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Alle Völker, auch die barbarischen, haben ihre Sitten, weil sie erfahrungsmäßig wissen, daß die kleinste Gesellschaft nicht ohne Lebensordnung, ohne Autoritäten und Exekutivgewalten, nicht ohne solche Konventionen, Formen und Gesetze bestehen kann, durch welche die Willkür und Gewalttätigkeit der Individuen im Zaum gehalten wird. Außer der Notwendigkeit arbeitet aber auch der Vernunftinstinkt bei halb und ganz wilden Völkerschaften den elementaren Leidenschaften, durch einen Schematismus, durch irgend ein Zeremoniell und eine Grammatik entgegen, weil nur an einer Mechanik und Schablone, an einem Dinge, welches der Menschenwitz ersinnt, sich der Menschengeist von der Natur unterschieden und errettet fühlt, die ihn sonst verschlürft.
Es kommt also, wie in allen Kulturgeschichten, darauf an, ob sich bei einem Volke der Geist dem adamitischen Naturalismus oder dieser dem sittlichen Geiste anbequemen muß; ob in den Sitten und Lebensarten Grazie, Phantasie, Sinnlichkeit, Aisance, Französisch: Leichtigkeit, Behaglichkeit. Bequemlichkeit, Klugheit, äußerliche Höflichkeit und Liebenswürdigkeit vorherrschen oder der Ernst, die Aufrichtigkeit, die Wahrheitsliebe, die Lebensgrammatik und der Glaube an die persönliche Würde des Menschen, an ein absolutes Gesetz, welchem alle sinnlichen Bequemlichkeiten, alle individuellen Augenblicksgelüste und Selbstsuchten unterworfen bleiben.
Den deutschen Sitten fehlt es an der italienischen wie an der slawischen Naturgrazie und natürlichen Aisance, an der französischen Beweglichkeit, Kulturgrazie und geselligen Liebenswürdigkeit. Dem deutschen Menschen fehlt nicht nur die spanische Grandezza, sondern auch die majestätische Emphase, die souveräne Willens- und Tatkraft, welche die Leidenschaft dem Menschen des Südens, welche sie dem Korsen, dem Spanier, dem spanischen Weibe verleiht.
Das gemeine Volk im Süden wie im Norden von Deutschland, z. B. in Schwaben, in Hessen, in Ost- und Westpreußen, in Pommern, besitzt sehr oft nicht einmal einen Sinn für äußerliche Wohlanständigkeit in Kleidung, in Manieren. Den gemeinen Leuten dort fehlt nicht nur der Geschmack, welchen Polen, Italiener, Spanier, Albanesen, Türken, Perser, Araber, Tscherkessen, Russen und Kurden in der Kleidung an den Tag legen, sondern jede körperliche Repräsentation und Haltung bis zum Mangel des Schicklichkeitsgefühls beim Essen und Trinken, im Gehen und Stehen. Bei keinem Volke latschen die gemeinen Leute mit so krummen Knieen, mit so unschön vom Leibe abgewendeten Ellenbogen, mit so vorgebeugten Köpfen, so packeselmäßig wie bei den Deutschen einher; – der tristen Gebärden nicht zu gedenken, die etwas von einem melancholisch-verdrießlichen Wüstenkamel verraten, besonders um den Mund herum, zu welchem sich bei gewissen deutschen Volksstämmen eine langgestreckte, geschnäbelte, schmale und scharflinige Nase hinneigt.
All diese und viele andere ästhetische Ausstellungen haben ihre Richtigkeit, z. B. Glotzaugen, Buttermilchsaugen mit Brauen, die buschiger als der Backenbart sind. Bäckerbeine und vertrocknete Waden finden sich unter den deutschen Stämmen häufiger als unter slawischen und romanischen Nationen, aber die Betonungen dieser Tatsachen, die Folgerungen, die Nutzanwendungen sind falsch. Nicht nur das gebildete Publikum, sondern selbst die Gelehrten, die professionierten Ästhetiker und Moralphilosophen wissen nicht mit den Schattenseiten der schönen Leiber, der Grazie, des seinen Geschmacks und der oberflächlichen Liebenswürdigkeit gründlich Bescheid. Diese über Gebühr beliebten und gepriesenen Eigenschaften beruhen auf einer Harmonie von Natur und Geist, von Sinnlichkeit und Verstand, auf einem primitiven Paradiesfrieden der Lebensgegensätze, bei dem es nicht verbleiben darf, weil er sich, wie wir an dem schönen Geschlecht erfahren, so oft ohne Kraft und Charakterkonsequenz, ohne Vernunftenergie, kurz ohne die spezifisch männlichen Geistesfakultäten zeigt. Erst mit dem Bruch zwischen Natur und Geist kommt es zur tiefern Entwicklung der menschlichen Kräfte, zur Kulturgeschichte, zum Siege des vernünftigen Geistes über die elementaren Naturgewalten außer uns wie in unserm Selbst. Die Grazien und ästhetischen Talente der Italiener, der Griechen, der Dalmatiner und Polen erklären sich aus ihrem frei entwickelten Naturalismus. Weil aber die Deutschen und Engländer mit ihrer Kultur Ernst gemacht haben, weil sie sich das Leben, die Wissenschaft und die Künste sauer werden lassen, weil sie Schule und Sitte heilig halten, weil sie einer für Recht und Geschichte begeisterten Rasse angehören, weil der geistige Faktor in ihnen über die Sinnlichkeit herrschen darf: darum sind sie seltener von den Grazien gewiegt.
Weiber, Kinder und viele barbarische Nationen sind graziöser, anmutiger, liebenswürdiger und naiver als Philosophen, Schulmeister, Pfarrer und Propheten, aber vernünftiger, gescheuter, verlässiger, ehrenwerter sind sie um dieser Grazie willen keineswegs; und viele Tiere, Hirsche, Adler, Pferde und Löwen, übertreffen an Naturgrazie und Naturstolz selbst eine spanische Tänzerin.
Individuen und Nationen, die sich vom Naturalismus emanzipiert haben, die aus dem tierischen Instinkt heraus zum Reiche des Geistes durchgedrungen sind, können unmöglich so unbefangen, graziös und schön in ihrer Erscheinung, in ihren Lebensarten sein wie Subjekte, die sich halb oder ganz als Naturprodukte darstellen.
Die Kulturgrazie und Höflichkeit der Franzosen ist eine leere Eitelkeit und Bildungsprätension, ohne Fundament und Charaktertiefe, ohne Selbstkritik und Gewissensbisse, ohne Würde und Wahrhaftigkeit, – ein bloßes Bildungsbaiser für solche Ästhetiker, denen es an prononcierter Männlichkeit, an Charaktergewaltigkeit, an Gemütstiefe, an Gottesgewissen, am adamitischen Erbe, an sittlichem Instinkt und an elementarer Naturkraft gebricht.
Bei Helden, Gesetzgebern und Propheten ist keinmal von Grazie und Höflichkeit die Rede. Die Leute des Volkes aber und nicht die Gebildeten haben wir als die echten Jünger und Pflegebefohlenen der Gesetzgeber und Propheten anzusehen; somit dürfen die Massen auch nicht die Träger der Delikatesse, der Ästhetik und Höflichkeit sein.
Wenn die Redensart von der göttlichen Grobheit mehr als einen schlechten Witz und vielmehr die Kluft zwischen dem göttlichen Gesetz und der konventionellen Umgangsform bedeuten soll, so mag man auch begreifen, daß ein Volk als die primitive Inkarnation der Natur- und Sittengesetze unendlich tiefere Prozesse und Formen zu absolvieren hat als solche, welche zur Politur der Oberfläche gehören.
Die schönen Künste und Wissenschaften geben der Bildung des Genius, des Gelehrten den letzten Schliff, indem sie Seele und Verstand in eins bilden, indem sie Vernunft und Sinnlichkeit versöhnen; aber indem sie dies tun, werden sie zugleich die Kuppler der Sinnlichkeit und Nichtsnutzigkeit bei denen, welchen es an Charakterenergie, an Fleiß und strengen Grundsätzen gebricht.
Künste und Wissenschaften mildern zwar die zu große Härte, die Roheit der Sitten und veredeln das sinnliche Gefühl; aber indem sie dies bewirken, nehmen sie auch den Volkssitten und dem Charakter der Nation die Kraft. Die Lessingsche Fabel von dem plumpen Ebenholzbogen, welcher beim Spannen zerbricht, nachdem er durch Bildschnitzerei an Masse verloren hat, bleibt wahr. Beim Volke handelt es sich nun und nimmermehr um Anmut, Grazie, Weichheit und Schönheitsgefühl, sondern um Wahrhaftigkeit, Sittenstrenge, Charakter und Kraft. Man muß die tiefste sittliche Grundlage besitzen, um ohne Schaden mit den schönen Künsten zu verkehren: denn der Dualismus zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, welchen die ästhetische Bildung indifferenziiert, Verwischt, aufhebt, beseitigt. ist beim Volke eben der Grund ihrer sittlichen Kraft. Mit dem Bruch zwischen Natur und Geist beginnt die Kulturgeschichte, und mit der Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft, von Seele und Verstand, d. h. mit der Ästhetik, beginnt die Schwäche, die Unnatur, die Barbarei der Kultur.
Die Naturgrazie der Polen und Italiener ist, tiefer taxiert, das Symptom ihrer vom Geiste unalteriert und unaffiziert gebliebenen Sinnlichkeit, ihrer kulturverschworenen Unwissenheit, ihrer ganz sinnlichen Naivetät und Eigenliebe: also ein europäischer, ein kulturhistorischer Skandal. Kultivierte christliche Nationen, die dem europäischen Staatenverband der Weltkultur angehören wollen, müssen aus dem ästhetischen Naturalismus, aus der tierischen Lebensunmittelbarkeit heraus in das intellektuelle Leben hinein; sie dürfen, sie können nicht so naiv und liebenswürdig, so harmlos und naturbequem bleiben, wie sich Italiener, Spanier und Polen darstellen. Wenn aber diese Paradiesaisance, D. h. diese paradiesische Ungezwungenheit. diese Grazie und Naivetät unsere reisenden deutschen Stubenliteraten oder die unästhetischen, schematisierten, bocksteifen Engländer entzückt, so ist das ein persönlicher Ergänzungsprozeß, aus dem man nichts für den absoluten Wert und das Verdienst jener Südländer erhärten kann. Der gelehrteste Professor schwört am eifrigsten auf die himmlische Grazie seiner Braut, bis ihn die Ehe belehrt, daß er sinnliche Listen, Praktiken und Dummheiten für Divination, Naivetät und Paradiesunschuld angesehen hat.
Erst muß der ganze Lebens- und Kulturprozeß ein vollständiger und richtiger werden, bevor von ästhetischen Formen die Rede sein kann. Unsere politischen Reformatoren haben uns mit schnöder Übertreibung unsere romantisch-poetischen, von innen heraus gebildeten ästhetischen Lebensarten zur politisch-sozialen Todsünde angerechnet; warum wollen sie denn also in Abrede stellen, daß die Südländer nicht eher einen sittlichen, wissenschaftlichen Grund und Boden, eine Geistesfreiheit gewinnen können, als bis sie von der Naturästhetik, von der Grazie und Naivetät durch einen Bruch zwischen Natur und Geist erlöst sein werden?
Nichts kann orientierender in der Würdigung der Nationen, nichts gewisser sein, als daß ein Volk mit entschieden ästhetischen Anlagen und solchen Entwicklungen ein verlornes Volk ist.
Die ästhetischen Anlagen entspringen aus einer lebhaften Phantasie und einem verfeinerten Naturalismus, der sich niemals gern einem sittlichen Schematismus und Rigorismus unterwirft oder mit Eifer und Sorge einer anstrengenden Arbeit unterzieht. Ästhetische, kunstliebende, graziöse, gesangs- und tanzlustige, naturell-liebenswürdige Individuen und Volksstämme haben niemals einen soliden Staat gebildet oder ihn unter den Wechselfällen des Geschicks behauptet.
Alle Tatsachen der Weltgeschichte wie des Zustandes der verschiedenen Völker und Staaten erhärten jene Wahrheit ohne Barmherzigkeit. Die kunstgebildeten alten Athener und die Italiener, die musikliebenden Polen und Böhmen, die phantasiereichen, romantischen Spanier sind politisch, sozial, kulturhistorisch zugrunde gegangen; und die unästhetischen, nüchternen, gesang- und kunstlosen Engländer bilden eine kompakte, lebens- und tatkräftige Nation. Sogar die barbarisch-geschmacklosen realistischen, jeder Kunst und Poesie baren Russen sind wenigstens arbeitsam, geschäftig und tierisch gesund. Die Grazie und kultivierte Ästhetik der Franzosen ist trotz ihrer natürlichen Rührigkeit und Geschäftigkeit der Wurm und die Speise der französischen Eitelkeit. Nur die Deutschen halten hier wie in allen Dingen die gesunde Mittelstraße ein: ihre Ästhetik ist von ihren sittlichen Grundsätzen und Gewohnheiten, von ihrer Wahrhaftigkeit gezügelt und beherrscht.
Die Ost- und Westpreußen haben sich an vielen Orten so derbe Umgangs- und Geschäftsformen konserviert, daß die Worte »grob« und »preußisch« im Volke oft für gleichbedeutend gelten; aber die Leute antworten auf den Vorwurf ihrer Derbheit sehr zutreffend: »Grob hält gut«. – Grobheit muß sich freilich auf ein gutes Recht gründen, Derbheit darf nicht letzter Zweck, nicht Absicht, muß Naturwüchsigkeit und Mittel zur Abwehr von Schwächlichkeiten und Affektationen sein.
Als Beispiel von westpreußischer Art, wie sie vor dreißig Jahren noch in den Mittelständen sehr gangbar war, kann folgender Zug dienen. Ein Reisender tritt in die Trinkstube eines Gewürzkrämers zu Marienwerder, wo die gewöhnlichen Stammgäste versammelt sind, und kommandiert im barschen Tone eine Flasche Porter. Der Wirt gießt den Porter ein und stellt das Glas höflich vor den Fremden hin; dieser aber ignoriert die ganze Dienstbeflissenheit des Aufwartenden, wie eines Menschen, der eben nur seine verfluchte Schuldigkeit zu tun die Ehre habe; und nachdem er mit übermütiger Nonchalance ein klein wenig von dem Getränk genippt hat, fragt er den noch zu seinen etwaigen ferneren Diensten vor ihm stehenden Mann mit einem maliziös vornehmen Air, was das Eingegossene eigentlich sein solle. Der Befragte nimmt nun, scheinbar wie zum Kosten, das Glas an den Mund, trinkt es aber ohne abzusetzen ganz gelassen aus, und indem er es mir solcher Gewalt auf den Tisch vor dem Fremden wieder zurückstellt, daß die Stücke umherfliegen, sagt er, den verdutzten Gast sehr ernsthaft fixierend, mit einer Stimme, aus welcher eventuelle Handgreiflichkeiten aufs deutlichste herauszuhören sind: »Das war Porter!« Worauf denn der impertinente Frager sich so ungesäumt als möglich entfernte, nachdem er noch, ohne ein Wort zu verlieren, sein Geld für das angezweifelte Getränk hingelegt hatte. Ein zweiter Reisender bemerkte zu dem Abenteuer, das wäre echt preußisch; und der Wirt replizierte phlegmatisch: »Ja!« Die Stammgäste waren aber mit Recht von dem derben Witz ihres Wirtes höchlich erbaut, und die Anekdote machte die Runde in Stadt und Land.
Es ist widerlich für den, der die Franzosen kennt, von der Artigkeit des gemeinen Mannes in Paris zu hören und diese Politesse z. B. mit der Derbheit des gemeinen Mannes in Pommern oder Ostpreußen in Parallele gestellt zu sehen. Der preußischen Volksbrutalität und Unschönheit, der platten Sprache, Flegelei und Dreistigkeit liegt viel weniger Barbarei als vielmehr eine angeborne Wahrhaftigkeit und Scham vor einem Herauswenden des innern idealen Lebens, dazu der Verstand zum Grunde, daß die Formen und Lebensarten der gebildeten Leute nicht zu dem derben Stoffe des Volkes und seiner Hantierung in Harmonie zu bringen sind.
Der gemeine Mann in Preußen und in Deutschland überhaupt hat aus seiner derben, aber tiefen, geraden und unverlognen Natur seine eigne Sitte, Philosophie und seinen Dialekt herausprozessiert, und er fühlt sich mit dieser Sitte und Sprache viel zu sehr als eine Person, um etwa durch äußerlich angenommene Redensarten und Manieren oder durch Kleider einen Gebildeten darstellen zu wollen. Er fühlt instinktmäßig die Notwendigkeit, auch den bloßen Schein einer Bildungsbeflissenheit zu meiden, die ihn als eine unselbständige, nichtsbedeutende, witzlose Personage verdächtigen könnte. Er weiß sich sogar mit seiner derben Natur und Wahrhaftigkeit, mit seiner Arbeit, Religiosität und Vätersitte den flachgebildeten Städtern überlegen; er schämt sich also, fein artig und gebildet wie die feinen Leute zu sein. Von solchen Fühlungen besitzt der Franzose nicht die Spur.
Daß mit der nordischen Gradheit, Derbheit und Charakterenergie nicht die Roheit und zynische Bestialität von Matrosen, Fischweibern und Sackträgern entschuldigt oder verschönert werden soll, versteht sich von selbst; umgekehrt aber sollen die deutschen Ethnographen und Ästhetiker endlich begreifen, daß weder die Kultur- noch die Naturgrazie ein Symptom und Zeugnis ehrenwerter Volkssitte sind.
Wir müssen uns die Welt auf weiten Reisen angesehen haben, um zu erkennen, daß nur in deutschen Landen eine bewußt christliche Sitte gefunden wird, die ebenso weit von dem Fanatismus der Spanier und Südfranzosen als von dem toleranten Unglauben der Pariser oder dem kindisch spielenden Aberglauben der Italiener entfernt ist.
Nur in Deutschland tritt uns eine sittliche Lebensordnung, und zwar ohne das listige Phlegma der Holländer, ohne die Pedanterie und grasse Asketik der Engländer, ohne den Frost und erstarrten Schematismus der Skandinavier, entgegen.
Nur den Deutschen aller Stände liegt die wissenschaftliche und die reinmenschliche Erziehung der Kinder am Herzen; nur der deutsche Jüngling hat Organ und Gewissen für die ideale Welt; hat begeisterte Sympathieen für Poesie und Philosophie und einen Respekt vor Theorie, System und Methode, der ihn zum Frommen der Wissenschaft und einer nobeln Lebensanschauung bis ins Alter begleitet. Nur in Deutschland ist die Lebenssitte ein Baum, der seine Nahrung nicht minder aus den himmlischen Elementen der Phantasie und Gottesfurcht als aus dem festen Erdreich der Arbeit und der Pflichtstrenge bezieht.
Die Deutschen und Engländer sind rationelle und praktische Landwirte zugleich, sind unvergleichliche Handwerker wie Mechaniker und doch Menschen, die eine Arbeitsehre, eine Gewerbsehre haben, von der man in Polen, in Italien und Spanien nicht einmal eine Vorstellung, besitzt.
Nur die deutschen Sitten, Künste und Wissenschaften zeigen gleichmäßig die ideellen und die reellen Lebensfaktoren auf; nur bei den Deutschen sind Religion und Sitte mit Poesie und Philosophie ineinsgebildet; nur im edeln deutschen Vaterlande gibt es einen symbolischen, einen elastischen, wachsenden, mit der Seele ineinsgebildeten Schematismus; gibt es vernunftveredelte Leidenschaften und einen vollbeseelten Verstand; nur in deutschen Landen entzücken uns milde, schöne, aus allen natürlichen und übernatürlichen Sympathieen zugleich hervorgegangene Sitten und Umgangsformen wie nirgend mehr in der Welt; nur in der deutschen Sitte finden wir eine Versöhnung von Natur und Geist, die aus dem Bruch der beiden Faktoren wie aus ihrer tiefsten Sonderentwicklung hervorgegangen ist.
Der Deutsche ist ein leidenschaftlicher Naturforscher und Philosoph, ein unvergleichlicher Ackerwirt und in Schwaben sehr oft ein bibelfester Theosoph; er ist ein Pfahlbürger, ein Hauswirt und Familienvater, mit einer Autorität und Würde bekleidet, von der man in andern Landen nur die Karikaturen antrifft, – und gleichwohl ein Welt- und Himmelsbürger, ein Mensch, der auf der ganzen Erde wie in der Heiligen Schrift zu Hause ist.
Wer einer deutschen Familie, einer deutschen Schule, Universität und Korporation angehört, wer ein deutsches Hauswesen, eine deutsche Landwirtschaft, ein deutsches Gewerbe mit deutschem Gesinde und deutschen Arbeitern betrieben hat, der leugnet mit gutem Grunde, daß es noch anderswo in der Welt ein wahres herziges Familienleben, daß es noch anderswo wissenschaftlich und rein human organisierte Volks- und Hochschulen, daß es auch in Italien, Spanien oder in Frankreich eine Hausordnung, eine Familienmahlzeit, ein ehrbares, pflichtgetreues, arbeitstüchtiges Gesinde, daß es im Auslande eine Gewerbs- und Arbeitsehre, ein praktisches Christentum gibt. Liegt in solchen Bekenntnissen eine Einseitigkeit und Ungerechtigkeit, so ist sie für unsere übertriebene Unparteilichkeit, Vielseitigkeit und Selbstverleugnung eine wahre Medizin.
(Aus der Schrift »Der Mensch und die Leute« von B. Goltz.) Berlin 1858, fünf Hefte. Das Zitat (bis S. 106, Z. 19) stammt, da und dort leise abgeändert, aus dem ersten Heft (»Die Großmächte und Mysterien im Menschenleben«, S. 140-145), doch ist der Abschnitt S. 104, Z. 23 bis S. 105, Z. 17 (»Die nüchternen Leute meinen«) ein erst hier beigefügter Einschub, die »Rezension von Michelets Buch über die Frauen« (das ja erst 1860 erschien; vgl. Anm. 2) ebenfalls.
»Die Franzosen, und ganz vorzüglich die Pariser, mit denen wir es doch im Grunde zu tun haben, schaffen ihre Kinder geschwind nach der Geburt aus dem Hause in ländliche Nähranstalten, dann in Institute, und begegnen ihnen erst im salonreifen Alter wieder. Dann freilich liegt es sehr nahe, den Zweck der Ehe nur im ehelichen Leben und nicht so in der Kindererziehung zu suchen, und was soll wohl den jungen Mann zur Ehe bewegen und von seinem ›polygamischen Wandel‹ abziehen, wenn er, der nie das elterliche Haus gekannt, häusliches Glück in der Ehe nicht, sondern eben nur die eheliche Genossenschaft sucht? Von dem Glück des Briten, der im ›Parlour‹ unter seiner Familie die Füße nach dem hellodernden Kamin streckt, von der stillen Freude deutscher Familien, die ihren Christbaum zieren, hat der Franzose keinen Schimmer; im Gegenteil schildert uns Michelet mit außerordentlicher Treue eine jammernswerte Szene, wo eine Mutter zum Besuch des Söhnchens in das Institut eilt, der Bube dann zerstreut erscheint und – da es gerade Feierstunde ist – mit halbem Ohr auf die Spiele seiner Kameraden im Freien horcht, um die er durch die Visite der fremden Mama verkürzt zu werden fürchtet. – Er hat recht, was ist ihm Hekuba? Besser keine Mutter zu haben, als eine, die sich nur zu Schaltzeiten um ihre Frucht bekümmert und den Knaben von seinen Kameraden abzieht, die seine Familie bilden!«
Eine Rezension von Michelets Buch über die Frauen Gemeint ist Jules Michelets (1798-1874) Werk » La femme« (Paris 1860). im »Auslande«.
Es kommt eine Zeit für uns alle, wo wir, der Welt und des Weltverstandes müde, von den Erinnerungen der Kindheit und des Elternhauses leben; wehe dann dem alten Menschen, der keine Mutter hatte, die ihm die Anfänge seines Daseins zum Kinderparadies und Heiligtum geweiht hat!
Man vergißt in den spätern Lebensjahren alles, man erleichtert den Geist von dem Wust des Gelernten und des profan Erlebten, um gesäubert sich in die heiligen süßen Zeiten zu versenken, wo Mutterliebe unsere Schritte behütete und der Himmel auf Erden war. Was uns eine gute und fromme Mutter gelehrt, was sie durch ihr Beispiel, ihre stillen Tugenden, ihre liebenden und strafenden Gebärden, durch ihre Worte und Werke dem Kinderherzen eingeprägt hat, das gräbt sich ihm wie ein Evangelium immer tiefer ein, das bildet bei gefühlvollen Menschen den Grund und Boden ihres Gewissens, ihrer Lebensarten, ihres Gemütes; das verschmilzt mit der Heiligen Schrift zu einer Religion, die nichts Späteres, nichts Fremdartiges und Unreines in ihrem Schoße leidet, sondern, einem Gletscher ähnlich, das herausscheidet, was zufällig hineingefallen ist. So werden die Mütter, ohne daß sie es wollen und wissen, die Begründer der Grundanschauungen, der Neigungen, der Biographieen; so bilden sie in der Weise einen Faktor des Staats, wie Natur und Seele eine Hälfte des Menschen ausmachen. Wenn es Muttersöhnchen gibt, die so viel Muttermilch und Mutterliebe getrunken haben, daß sie, zeitlebens davon berauscht, nicht zur Klarheit des Geistes und derjenigen Begriffe wie Tugenden kommen, die allein der Geist geben kann; wenn es wahr ist, daß ein von der Welt abgeschiedenes Familienleben, daß eine nur auf Autorität und Pietät gebaute, nur aus individuellen und seelischen Wurzeln hervorgewachsene Bildung leicht ein Hindernis für den Staats- und Weltbürger werden kann, daß ein Mensch, der sein Herz, sein Leben, seine Gewohnheiten nicht verleugnen kann, nimmermehr Rechtsverhältnisse, Rechtsgrundsätze und den Mechanismus des Staats begreifen oder sich der Mathematik des Geisterlebens fügen lernt, in welcher allein ein Weltleben und eine Geschichte der Menschheit möglich wird; wenn es wahr ist, daß der Staat nicht als das erweiterte Familienleben konstruiert werden darf, sondern als Vernunftprinzip den weltnotwendigen Gegensatz zum Familienleben bildet: so ändert dies nichts in der heiligen Wahrheit, daß jeder Staat in den Familien seine Natur und Seele, daß er in ihnen seine Wurzeln und Herzpulse haben muß; daß ein Staat nur so viel wert sein, nur so viel Lebenskraft haben kann als die Menschen, aus denen er besteht; und daß man ganz unmöglich eine lebendig prozessierende Welt- und Gottesgeschichte oder nur eine Naturgeschichte aus Staaten erzeugen kann, deren Individuen diejenige Herzensbildung gebricht, die in einem tiefen Familienleben begründet wird.
Der Mensch hat nun einmal eine Enge, wie eine Weite; er ist eine Person, er besitzt ein Herz; und was sich nicht auf dem Angelpunkte dieses Schwerpunktes der Persönlichkeit bewegt, das bewegt sich auch nicht um die Welt. Es muß unendlich viel kleine Welten in der großen Welt, und es muß ebenso viele natürliche Heiligtümer geben, wenn der sinnlich beschränkte Mensch das große Weltheiligtum fassen, wenn er in dem nach mechanischen und mathematischen Verstandesgesetzen konstruierten Staate noch einen Anhaltspunkt für sein Herz und sein persönliches Leben finden soll. Man zieht einen Fruchtbaum erst in der Baumschule, bevor man ihn in den Garten oder an die Landstraße bringt. Wie darf man also einen Menschen ohne Vorbereitung in der weiten, kalten und mathematischen Welt erziehen! Es ist freilich eine irrtümliche Vorstellung, daß die Eiche in der Eichel entwickelt liegt; denn der Baum und jedes lebendige Ding entwickelt sich nicht nur, sondern nimmt auch von außen zu; wächst nicht nur, sondern wird auch mechanisch zusammengefügt. Also auch nimmt der Mensch von außen zu und ist nicht ausschließlich ein Gebilde seiner Seele und seiner Persönlichkeit; aber ebenso unmöglich darf man sich eine Menschenbildung und -geschichte ohne den Keim des Herzens denken, als ein Herz, das nur von seinem Blute und von nichts anderem groß wächst.
So viel ist gewiß: alle Herzen, alle Mütter und Familien der Welt geben ohne den vernünftigen und transzendenten Geist, der sich auf Augenblicke von Sinnlichkeit, Seele und Materie losmacht, keine Geschichte der Menschheit und keinen Staat; aber ohne gebildete Herzen, ohne Seelen, die mit der Naturgeschichte und durch Divination mit Himmel und Erde zusammenhängen, gibt es keinen konkreten, keinen lebendigen Staat, um dessentwillen das Opfer auch nur eines Menschenherzens vor dem Schöpfer und der Natur gerechtfertigt wäre. Die Gesetze des Staats sind nicht die des Herzens und der Familie; aber es sind doch Gesetze, in welchen der Anfang zu derjenigen Selbstverleugnung gemacht wird, welche das Leben in der Gesellschaft später vom Menschen verlangt. Wer aber die Vorstufen übersprungen hat, kann unmöglich fest im letzten Stadio stehen. Ohne Keime gibt's keine Wurzeln, und ohne sie weder Wipfel noch Stamm. Ohne Pfahlbürgerschaft gibt's nur eine hohle Weltbürgerschaft, und ein Kommunist, ein Sozialist und Staatsbürger ohne Familienheiligtum, ohne Heimat und Vaterland, ohne Heimweh und Herzenserinnerungen aus der Kindheit ist ein Automat, aber kein deutscher Mensch.
Ein natürlicher Mensch wächst und bildet sich wie ein Baum. Ring legt sich um Ring, und mit jedem verdichtet und verharzt sich der innerste Kern. Wer nicht einen festen Herzkern aufzeigt, besitzt auch keine gefestigte Peripherie; wer nicht um seine eigne Achse rotiert, hat auch keine Bewegung um den Himmel; wer nicht natürlich ist, kann nicht übernatürlich sein; und wer nicht in einem engen Kreise, in einer festen Heimat, in einem Elternhause für die weite Welt vorgebildet wurde, bleibt ein mathematischer, ein unbeseelter Verstandesmensch, er sei, er arbeite und leiste, was er wolle.
Wenn wir Deutschen in der Einsamkeit erzogen werden, so kann freilich das warme Lerchennest des Familienlebens und einer Mutterliebe, die in Verhätschelung ausartet, diejenigen Miseren erzeugen, um derentwillen wir mit Recht verspottet sind. Die Dörfler leiden aber nicht an Sentimentalität, und die verwöhnten Söhne von Landpfarrern oder Oberförstern und kleinen Gutsbesitzern gehen rasch zu Grunde, wenn sie nicht von der Welt noch rascher rektifiziert werden. In den Städten sind die Reibungen auf der Schule das wirksamste Gegengift für die Schwächlichkeiten und Überwucherungen, welche das isolierte Familienleben erzeugt; wo es fehlt oder nicht vertieft genug ist, um dem Weltleben das Gegengewicht zu halten, da artet die Verstandesbildung in einen Schematismus aus, in welchem die Gemütsanlagen zugrunde gehen.
Das Familienleben, die Mutterliebe, die Erziehung im elterlichen Hause bleibt die Pflanzstätte für den Kern der deutschen Natur. Im Familienleben ist es, wo das Seelenleben mit dem Verstande versöhnt, zu konkreten Tugenden, zu einem Herzenswitz ausgebildet wird, bis sich aus Herzensgewohnheiten und Energieen ein Gemüt konsolidiert. Die Radikalsten befürchten zwar, daß unser Familienleben dem Gemeinsinn, daß der deutsche Idealismus dem deutschen Rechtssinn, dem Respekt vor der Wirklichkeit, und daß die entwickelte Persönlichkeit dem sittlichen Schematismus, welcher den Staat zusammenhält, zu viel Abbruch tun könnte; daß dies aber nicht geschieht, dafür sorgen die Assoziationen, die politischen, die nationalökonomischen, die sozialen Lehren wie Bestrebungen der Gegenwart, am gründlichsten aber die Prosa der Zeit und die moderne Phantasie, die ihren Bankrutt durch den Rokokostil des Amöblements, durch die Barockverzierungen der Luxusgerätschaften auf eine fast tragikomische Weise zu maskieren sucht.
Die nüchternen Leute meinen: es gibt ja Rechenmaschinen, warum soll es nicht nützliche Staats- und Weltbürger, Techniker, Mechaniker, materialistische Naturforscher, Fabrikanten, Ökonomen und Geschäftsmenschen ohne Seele und Familienerziehung geben? Es mögen Franzosen und Amerikaner sein, aber richtige deutsche Gemütsmenschen sind sie nimmermehr; trotz ihres deutschen Taufscheins sind sie nicht deutsch. Im deutschen Familienleben, in der Erziehung des deutschen Hauses liegt die Erklärung für alle Erscheinungen und Eigenschaften am deutschen Menschen, welche ihm in der neuesten Zeit von widernatürlichen Deutschen zum beschimpfenden Vorwurf gemacht worden sind. Seine Mängel beweisen zugleich seine Tugenden, seine Nationalschwächen bestehen in seinen Herzensenergieen, und sein Familienglück wiegt bis zum heutigen Tage überreichlich sein politisches Unglück und Sündenregister auf. Bei den Deutschen wurzelt das Leben zu tief in der Familie, in der Natur und Religion, in der tiefsten Wissenschaft und Kunst, als daß sie mit ganzer Seele und ganzem Verstande Kommunisten, Sozialisten, Staatspolitiker und Kosmopoliten werden könnten, als daß sie einen französischen Enthusiasmus für die Nationalität, für deren förmliche Proklamation und Ostentation aufbringen könnten. Will man diese Tatsache im Ernste abstellen und mit irgend einem Musternationalstolz vertauscht haben, so muß man dem Deutschen verbieten, ein deutscher Geniemensch, ein Normalmensch zu sein.
Die Familien sind die Fleischwärzchen des deutschen Staates, und das deutsche Volk hat nur die Wahl, ob es eine Staatsgeschichte ohne Fleisch, von modernem Gas aufgeblasen, oder ob es einen in Fleisch und Bein gewachsenen, wenn auch ungelenken und ungeheuerlichen Staatskörper behalten will, dem so viel Herzblut nach dem Kopfe steigt, daß er mitunter taumlich und konfuse wird und im ersten Anlauf nicht klar weiß, wie er die Glieder gebrauchen, oder nach welchem Ziel er sich dirigieren soll. So einen ungeschlachten »Brobdignak« Brobdingnag (Brobdingnac), das Land der Riesen in »Gullivers Reisen« von Jonathan Swift. wie den deutschen Menschen können die fingerfertigen Liliputaner wohl, wenn er schlaftrunken ist, mit ihrem politischen Zwirn umgarnen, festnageln und kitzeln; wenn er sich dann aber den Schlaf aus den Augen wischt, reißt er den ganzen Kram entzwei, wie er im Teutoburger Walde, in der Reformation und in dem Freiheitskriege gegen Frankreich bewiesen hat.
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Literatur, Politik und Öffentlichkeit absorbieren heute auch bei den Deutschen das Familienleben mehr, als mit den deutschen Gemütsanlagen und ihrem naturnotwendigen Entwickelungsprozeß verträglich ist.
Ein fester Körper ist nur ein solcher, wenn seine kleinsten Teilchen fest und körnig sind. Wer also nicht bereits in der Familie eine feste Grundlage, Sitte, Liebe, Gewohnheit, Pietät und Persönlichkeit gewinnt, der erhält diese festen Faktoren nirgend. Es ist eben unsere Unkultur, daß niemand sich begnügt, seine Individualität auszuleben, sondern daß er sich zu einem Phantom von Bildung aufbläst, welchem Fleisch und Blut, geschweige Herz und Eingeweide fehlen müssen. Die Welt wird nie schlecht bestellt sein, solange sie aus tapfern ehrlichen Herzen und beschränkten Charakteren besteht; denn Recht und Witz haben ihren letzten Grund in der Lebenskraft, und die Kraft kommt nur aus einem veredelten Herzen als der konzentrierten Individualität. Eine Schulvernünftigkeit, die nicht meinem Herzen eingefleischt wird, ist eben nicht meine leibeigne, ist keine konkrete Vernunft und Berechtigung, und am wenigsten mein Witz.