lange haben sie der Welt nur die trockne Wahrheit gesagt, jetzt aber sind sie mit einer trocknen Seele, die als solche keinen Augenblick Natur und Liebe gesogen hat, Natur- und Religionsphilosophen, Ästhetiker, Universalkritiker und alles, was der Zeitgeist, der deutsche Stil, die Literaturlücken oder die Buchhändler verlangen; sie repräsentieren den moralisierenden wie den politisierenden Rationalismus in seiner schönsten Gestalt, nämlich in der Phase, wo er mit Grazien und Erzengeln und nebenbei noch mit dem deutschen Volke familiär geworden ist.

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»Es hat schon damals nicht an Stimmen gefehlt, welche diese Subjektivität als ein Unwesen, als eine Krankheit der Literatur beklagten, und der eifrigste dieser Tadler, Fichte, hat sich sogar veranlaßt gefunden, infolgedessen sein Zeitalter als das der vollendeten Sündhaftigkeit zu bezeichnen.« – (Und doch hat eben Fichtes Ich-Philosophie jene Zeitkrankheit auf die Spitze getrieben)

»Selbstschwelgerei« ist auch so eine modernbeliebte, contra Romantik ausgemünzte Schreckparole geworden. Diese Schwelgerei ist aber nicht schlimmer und besser, nicht berechtigter und unberechtigter als die schwächliche Selbstverleugnung oder die seelenlose Objektivität und Klassizität.

Die Selbstschwelgerei ist freilich in den meisten Fällen Sinnlichkeit, Phantasterei, Formlosigkeit, die in Wahnsinn, Narrheit und noch leichter in Tyrannei und feige Verbrechen auszuarten pflegt; aber die Selbstschwelgerei kann auch philosophischer Idealismus, sie kann echte Romantik, tiefste Mystik, sie kann Liebe und Treu', sie kann ebensooft Prophetie und Verzückung als Bestialität oder Teufelei und Narretei sein. Es kommt also auf die Kenntnis der Potenz und Bildung eines Individuums an, um zu wissen, ob es mit dem Begriff von Selbstschwelgerei verurteilt oder mit dem der Objektivität und der Selbstverleugnung zu einer Potenz erhoben wird. Worin kann denn z. B. die Naivetät, die Harmonie, die Grazie und sinnliche Liebenswürdigkeit, die lyrische Stimmung, die Andachtsverzückung, der Lebensrausch, die Inbrunst des Gefühls, die schöpferische Phantasie, die Melodie bestehen als in einer Selbstschwelgerei?

Goethes und Schillers Lyrik sind Selbstschwelgereien; bei jenem mit der Initiative der Sinnlichkeit, bei diesem eine Schwelgerei im Geiste; aber diese Schwelgereien sind doch berechtigter, schöner, edler, wahrer als der Schematismus und Realismus des ersten besten Sittlichkeitspedanten, als die Selbstverleugnung des Handwerkers, Mechanikers und Mathematikers, Kalkulators und Kopisten. Goethe treibt eine Buhlschaft mit seinen Naturempfindungen, aber in diesem innern Sinn des Poeten bespiegelt sich ja doch die Natur ganz so notwendig, wahr, schön und berechtigt, wie es in den äußern Sinnen geschieht. Wie kann denn das Lebendige der Selbstbespiegelung, der Selbstschwelgerei entgehen, wenn es zum Bewußtsein kommen soll?

Die Schöpfung wie alle Liebe und Zeugungskraft ist nicht nur Selbstentäußerung, sondern zugleich göttliche Selbstbespiegelung, Selbstschwelgerei, Selbstaffirmation.

Es kommt also doch auf die Potenz und Bildung des Selbstschwelgers an, wenn man den Begriff der Selbstschwelgerei mit den Begriffen von »Gut und Böse«, von »wahr und unwahr« identifizieren will. Die Psalmisten, Homer, Shakespeare, Mozart, Raffael, Moses, Muhamed, Buddha, Brahma, Confucius, alle großen Propheten, Helden, Gesetzgeber, Dichter, Denker und Genien waren und sind nicht nur Realisten und Märtyrer der Unpersönlichkeit und Unsinnlichkeit, sondern die ausgeprägtesten Charaktere von Sinnlichkeit, Seele und Vernunft in einer und derselben Persönlichkeit; sie sind also auch Selbstschwelger und Idealisten. Die sogenannte Objektivität besteht in nichts anderem als in der vollkommneren Subjektivität, Organisation und Phantasie, in dem vollkommneren Mikrokosmus. Kein Sterblicher kann etwas anderes ausleben, dichten, denken, anstreben, ausgestalten als sein Selbst; je nachdem in diesem Selbst sich das Weltleben vollkommner oder unvollkommner inkarniert und reflektiert, sprechen wir von Objektivität oder von Subjektivität und Selbstschwelgerei. Es muß aber bei allen Gelegenheiten eingeschärft werden, daß, wenn uns die Selbstschwelgerei des Herzens und der Phantasie verpönt oder verdächtig wird, dieselbe sich im öffentlichen, im geschäftlichen wie im häuslichen Leben um so giftiger geltend macht, als die Bildungsambition überall die objektive und sittliche Form diktiert.

Der Mangel an poetischem Sinn, an aller Romantik und Phantasie rächt sich im nördlichen Deutschland durch Mystizismus, Fanatismus und Bigotterie. Künstler, Dichter und poetische Menschen sind und waren höchst selten Fanatiker oder Duckmäuser. Bei großen Männern wird die überschüssige Kraft gleichfalls von den Studien absorbiert; aber bei alten Jungfern und Sinekuristen, bei Leinewebern und Schustern, bei geistesgeweckten Leuten, die geistlose Geschäfte treiben, sind Seele, Geist und Körper zu wenig in Anspruch genommen, um nicht Geilschößlinge zu treiben. Die praktizierte oder gelesene Romantik ist also ein Gegengift gegen Ausschweifungen in der Religion, ein Gegengift gegen Schulfuchserei, gegen Unnatur, Pedanterie und Philisterhaftigkeit. Die romantische Schule war es, die uns nicht nur die Wege zum Verständnis Shakespeares, sondern zu den Schätzen, zu dem herzigen Verständnis unserer altdeutschen Literatur, der Nibelungen, der Gudrun, der Volkslieder, der Volksmärchen gebahnt hat. Der Überrest der Romantik in unsern Herzen ist es, der uns nicht nur die mittelalterlichen Künste, die deutschen Münster und Bildwerke oder die Musik eines Beethoven verstehen und genießen lehrt, sondern auch unsre Lebenspoesie, unsre Liebe und Andacht, das Wesen und den Inhalt des deutschen Gemütes, der deutschen Kunst und Lebensbegeisterung ausmacht.

Wie romantisch es im Eingeweide selbst eines Bildhauers, also eines klassisch gebildeten, eines antik und antiromantisch beschäftigten Mannes, aussehen kann, und von welchen kuriosen Nahrungsmitteln sich eine romantische Seele bespeist, das erfährt man aus einer biographischen Notiz des seligen Bildhauers Schwanthaler; Ludwig von Schwanthaler (1802-48), der Schöpfer der »Bavaria« vor der Ruhmeshalle bei München.; sie heißt so:

»Ich war im Traum in einer eben nicht sehr schönen Gegend, unfern des Gautinger Gauting ist ein bayrisches Dorf an der Wurm in der Nähe von München. Hochwaldes, als Moosvogel auf einer bewässerten Wiese, in den ersten Minuten der Dämmerung eines frischen deutschen Herbstmorgens. Da trank ich ein wenig aus dem Sandsumpfe mit langem Schnäblein und pfiff dann einförmig für mich hin in zwei Tönen; Töne, die mein Innerstes so ganz aussprachen, und von früher Jugend auf, daß ich sie oft stundenlang pfiff und mich meine Kameraden daran von weitem erkannten. Aber eins muß ich sagen, der ganzen Menschheit wünscht' ich diesen Traum, näher der Brust der Natur und weg von Menschenverkehrtheit und Erbärmlichkeit.«

So ein armseliger Romantiker wie Schwanthaler pfeift sich in zwei bestialen Moosvogeltönen die Harmonie der Sphären und seine Jugendglückseligkeit vor, bloß weil ihm das Herz so pumpvoll gewesen ist; und die kluge »Demiurgenphilosophie« »Handwerkerphilosophie.« der Gegenwart, das heißt die Philosophie des Habens, des Realismus und der besten Welt, die braucht Pauken und Trompeten und schifft Liedertafeln übers Meer Anspielung auf die Bestrebungen, durch Gründung von Liedertafeln, d. h. Männergesangsvereinen, selbst in überseeischen Ländern, wie Amerika und Australien, die Idee der geistigen Vereinigung der deutschen Stämme zu verwirklichen. und hat im hohlen Herzen oft nicht einmal einen einzigen Sumpfvogelton, geschweige denn des Lebens Seligkeit und Harmonie.

Es ist mir nicht nur in meiner Knabenzeit so gegangen wie dem ehrlichen Schwanthaler, sondern es geht mir heute, nahe dem sechzigsten Lebensjahr, oft so im wachen Mute, wie es jenem liebenswürdigen Manne im Traume geschah.

Moos und Sumpf, Schilf und Rohr, ein Kiebitzschrei über der stillen Heide, die unscheinbarsten Naturszenen stürzen mich in eine Melancholie, die ich mir durch keine Vernunftformel und keine Tagesparole, sie komme von frommer oder profaner Seite, als Unchristlichkeit oder Unvernunft oder als deutsche Ursünde, nämlich als Traumduselei und Geschmacklosigkeit, verdächtigen lassen will.

Dieses hohe, hohle, ohnmächtige und ewig geschwätzige Rohr unserer Waldseen, welches von jedem Lüftchen bewegt und doch nicht in Orkanen umgebrochen wird, das nicht angesamt, das erst im strengen Froste auf dem Eise niedergemäht wird und dann fünfzig oder hundert Jahre hindurch als Leiche auf den Dächern verwesen muß, schließt für mein Gefühl eine Zeichensprache ein, die mich lebhafter wie andere Dinge an Vergänglichkeit, ja an Menschencharaktere und an Menschenschicksale gemahnt.

Es ist etwas Verwandtes zwischen diesem Rohre und dem Poeten, der auch scheinbar charakterlos von jedem Lüftchen bewegt und geschmeichelt, aber auch von jedem gebleicht und zuletzt, im Eise erfroren und erstorben, dann noch geerntet wird, wann bereits lange zuvor alles verblichen, gereift und abgeerntet ist. Aus diesem Schilf und Rohr dreschen die Bauern freilich kein Brotkorn, aber die Sumpfwürmer und die Fischlein saugen aus dem jungen Rohrsafte einen Zucker, und die kindlichen Gemüter schneiden sich Hirtenpfeifen davon, und die Vögel des Himmels, die himmlischen Ideen, nisten in dem Rohrichte der Poeten; die Wetterstürme schlagen Wellen darin und brechen es doch nicht zu Grunde, und der Hagel, Welcher das nahrhafte Getreide auf dem Felde ausdrischt, kann dem Rohre nichts tun. Sein Stand im Wasser und im Waldesschatten schützt es gegen den Sonnenbrand, gegen Dürre und Staub, und seine materielle Unfruchtbarkeit, seine Nutzlosigkeit, die aber der Wilde und der Naturmensch zu nützen wissen, schützt es vor dem frühen Absterben, so daß es aller andern Gräser Tod und Ernte mit ansehen darf. Der heilige Schwan brütet im Röhricht der Waldseen und singt da sein Sterbelied aus, und die jungen Schwäne nähren sich von dem süßen Schoß und Mark. Wenn endlich dieses Poetenrohr absterben und sich ernten lassen muß, so schnitzt noch die Jugend Papagenopfeifen aus dem toten Körper für eine idyllische Lebensart und Musik.

Solche Gedanken träumte ich vor einem Rohrhaufen, bis mich ein Habichtschrei hoch über meinem Kopfe aufschreckte und doch nur die höchste Note für meine melancholisch komponierte Rohr- und Poetensymbolik war.

Die Poeten dichten und sagen manches, aber von ihren absonderlichsten Phantasiestücken, von ihren Herzenssympathieen und Antipathien dürfen sie wenig verraten; die sind mit Melancholie und Wahnsinn getraut. Es gibt Bilder und Geschichten, unerforschliche Stimmungen, Melodieen und Existenzfühlungen, sie wachsen aus den Kindheittagen in allem Lärm, in allen Zerstreuungen und Metamorphosen mit dem Menschen groß; sie bilden in allen Schicksalen und Szenenwechseln die Wurzeln und Triebkräfte der Gedanken wie den Duft der Träume; sie erwachen mit dem Dichter jeden Morgen und verschwinden erst mit seinem letzten Hauch. Neben den unerfaßlichen Geistern und Geschichten, den Paradiesempfindungen, den Vorgefühlen des Jenseits sind es auch die Urseelen von wirklichen Dingen, welche mit der Seele des Poeten eine Liebschaft oder eine lebenslängliche Ehe schließen, während die nüchternen Leute nur mit dem Körper der Dinge in sinnlicher Weise umgehen. Es muß so sein; die Arbeit, die Pflicht, die Sorge, die Selbstverleugnung, die Abhärtung befiehlt es so; aber die Poeten, die Romantiker gehören auch zur Ökonomie der Welt, und wenn sie nicht wären, wenn sie die Kulturschablonen nicht von Zeit zu Zeit forträumten, die verhärteten Formen nicht lösten und die dürren Schulbegriffe mit Seele tränkten, so hätte der wissenschaftliche und sittliche Schematismus das schöne Erdenleben bereits in einen Mechanismus verhext. Das Leben ist und soll mehr sein als ein bloßer Traum, gewiß wahr! Wenn aber die Materie und Wirklichkeit nicht überdichtet, wenn sie gar nicht geträumt wird, so hat die Seele, die Phantasie, die elementare Natur und auch die Übernatur keinen Teil am Leben. An der Religion ersehen wir, daß es einen Idealismus gibt, der mehr Wirklichkeit in sich faßt als die Schöpfung, welche wir mit Händen greifen können. Und wer die Realität der Religion nicht zugeben will, der gibt doch sicherlich die Wirklichkeit der Schmerzen und Freuden seines Herzens zu und weiß, wie in diesem Herzen Traum und Wirklichkeit unzertrennlich zusammengetraut sind.

Der Genius fühlt einen Abgrund der Natur und Übernatur in seinem Herzen, in seinem Gewissen, in seinen Leidenschaften und überall. Wie er sich auch gebärde und zusammenraffe mit seiner Schulvernünftigkeit und seinem Verstande, es wächst ihm eine Kraft über den Kopf, die er nicht regulieren, nicht Rede stellen, nicht ergründen, festhalten und in einen förmlichen Dienst zwingen kann; denn eines Augenblicks dräut ihm diese Natur und Gottessymbolik, diese Prophetie wie ein Zweiter, überlegner Geist, vor dem sein konventioneller Mensch, sein Schul- und Literaturverstand zusammenschrumpft, und wenn er diesen wunderbaren Sinn und Geist in Reflexionen abzufangen versteht, so wächst über Nacht, wie in einem Brunnen, so viel nach, als er am Tage geschöpft; und wenn er dem Genius freien Spielraum läßt, so pochen tausend Stimmen an seine Brust und begehren Einlaß; und andre eingesperrte Geister wollen wieder hinaus in die Welt. Der Mensch wird dann ein Märchenheld, welchen die schönen Fruchtbäume anbetteln, er erreicht aber nur sein Ziel, wenn er nichts hört, nichts sieht und nichts am Wege gepflückt hat.

Daß das sittliche Ziel sich nicht mit dem sinnlich-poetischen bunten Leben vertragen will, weil dieses an den Augenblick gewiesen ist, ändert im Werte und an der Schönheit des poetischen Lebens nichts.

In der echten Poesie werden wir eben von dem Dualismus der Mittel und der Zwecke, von dem Kampfe zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit gleichwie von allen andern Tierquälereien und Zwiespältigkeiten erlöst.

Poesie ist nicht nur die Verkörperung der Schulideen und die Idealisierung der Realitäten im Sinne der Schulmoral. Es handelt sich da um sublimere Tatsachen und Mysterien. Es stiegt uns in Augenblicken, mit einem Worte, einem Ton oder Bilde, mit einem Spiel von Licht und Schatten, mit einem Geruch und aus gar keiner äußern Veranlassung ein himmlisches Gefühl durch die Seele, es zuckt ein Blitz in unsern Sinnen auf, wir schauen neue Weltbilder und die alten in einem himmlischen Licht; wir vernehmen die Harmonie der Sphären, und mit derselben erwächst uns ein Gewissen von der Schönheit der Welt, welches von dem gewohnten Gewissen so unterschieden ist wie die christliche Lebensfühlung und Seele von der heidnischen Welt. Öfter noch sehen wir alte, bekannte Naturszenen in einem innern Gesicht; wir träumen uns in die Kindheit, in die Elternheimat, in den Mutterschoß zurück, und doch ist mit diesen vertrautesten, mit diesen an sich ganz gewöhnlichen Bildern und Situationen eine nie erlebte Existenzempfindung, eine Begattung mit den Seelen der Dinge und Geschichten, ein Schwelgen in Farben und Formenharmonieen, eine Magie von Helldunkel, von Perspektiven, von architektonischen oder landschaftlichen Schönheiten, eine Glückseligkeit im Schauen und in symbolischer Empfängnis verbunden, die uns die Gewißheit gibt, daß in ihr die tiefsten, die heiligsten Mysterien des Lebens wie der Gottheit, die sublimste Kraft der Seele verwirklicht wird.

Die Wirklichkeit mit ihren Quälereien, Miseren und Ängsten ist in diesen Wachträumen abgetan; wir verkehren mit den ewigen Seelen aller Dinge und doch mit ihren bekannten Körpern, aber es bleibt nicht bei einer einzigen Existenzempfindung, es werden immer neue Seelenregister gezogen, neue Weltempfindungen entquellen dem Gemüte und neue Seelen den Dingen, obgleich ihre Formen und Farben dieselben bleiben. Aus der alten wohlbekannten Physiognomie des Lebens leuchtet uns in diesen romantischen Augenblicken ein neuer und doch ein himmlisch befreundeter Sinn und Geist. Die alte Welt war unsere Schwester, unsere Mutter, aber jetzt drückt sie uns als unsere verklärte Geliebte, als eine göttliche Erlöserin von aller Erdenschwere ans Herz.

Solche Mysterien kann man denen nicht deutlich machen, welchen sie nicht innewohnen. Sie lassen sich auch ebensowenig malen als direkt aussprechen, in Musik setzen oder aus Steinen aufbauen; aber sie bilden bei dem romantischen Künstler und bei jedem echten Poeten (er gehöre welcher Zeit und Nation er wolle) den Seelengrund, den Odem und Impuls für das, was darstellbar ist.

In jedem echten Kunst- und Dichterwerk, ob romantisch oder antik, muß das Endliche vom Unendlichen getragen, das Sonderbild von einem Weltbilde begleitet und untermalt, muß die Lokalfarbe von einer Grundfarbe abgetönt, die Realität vom allgemeinen und idealen Leben geschwellt und durchleuchtet sein.

Wo der deutsche Sinn und Geist das Einzelne nicht mit dem Weltganzen durch Seele und Natur, durch Divination verbunden, und wo er den unsichtbaren Geist, die Seele des Lebens nicht in individuellsten Gestalten eingefleischt sieht, da gibt es für ihn keine poetische, keine religiöse Genugtuung, keine vollkommne Kunst, das ist die Erledigung der Frage nach dem Idealismus und dem Realismus in der Poesie und Kunst.

Was den Dichter, den poetischen Menschen zu Gesichten, zu Gottesempfindungen, zu Schmerzen und Seligkeiten, zu Großtaten entzündet, begreift er selbst nicht in dem Augenblick, da es geschieht; und wie will es ihm die Masse nachfühlen? Ich sah einst Rost, der von einer Dachrinne aus Eisenblech herabstäubte, im lichten Frühlingssonnenstrahl wie Goldfunken schimmern; da durchzuckte meine Seele ein Gesicht, ein Wunder- und Gottesgefühl von der Sonne, die allen dunklen Dingen Folie und Transparenz leihen darf; von dem Frühlingslichte, welches mit dem dunkeln Schoß der Mutter Erde Gräser und Blüten zeugt, die im grünen, im buntfarbigen Feuer ihr Dasein verlodern und verduften. In jenen heiligen Augenblicken, wo das Sonnenlicht mit meiner Seele verschmolz, begriff ich die Mysterien der Materie und Natur, da zuckte durch mein Gewissen I. Böhmes Theosophie von Licht und Finsternis; heute fliegt nur ein Schatten von jenen Gesichten und Wunderempfindungen durch mein Hirn, und auch den Schatten dürfen noch die Worte verzehren, mit denen ich andeuten will, was von der Lichtseele übriggeblieben ist, die in mir einen Augenblick gedichtet und geweissagt hat.

Wie will der Landschaftsmaler Pflanzen und Luft im Lichte malen, wenn er nicht einen Augenblick ein Lichtpoet, ein Sommerdichter, ein Frühlingsnarr war; und wie soll das apathische Publikum den Poeten aus dem Narren, aus dem Phantasten, dem Lichtverzückten herausfinden? Wenn ich ein Maler wär', ich wütete zehn Jahre und mein lebelang mit Farben, mit Lichtern, um eine alte Dachrinne in den Vordergrund eines Bildes zu bringen, von welcher goldige Rostfunken im Sonnenlichte stäubten; und wenn kein Mensch mein inneres Gesicht und meinen Naturprozeß begreifen könnte, brächte ich mich um oder schleppte mich als feiger Geist und lebendiger Leichnam durch den Kot einer Welt, in der nicht einmal die Augenblicke verstanden werden, wo sich der Himmel und seine Sterne in der Pfütze spiegeln oder Eisenrost durch Licht zu Goldstaub veredelt wird. Unsre Seelen mit ihren Sonderempfindungen bleiben wie Inseln geschieden, trotz dessen, daß sie im Meere des allgemeinen Lebens und des Gemeingefühls schwimmen. Der Dichter aber ist eben der Mensch, welcher den Versuch eines Seelenverkehrs in Phantasie und individuellsten Sympathieen ebensowenig aufgeben darf als den konventionellen Schematismus, den künstlerischen Stil und den objektiven Verstand.

Heute morgen erwache ich von einer leidlich geblasenen Klarinette, sie ist mit ihren halb erstickten, halb eingeschluckten und leicht umschlagenden Tönen, die bald zu viel und bald zu wenig Luft haben und nie ganz lustig zum Holze herausfahren, nicht mein Lieblingsinstrument; und doch durchzittert mich in einer leichtgeratenen Passage und in einigen gemeinplätzigen Verzierungen, wie sie eben ein übender Hoboist zum besten zu geben pflegt, der ganze Zauber der Musik. Wenig Augenblicke weiter martert mich dasselbe Instrument; das ist der Unterschied von Seele und Verstand.

In den Augenblicken der tiefsten Empfindung, wenn das Weltwunder mit unserer Seele Poesie und Schönheit zeugt und wir fühlen, »daß alle Worte ein Ton von Erden sind«, dann schreiben wir nicht, dann sprechen wir nicht einmal; wenn wir aber die Feder zur Hand nehmen und mit ihr der Schreibestil unsere Brust alpdrücken, den Fluß des Lebens kristallisieren und die Empfindungen schematisieren darf, dann ist's auch mit dem Wundergefühl, mit der Lebensberauschung vorbei. Der Schriftsteller, welcher sich noch ein wenig Lebenspoesie und Lebensgewissen bewahrt hat, macht diese miserable Erfahrung jeden Morgen; und doch muß er das schreiben und drucken lassen, was kaum ein Schattenbild, ein Kupferstich von einem Bilde in Feuerfarben, eine Partitur von himmlischen Harmonieen ist, zu deren Ausführung es keine Instrumente und Virtuosen geben kann.

Wenn ein gesunder, junger Mensch gestärkt vom Schlafe erwacht, so fühlt er immer noch etwas von den ersten Lebenskräften Adams; und wenn ihn auch melancholische Gedanken im Hinblick auf ein garstiges und sorgenvolles Tagewerk anwandeln, so verwandelt der erste Atemzug von frischer Morgenluft die Schwermut in eine Lebensschwellung, die auch dem Misanthropen sagt, daß nur die Philosophie Wahrheit haben kann, welche von den himmlischen Impulsen des Lebens bewegt ist und mit ihm das Zentrum gemein hat. Nur die Augenblicke haben Seele und Ton, gewinnen Farbe und Rundgestalt, zentralisiertes und peripherisches Leben, nur die Augenblicke gehören dem Genius, in welchen sich Natur und Vernunft, Theorie und Praxis, Phantasie und Wirklichkeit begatten. Aber eben diese Augenblicke lassen sich weder fixieren noch in ihren Formen abfangen. Und doch fordert der Charakter, fordern Kunst und Verstand, daß der Mensch, daß auch der Dichter dem Augenblicke das Gorgonenschild der Norm und Schablone vorhalte. Das kristallisierte Element aber, die Form, welche sich dann von der bloßen Augenblicksstimmung abgelöst hat und als selbständige Macht auf den Naturalismus zurückwirkt, ist die schematisierte Sprache, die stilisierte Natur, der sittliche Charakter, der Stil, der objektive Verstand, dem wir am Genius, am Helden, am Künstler oder am Gesetzgeber unsre Bewunderung weihen. Diese Mysterien einer Welt, die in endlosen Gegensätzen prozessiert, hat Shakespeare aufs tiefste begriffen und in dem Prinzen Hamlet so wundervoll personifiziert.

Hamlet soll der Typus des deutschen Charakters sein; – versteht sich, des gebildeten modernen – genauer genommen, der Typus einer Schichte von deutschen Jünglingen mit ästhetisch-philosophischen Bedürfnissen von sonst; denn in jüngster Zeit sind Romantik, Philosophie und Theosophie so vollständig beseitigt, daß auch nicht einmal Hamlets Haut für einen sozialen, politischen und national-ökonomisch-realistischen Jüngling von heute passen will.

Dem Deutschen soll es an Tat- und Willenskraft fehlen, er soll ein unverbesserlicher Zauderer und Träumer sein. Das ist vergleichsweise mit Franzosen, Polen, Engländern und Amerikanern wahr; aber dieses Dichten und Denken, dies Sinnen und Zögern, diese subjektive und seelische Lebensart ist durchaus nicht schlimmer und schlechter, nicht unberechtigter als die romanische und slawische Beweglichkeit oder die englisch-amerikanische Tatkraft, Entschlossenheit und realistische Geschäftigkeit. Das ganze traditionelle Hin- und Hergerede über deutschen Idealismus und über den Realismus der andern Nationen läßt sich darauf reduzieren: in Handlungen und Entschlüssen entladet sich die Nervenkraft nicht nur auf eine für den Organismus wohltätige und natürliche Weise, sondern der Geist selbst bildet sich in Tat- und Willenskraft den Positivismus, den realistischen Faktor zu, der den Leib des Geistes ausmacht, und ohne welchen der Idealismus wie ein Schatten auf Erden umherirrt. In Handlungen und Arbeiten gewinnen Seele und Geist erst die Begrenzung, die Detailerkenntnis und Solidität, in welcher Verstand und Charakter bestehen. Wohin aber Tatkraft, Arbeit und Willensenergie führen, wenn das Seelenleben nicht fort und fort die Verstandes- und Charakterhärten und den ganzen Realismus lösen darf, das zeigen ans ebenfalls Engländer und Amerikaner. Die kulturhistorische Bedeutung des Deutschen scheint eben darin zu liegen, daß er vollkommener wie der Mensch irgend eines andern Volkes das schöne Menschentum, das Maß zwischen Willenskraft und Divination, zwischen Seele und Verstand, zwischen Arbeit und Gebet, zwischen Familienleben und Öffentlichkeit zu treffen versteht. Hat man bis in die neueste Zeit den Mangel an Nationalleben mit Recht getadelt, so wäre es heute nicht minder in der Ordnung, daß man wiederum das Gemütsleben der sogenannten Gebildeten zu vertiefen suchte; wenn auch nicht durch Traktätlein oder Romanleserei oder durch ein Philistertum, welches Gemeinsinn und Nationalleben mit politischer Kannegießerei vertauscht. Jedenfalls aber ist so viel gewiß, daß es unsern Literaturklugkosern und Literaturtaglöhnern ganz und gar an Gemüt und Mutterwitz gebricht; daß Künste und Wissenschaften weder im politischen Schematismus noch im populär-naturforscherlichen Materialismus erstarken werden; und daß die Poeten besser tun, sich einen Hamlet als einen Percy Heißsporn Henry de Percy, aus dem englischen Grafengeschlecht der Northumberland, bekannt unter dem Namen Hotspur (»Heißsporn«), beteiligte sich am Aufstand seines Vater Henry Lord Percy gegen König Heinrich IV., verlor aber am 21. Juli 1403 in der blutigen Schlacht bei Shrewsbury Sieg und Leben im Kampfe gegen die Königlichen. zum Muster zu nehmen. Die Poesie bleibt zuletzt doch Poesie, und selbst die deutsche Nationalpoesie steckt unmöglich in der öffentlichen Meinung oder im Nationalstolz oder im Nationaltintenfaß unserer modernen Ästhetik und Kritik; sie strömt vielmehr aus den Millionen Quellen unserer Herzen, die der großherzigste Poete seines Volkes in sich aufnehmen, die er mit seinem Blut- und Nervensaft mischen darf. Die Literaturästhetik und Literaturdemagogie zeugen nimmermehr eine Nationalpoesie.

Poesie kann nur da sein, wo unsre Seele von der elementaren Natur erfüllt und unser Geist vom Geiste Gottes getrieben wird. Die Modernen aber verleugnen die übermenschliche Kraft und pränumerieren sich Ziel wie Lohn.

Das Mysterium der Poesie ist die Liebe und Mitleidenschaft, aber die Leidenschaft muß vom Geiste gezügelt sein, denn andernfalls entarten Divination und Liebe zur Dämonie.

Wenn wir aber allzu verständig und zu geschäftig sind, so vernehmen wir weder den Geist Gottes noch der Natur. Wir müssen den Geist abruhen lassen, wenn etwas mit unsrer Seele geschehen, wenn sie ein Organ natürlicher und übernatürlicher Prozesse werden soll. Wir können weder die Stimme der Natur vernehmen, noch kann ein höherer Geist über uns kommen, solange unser eigne Witz allein weidelaut Soviel wie vorlaut (vor der Zeit laut werdend, bellend, ursprünglich zunächst vom Jagdhund gebraucht). bleibt. Was auch der Mensch verrichte, wie geschäftig er sei, doch muß er dem allgemeinen Leben, das unsere Seelen bespeiset, und dem göttlichen Geiste, in kraft dessen der Menschengeist denkt, Raum verstatten; denn andernfalls verliert der Verstand die Seele und der Menschenwitz den himmlischen Sinn und Geist, der aus ihm zeichenreden und weissagen soll. Wer nichts andres spricht und schafft, wer nichts anderes zurückspiegelt, als was von seinem Witz und Willen, von seiner Werktätigkeit kommt; wer sein Schicksal und seine Rede ohne die Beihülfe der Geister, der Stimmen und der Kräfte macht, die uns die rechten Worte zuflüstern, die unsere Entschließungen begeistigen und unsern Handlungen die Seele leihen müssen; wer nirgend und nie von einem Geiste getrieben und von einer Lebenswelle getragen wird, die mächtiger sind als des Menschen Wille und Witz, als des Menschen Stolz und Kunst, als seine Tugend und sein Verdienst, der ist kein natürlicher, kein poetischer, kein liebenswürdiger, der ist kein religiöser Mensch, dessen Willenskraft, dessen Tatkraft und Charakterenergie wird nicht minder eine Unnatur als die Lässigkeit eines Menschen, der seiner Natur keinen Geist und keinen Eigenwillen entgegensetzt. Wir müssen uns über Wasser halten, indem wir unsere Gliedmaßen brauchen; aber wenn uns das Wasser nicht tragen will, so ist unser Rudern und gemachtes Schwimmen für nichts. Wir müssen gegen den Strom arbeiten und uns gleichwohl treiben lassen, wohin er will, denn der Schöpfer verzeichnet den Strömen ihre Bahn und schickt sie alle ins Meer; und im Lebensmeer findet auch unser Witz und unsere Kraft ein Ziel.

Es geht ein himmlischer Rhythmus durchs Leben, auf den sich alle irdischen Rhythmen und Noten einzählen müssen. Es beseelt uns alle derselbe Sinn und Geist, der uns zu einer Menschheit, zur Natur, zum Weltganzen vereint. Diesen Rhythmus, diesen allgemeinen Geisterzug, dieses Ganze, diesen Gott will der deutsche Mensch vernehmen und mehren; ihn will er versinnlichen, predigen und kundgeben in seinen Worten, wenn er ein Dichter und Denker ist; in seinen Werken, wenn er als Held und Reformator auftritt. Und wenn er das rechte Wort, das Zeichen, die rechte Art nicht finden, wenn er das rechte Maß zwischen Tun und Leiden, zwischen Willenskraft und Ergebung, zwischen Glauben und Denken nicht treffen kann, so wird er ein Träumer oder ein Rebell, ein Schwärmer oder ein Materialist, ein Demokrat oder Absolutist, ein Pedant oder Phantast, so wird er ein taumlicher Romantiker oder ein Anbeter der Klassizität und des gehaltenen Stils. Und wenn er sich wieder der Einseitigkeit und Exzentrizität (aus Verzweiflung, das rechte Maß verfehlt zu haben) hingibt, so treibt ihn die Gewissensbeschwerde oder das unerreichbare Ideal zur Melancholie; denn es kennzeichnet den deutschen Menschen mehr wie einen andern das Wort des größten deutschen Dichters: »Der Mensch in seinem dunkeln Drange ist sich des rechten Weges noch bewußt.«

»Das Mittelalter ist die Zeit der Erziehung roher Barbaren, d. h. unserer germanischen Stämme und der verkommenen Römerwelt, zu einer neuen, höheren Zivilisationsstufe. Der Geist der Wissenschaft und Kritik des Altertums, viel zu eng und beschränkt, um die neue Gedankenmasse zu fassen, wurde überstürzt; die Unwissenheit brach herein, und alle schmutzigen Kanäle aus den früheren geschichtlichen Bildungen entleerten sich in den Gedankenkreis unserer einfältigen, arglosen Vorfahren. Warum schilt man das Mittelalter wegen etwas, wofür es nicht kann? Warum klagt man es an, leichtgläubig gewesen zu sein, da jeder glaubt, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist? Gerade das, daß Kirche, Wissenschaft, Philosophie daran arbeiteten, aus Glauben und Aberglauben, Wahrheit und Täuschung ein System zu schaffen, ist der beste Beweis, daß der Geist frisch und gesund war, daß das Mittelalter bona fide handelte und dem ganz richtigen Triebe folgte, in eine dunkle Sache Licht und Klarheit zu bringen. Worüber man sich eigentlich mit Recht weit mehr wundern kann, ist dieses, daß der mit dem Aberglauben aller Völker und Zeiten überschüttete und übersättigte Geist der abendländischen Welt in den Labyrinthen des Widersinns nicht umgekommen, nicht, wie z. B. die Inder, ganz stupidisiert und verdummt worden ist, sondern die Mauser so wacker bestanden, die fremden Stoffe endlich so kräftig abgestoßen hat. Daß der mittelalterliche Aberglaube die Welt noch einmal in Beschlag nehmen sollte, ist schwerlich zu fürchten.«

Magazin des Auslandes, 17. III. 59.

Jawohl, der Deutsche ist ein Träumer; aber in seinen Träumen war mehr Glück und Triebkraft als in unserer seelenlos gesinnungstüchtigen, neunundneunzig klugen, überwachten Zeit. Und dieser mittelalterlichen Romantik, auf welche heute jeder moderne Lump sein Pfui ausleeren darf, verdankt die Geschichte ihre tiefsten Prozesse, verdankt die Kirche und die Sitte ihre Grundlagen, verdanken Sprache, Künste und Wissenschaften ihre Normen, ihre Meisterwerke und ihren himmlischen Witz für alle Zeiten. Diese verhöhnte Romantik baute die Münster in den Himmel, die dann noch Zeugnis geben werden vom alten Menschengemüt, vom alten Glauben und von der Seelenunsterblichkeit, wenn bereits diese Lichtfreundlichkeiten, diese naturwissenschaftlichen Seelenleugnungen, diese hyperpolitischen »Revalenta Arabika«, »Arabischen Geheimmittel«. wenn das ganze moderne Verstandesgötzentum mit seinen heillosen Säkularisationsprozessen im Meere der Vergessenheit begraben liegen wird.

Es ist wahr, daß diese deutsche Traum- und Gemütseligkeiten, daß die mittelalterliche Pietät und Romantik viel heillosen Aberglauben, viel Pfaffentrug und somit viel Knechtschaft und nationale Herabwürdigung verschuldet hat, aber die Radikalkur, welche der moderne Radikalismus und Materialismus in Anwendung bringen, läuft so ganz und gar wider die deutsche Natur, ist so schal und kahl, so seelenmörderisch, so widernatürlich-naturwissenschaftlich, so schematisch-sittlich, so abstrakt-toll, daß die deutsche Nation, falls noch ein Überrest des alten Gottes- und Naturinstinkts in ihr ist, es vorziehen muß, mit dem alten romantischen Eingeweide weiter zu wirtschaften und langsam das Klare zu gewinnen, bevor sie das politisch-moderne Abenteuer riskiert, demzufolge ihr im schnellsten Tempo ein bißchen der Bauch aufgeschnitten, das alte Herz und Eingeweide herausgenommen und Zeitungspapier mit naturwissenschaftlichen Rezepten hineingetan werden soll, damit sie in Zukunft vor Leibschmerzen und Blutandrang nach dem Kopfe verschont bleibe.

Der Deutsche hat die heilige Mission, ein Idealist, ein inspirierter, beseelt-verständiger, religiöser Mensch, ein Dichter und Denker für alle Welt zu sein; und die Geschichte bezeugt es, daß er diese Mission zu erfüllen vermochte, ohne darum unpraktischer und untüchtiger als die nüchtern-praktischen romanischen Nationen zu sein. Nur undeutsche, herzlose Ideologen, politische Träumer und Romantiker der Politik konnten die Tugenden, die Talente und Liebenswürdigkeiten des tiefsinnigsten Volkes als Laster, Miseren und nationale Verschuldungen darstellen; nur entartete Subjekte des deutschen Volkes konnten aus der Gottesscham des deutschen Menschen einen Literatur- und Gassenskandal, aus seiner Romantik einen Hohn und Spott machen und an die Stelle des tiefen Naturgefühls, welches einen Humboldt und Goethe, einen Jakob Böhme und Paracelsus hervorgebracht hat, eine populäre Enzyklopädie von nüchternen Naturbeschreibungen setzen, durch welche Gott, Seele und Unsterblichkeit in Frage gestellt worden sind.

Staat und Sozietät müssen aus vollbeseelten Menschen, aus unsterblichen Personen, aus gläubigen, liebenden, ihr Dasein überdichtenden und überdenkenden Wesen, aber nicht aus Kulturphantomen, aus Literatursklaven und Literaturpatienten, nicht aus Sozietätsautomaten und naturforscherlichen Mechanikern, aus abstrakten Intelligenzen in Hosen und Frack bestehen. Die gangbar gewordenen Weltanschauungen, die schematisierten Gedankenprozesse, Gefühle und Empfindungen, wie die aus ihnen hervorgegangenen Lebensarten und abstrakten Charaktere, die ebensovielen Meridianen der Geisterwelt ohne Herz und Lebenskern gleichen, diese modernen, gespenstigen Verstandesprozesse und Literaturstilisationen in Stelle der alten deutschen Gemütsgeschichten sind schlimmer und widernatürlicher als die mittelalterliche Finsternis, Phantasterei und Barbarei; denn sie hatte zu ihren beiden Faktoren Natur und Übernatur, Poesie und Religion, immanenten und transzendenten Verstand, während wir Modernen zwischen Literaturstil und Geldkredit, zwischen Stoffphilosophie und sozialem Schematismus in der Schwebe aufgehängt sind; und dazu machen die frommen Leute aus dem himmlischen Feuer einen garstigen Rauch. Darum sehen die neuen Träger der modernen Bildung, die modernen Theologen, Ästhetiker, Publizisten, Helden, Reformatoren oder Poeten den Genies vom alten Stile so etwa ähnlich wie ein geräucherter Bücking mit seiner Goldbronzehaut dem Fisch, welcher den Propheten Jonas pro forma verschlang.

Es ist mit der Romantik wie mit allen andern Lebensprozessen. Wenn wir sie studieren, so finden wir, daß sie in Mann und Weib, in der Jugend und im Alter, im Menschen des Südens und des Nordens, daß sie im gebildeten Genius und im flachen Naturalisten, im Helden und im Narren um eine Welt verschieden sind, obgleich sie aus denselben Elementen bestehen. Wenn Zweie dasselbe sagen, dichten und denken, so ist es nicht dasselbe; wie sollte denn nun die Romantik in dem romantischen Poeten und im albernen Dichterling, in Kalidasas »Sakuntala« Vgl. S. 14, Anm. 1. und in Sues »Ewigem Juden«, Eugène Sues (1804–59) zehnbändiger Roman »Der ewige Jude« erschien 1845. in Shakespeares »Sturm« und in den »Löwenrittern« von Spieß, Der »Löwenritter« (1794) war einer der zahlreichen Ritter- und Räuberromane, die Christian Heinrich Spieß (1755–99) verfaßte. in Goethes »Götz von Berlichingen« und in Kotzebues »Kreuzfahrern«, in Goethes und in Klingemanns Ernst August Friedrich Klingemanns (1777 – 1831) »Faust« erregte vor Einbürgerung des Goetheschen großes Aufsehen. »Faust« dasselbe sein?

Wo bliebe denn die Bedeutung der Person, wenn sie im Gemüte nicht die Natur zur Übernatur, die Materie zum Geiste, die Buchstäblichkeit zur Symbolik, den Mechanismus der Arbeit und Gewohnheit zu einer Tugend und Religion und jede Lebenstrivialität zu einem Lebensmysterium verwandeln könnte?

Es ist mit der Romantik wie mit dem Humor. Es schweben den ältern Leuten unserer Generation noch die alten Herrn, die alten Erzpriester und Magister, die Assistenzräte, die alten Kriegs- und Domänenräte, die glücklich avancierten Korporale, d. h. manche alten Generale, die alten Amts- oder Kommerzienräte, d. h. die alt und reich gewordenen Krämer- und Schreiberburschen vom vorigen Jahrhundert vor, deren Humor aus einem perpetuum mobile von einem zynischen Egoismus und einer flachen Sentimentalität bestand. Wir finden diese Exponenten auch an dem Humor von Sterne Der englische Humorist Lawrence Sterne (1713–63). an Börne und Heine; wir finden sie an Tieck und Callot-Hoffmann, S. 151, Anmerkung. ja an Jean Paul, an Hippel und Boz-Dickens heraus; wir werden doch aber, wenn wir gescheut sind, wenn wir ein Gewissen für die humoristische Lebensskala und für die Weltgegenden des Humors haben, unmöglich all jene Humoristen über denselben Kamm scheren wollen, und am wenigsten werden wir sie mit dem Schimpftitel von »sentimentalen Zynikern« abfuchteln wollen, bloß weil ein Rest von Gewissen uns sagt, daß es uns selbst an Herz und Mutterwitz, an Phantasie und zeugungskräftiger Natur gebricht.

In jedem prädestinierten Humoristen katzbalgt sich ein bildkräftiger, naiver Naturalismus mit dem musikalisch-pathologischen Wesen, welches der überfeinerte Kulturprozeß in uns destilliert. Es geschieht dann eben dem gesündesten und radikalsten Humoristen, daß ihm die Natur in Augenblicken allzu natürlich, und daß ihm die reflektierte Seele zu gefühlvoll oder zu redselig wird, aber er tröstet sich über diesen göttlichen Humor in seiner kuriosen Person mit dem Bewußtsein, daß er »eine Person« und daß er kein modern klassischer Kulturkastrate, daß er kein Sittlichkeitsphantom in Glacéhosen, daß er kein aus neunundneunzigerlei Literaturessenzen zusammengefahrener Flaschenhomunkulus ist; und dieser negative Trost wird gegenüber den Literaturfiguren unserer Zeit zur positiven Satisfaktion; denn jene Figuren geben den »Bassermannschen Gestalten« Sprichwörtlich gewordene Bezeichnung für typische Gestalten der 1848er Revolution, die der Politiker Friedrich Daniel Bassermann (1811–55) nach seiner Rückkehr von Berlin in der Nationalversammlung schilderte. nichts nach. Sie laufen, vom Kulturmechanismus in Bewegung gesetzt, mit italienischen Räuberbärten und Augenklemmen, mit kühn formulierten Zeitparolen und schwachen Nerven, mit klassischen Phrasen und abstrakten Beinen, mit einem stillen Meer von verschwiegenen Gemütstiefen und nachweislich gepumpten Gedanken durchs Leben und durch die Literatur.

In der Literatur mögen sich nicht nur Romantik und Humor überlebt haben, mögen nicht nur Tiefe und Innigkeit des Gefühls, sondern auch Glaube, Liebe, Hoffnung und Pietät zu den »überwundenen Standpunkten« gehören: aber im deutschen Leben werden diese tiefsten Wurzeln und schönsten Blüten der Menschheit so lange in die Erde hinabwühlen und zum Himmel hinaufblühen, wie es deutsche Herzen und Köpfe, deutsche Gemüter und Gewissen gibt.


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