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Trier, 24. Brumaire J. VIII. (15. November 1799).
Ich bin in Trier munter und wohl, wie ich es in meiner Lage sein kann; um mich her Glockengeläute, Kanonendonner und Trompetenschall, und doch wissen die Leute nicht, was sie bejubeln, und ob sie nicht einmal vor Ärger und Unmut über ihre gegenwärtige Einfalt weinen werden. – Wir hatten einen kleinen Unfall unterwegs: wurden umgeworfen, und ich bekam einen derben Stoß, aber ohne weitere Folgen.
Und nun, meine Liebe, wie steht es um Dich? Dein Versprechen, das Du mir vor meiner Abreise so ernstlich abgelegt, wirst Du erfüllen, daran zweifle ich nicht. Ich mag Dir nicht noch einmal sagen: erheitere Dich und sei ruhig, ich habe Dir es schon so oft und von Herzen gesagt, daß ich Deinem Herzen nicht die Beleidigung antun mag, es noch einmal zu sagen. Der Wagen erwartet mich, und ich muß schließen; ich umarme Dich von ganzem Herzen, oh, daß Du so ferne von mir bist und bald noch ferner von mir kommen wirst! Lebe wohl, recht wohl.
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Trier, 25. Brumaire J. VIII. (16. November 1799).
Noch immer bin ich hier, aber morgen früh geht es fort ins Land der Helden und der Schwächlinge, der stolzesten Republikaner und der verworfensten Sklaven, der großen Republik und des kleinen Volkes. Hier an der Pforte habe ich schon so manchen Blick ins Innere getan, der mich mit Staunen und Unwillen erfüllte; was wird mir erst dann bevorstehen, wenn ich mich nun auf einmal mitten in den großen Menschenknäuel versetzt sehe, wo die Leute, mit Krallen, Nägeln und Zähnen ineinandergeklammert und -gebissen, sich in einer Rubensschen Gruppe herumtreiben und das bunteste Schauspiel gewähren müssen, das nur irgend unter dem Monde geboten werden kann ...
Liebe, verkümmere Dir die Tage meiner Abwesenheit nicht durch selbstgeschaffene schwarze Phantasien; ach, weine ja nicht, wie Du die Tage vor meiner Abreise tatest. Siehe, so fern ich von Dir bin, eine innere Ahnung würde es mir jedesmal sagen, wenn Du weinst, und das würde mein Gefühl schmerzlich treffen und mir das bißchen Heiterkeit noch vollends benehmen, was mir bei den gegenwärtigen Ereignissen noch übrig ist. Ich habe schon die Tage her so manche Ahnungen gehabt, die Hand aufs Herz, waren dies nur Visionen? Von übermorgen an werde ich noch aufmerksamer sein und jedesmal eine Note in mein Tagebuch machen, und wenn ich dann zurückkomme, dann werden wir schwere, schwere Rechnung miteinander halten.
Ich denke, Sophie BrentanoÄltere Schwester von Klemens Brentano wird nun wohl in einigen Tagen ankommen, und dann hast Du doch ein Wesen, mit dem Du Deine Gefühle ohne Rückhalt teilen kannst, das Dich begreift und Dir wiedergibt. Darum freute ich mich über ihren Entschluß nicht minder wie Du, mache nur, daß Euer altes Verhältnis, das ein wenig erkaltet zu sein schien, ganz wieder hergestellt werde. Ich kenne den Wert der Freundschaft, wer wollte ohne sie leben? Sie ist schätzbar, wenn sie Freuden, unschätzbar, wenn sie Leiden mit uns teilt. Lange hat sie mein Herz ganz ausgefüllt, Liebe hat nun auch ihre Stelle darin eingenommen, aber beide verdrängen sich nicht, sie durchdringen sich und können in dem nämlichen Raume beieinander bestehen. Nur der hat Sinn für Liebe, der welchen für Freundschaft hat; der Kalte, Frostige in dieser wird nie mit ganzer Seele lieben können, welch ein Unglück!
Deswegen muß Deine Freundin auch mich interessieren. Grüße sie, wenn sie angekommen sein wird.
Ein sonderbar Ding um Liebe und Lieben. Da stehe ich so manchmal am Ufer der Mosel in einer Gegend, die ganz trefflich mit den pittoreskesten Aussichten und wahren Schweizerpartien sich dahinzieht, und folge mit meinen Augen dem Laufe der Mosel und berechne, wann die Welle, die jetzt an mir vorbeispielt, bei Dir sein möchte. Ich blicke nach der Gegend des Himmels, wo Koblenz liegt, und folge dem Laufe der Wolken, bis sie sich hinter den Bergen verstecken. Dann bleibt mein Auge zurück, aber meine Seele geleitet sie weiter, bis sie über meiner lieben Vaterstadt ankommen, und dann sehe ich Dich von der Höhe herab im Gartenhaus mit Mignon beschäftigt oder am Stickrahmen, und dann freue ich mich herzlich, Dich wiederzusehen, und will Dir erzählen, was alles unterdessen vorgegangen ist; und dann erwache ich und finde mich auf einmal weit, weit von Dir, im Begriffe, noch weiter, viel weiter von Dir wegzurücken. Ich sehe dann nicht mehr rückwärts, nur vorwärts, und da sehe ich dann bald das Ziel, von dem das vorwärts zum Rückwärts wird. Es wird spät, ich muß von Dir scheiden. Lebe wohl und gedenke mein. Im Augenblicke, wo Du das Gegenwärtige erhältst, bin ich in Metz. Grüße mir Deine gute Mutter und alles um Dich her.
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Paris, 6. Frimaire VIII. (27. November 1799).
Erst sechs Tage bin ich hier und schon gesättigt bis zum Überdrusse mit all den Herrlichkeiten dieses mit Blumen überwachsenen Sumpfes. Das sind meine Menschen nicht, die hier ihr buntes Charivari treiben, da ist keine Saite meines Wesens, die mit dem ihrigen zusammen tönte; mögen sie besser sein als ich, ich mag sie nicht. Und doch kann ich nicht einsam sein: wer kann das in diesem Menschenmeere, das immer wogt und flutet und tobt! Der entsetzliche Lärm vom Morgen bis zum Abend, das widrigste Gekreische der Savoyarden, der Zeitungsträger, der Fischweiber, der Obsthändler, das Rollen der tausend Fiaker und Kabrioletts, die von allen Seiten die Straßen durchkreuzen, das dumpfe Sumsen der gedrängten Volkshaufen, die nie abnehmen und doch immer wechseln, ihre Form ändern und wieder herstellen: das alles gibt ein wüstes Getön, das mich betäubt und verdummt. Dabei ist's Winter, die Natur tot, und ein dicker Nebel schwebt die ganze Zeit unseres Hierseins unausgesetzt um uns. Alle die prächtigen Gebäude, alle die hier zusammengekauften Schätze des Luxus und der Mode, alle Schauspiele, Bälle, Vaurhalls, Konzerte, Gespenstererscheinungen und was sonst die raffinierteste Freude aus ihrem Füllhorn darbietet: alles das vermag nicht die große, große Leere in meinem Herzen auszufüllen, die durch meine Entfernung von allem, was ich liebe, entstanden ist. Ich fühlte diese Leere schon neulich im Gefängnisse und schrieb sie damals dem gänzlichen Mangel an Objekten zu, die mit einiger Lebhaftigkeit meine Phantasie beschäftigen konnten; aber nun, wo dieser Objekte so viele sind, wo so ungeheuer viele neue Eindrücke auf mich zuströmen, und wo doch diese Lehre unverändert fortdauert, nun begreife ich mich erst ganz und weiß, was sie auf einmal verschwinden machen könnte. Wärest Du bei mir im Gefängnisse gewesen, dann wäre ich zwischen den nackten Wänden reicher und vollherziger gewesen als jetzt in der neuen Welt von Gegenständen, die mich umgibt. Ach, wie manchmal habe ich mich an die Ufer unseres lieben Rheins zurückgesehnt, aber ich habe dies Gefühl unterdrückt, weil ich ihm nicht nachhängen durfte. Nur eine Schadloshaltung habe ich, und das sind die hier aufgehäuften Kunstschätze; an ihnen erhole ich mich für meine übrigen Entsagungen; aber ich weiß nicht, wie ich bin, von der andern Seite tragen sie auch wieder dazu bei, mich noch mehr zu verstimmen. Es gab eine Zeit, wo ich die Menschen auch in moralischer Hinsicht für wahre Antiken, für mehr oder weniger vollendete Ideale, ansah; diese glücklichen Tage der Täuschung sind längst vorüber. Allein jetzt muß ich auch mit einem höchst widrigen Gefühle mich überzeugen, wie so gar tief sie auch in physischer Hinsicht unter dem Ideale der höchsten Schönheit, das ich bisher nicht kannte, stehen. Wenn Du bei mir wärest und mit mir genießen könntest, was ich allein nur halb genieße, wir würden dann diese Bilder mit ebenso vollkommenen Geistern beleben und nun eine Welt um uns schaffen, worin alles gut wäre und nichts bös; worin jeder das wäre, was er sein müßte, und keiner durch seine Unarten den andern peinigte. Da müßten sich dann die Menschen hier schämen, darunter umherzugeben, und auch besser werden. Ja, diese Menschen, welch ein Abstich gegen diese reinen Formen! Egoismus ist ihr Abgott, Intrigen ihr einziges Dichten und Trachten, Jagd und Vergnügen ihre einzige Beschäftigung. Republikanern sind sie so unähnlich wie der schmutzigste Savoyarde dem Apoll vom Belvedere. Mir ist gar nicht wohl unter ihnen ...
Über die Pariserinnen magst Du wohl wünschen, meine Bemerkungen zu hören. Wenn ich Dir sage, sie sind noch immer so, wie St. Preux sie in der Heloïse beschreibt, dann wirst Du einen ganz anschaulichen Begriff von ihnen haben. In den Provinzen hat das weibliche Geschlecht in den untern Klassen einen Nationalausdruck in der Physiognomie, der, wegen seiner schneidenden Härte und Wildheit möchte ich sagen, äußerst widrig affiziert und zurückstößt. Dieser Zug liegt auch immer noch in den hiesigen Mädchen aus den höhern Ständen zum Grunde, allein gemäßigt durch die höhere Bildung. Doch gelingt es bei weitem den wenigsten, diese Milderung bis zur wahren weiblichen Sanftheit zu bringen; bei den meisten schwebt der Ausdruck als unbefangenes, losgebundenes, mutwilliges Selbstgefühl um die Grenze der Weiblichkeit und übersteigt sie nicht selten. Ein großes, lebhaftes, geistvolles Auge und einen schönen schlanken Wuchs haben sie alle miteinander gemein. Ihre Gewandtheit ist ungemein, da schweben sie über das hiesige schlüpfrige Steinpflaster mit einer Schnelligkeit und einer Leichtigkeit, daß sie kaum den Boden zu berühren scheinen und dabei keinen Fuß beschmutzen. Eigentlich schöne Mädchen oder vielmehr Weiber, denn Mädchen habe ich noch keine gesehen, sind mir noch nicht vorgekommen, jedoch hübsche eine Menge, aber dafür auch eine unverhältnismäßig größere Anzahl häßlicher als bei uns. Besonders sagt man den Pariserinnen nach, daß sie die häßlichsten von ganz Frankreich seien, und daß alles, was sich Schönes hier befinde, aus den Provinzen herzugeströmt sei. Herrschsucht, listige Verschlagenheit, Intrigengeist und Koketterie sind die Hauptzüge in diesen Neugriechinnen. Überall sind sie im Spiele, überall geben sie den Ton an, die wichtigsten Begebenheiten werden noch immer von ihnen gelenkt. Geist, Witz und leichtes Auffassen der richtigen Seite an den Gegenständen blicken dabei von allen Seiten hindurch. An Freundschaft und Herzlichkeit bei ihren Verhältnissen untereinander ist gar nicht zu denken; isoliert für sich, schafft jede unter ihnen sich einen eignen Wirkungskreis unter den Männern und sucht nun dort so sehr zu glänzen, als sie kann ...
Urteile nun selbst, Liebe, wie ich hier zu Hause bin, ob mir wohl ist in dieser ganz fremden Welt. So manchmal steigt Dein Bild in mir auf, ich hatte mich darauf gefreut, unter den hiesigen Mädchen Ähnlichkeiten mit Dir aufzusuchen und in ihnen wenigstens in einzelnen Zügen Dich wiederzufinden, aber ich finde keine unter ihnen und mag sie auch gar nicht unter ihnen aufsuchen. Morgen gehe ich ins Museum, dort will ich sehen, ob einem der dortigen Meisterwerke weiblicher Bildung und weiblichen Ausdrucks ein paar Züge der Deinigen abzugewinnen sind. Dann will ich alle Tage zu ihm hin wallfahrten und mich zu Dir zurückträumen und mit Dir sprechen und wenigstens eine Stunde alle Tage um Dich sein. Du wirst mich verstehen, nicht wahr! wenn Du schon so ferne von mir bist, und mir antworten, und das werde ich auch verstehen; nur in unserm Kopfe existiert Raum und Zeit, fürs Herz gibt es keinen Raum und keine Zeit. Liebende sind in der größten Entfernung noch immer beieinander, und Jahrhunderte vermögen sie nicht zu trennen ...
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Paris, 16. Frimaire J. VIII. (7. Dezember 1799).
Liebes Kind!
Siehe, so will ich Dich einmal nennen, mein Kind sollst Du werden, denn ich bin alt geworden, alt und bis an den Scheitel hin voll Erfahrungen. Ich werde zurückkommen mit einem silbernen Kopfe und einem weißen Barte und werde an einem Stabe dahinschleichen; nicht mehr wie bisher aller Welt ins Gesicht sehen und jedem, der mich zu hudeln Lust hat, Trotz bieten und aller Welt die Wahrheit ins Gesicht sagen; das werde ich alles nicht mehr.
Ich werde mich schmiegen und biegen, den Mächtigen die Füße lecken und dazu wedeln und mich zum Echo von jedem Dummkopfe und zum Hohlspiegel von jedem Kleingeiste machen und dem Rechtschaffenen, der an mir vorübergeht, ins Gesicht spucken und ihm sagen: Gehe hin, ich kenne dich nicht! und werde um ein Amt betteln und dem Vergeber mein Gewissen vermäkeln und ihm meine Grundsätze noch obendrein in den Kauf geben, und wenn ich das Amt habe, dann will ich mich in den Großvaterstuhl setzen, und dann soll mein Kind mich füttern und mästen, bis ich so fett geworden bin, daß ich meine Stelle ganz ausfülle wie eine Schnecke ihr Haus und mir sie kein Mensch mehr nehmen kann, ohne sie zu zerschlagen. Und dann will ich eine Herberge anlegen für alle Gauner und Spitzbuben und Gelage geben und zechen mit ihnen, bis sie mich zum Hohenpriester machen, und dann will ich stehlen, bis ich nicht mehr kann, und sterben reich und des Raubens satt. Und Du sollst auch haben, was ich habe, und werden, was ich bin, speckfett sollst Du werden und nicht wissen, wohin mit all den Schätzen und Flüchen, die sich über mir häufen, wie gefällst Du Dir in diesem Bilde? Es ist keine Madonna und kein Seraph, aber ein Mensch, der zu leben weiß, der sein Handwerk versteht, und mit dem man umgehen kann. Also freue Dich immerhin auf meine Metamorphose, wenn ich Dir nicht besser darin gefalle, so werde ich es doch vielen, vielen anderen.
Ich kann wieder scherzen, meine trübe Laune muß also vorüber sein, denkst Du: das ist sie auch. Aber ich bin ins Ankleidezimmer geraten und habe da die Menschen sich bemalen und sich putzen gesehen und habe mich geärgert, allein jetzt male und putze ich mit und lache dann hinterher der Harlekins. Das ist wahr, der muß einen guten Fond Lebenskraft mitbringen, der nicht in Fäulnis geraten will in dem stinkenden Pfuhle.
Ich habe viel gesehen, viele, sehr viele Genüsse gehabt. Neulich war ich bei den Antiken; sie sind noch nicht öffentlich aufgestellt, also nur durch Vergünstigung sah ich sie; was ich dabei empfand, will ich Dir nicht schriftlich dahinpfuschen, ich will es Dir sagen, wenn wir uns wiedersehen. Vollkommeneres in seiner Art ist mir noch nie was vorgekommen, nie was, das mich so ganz hingerissen hätte. Ich habe unter ihnen auch Dich gefunden, nur ein paar Züge, aber das war hinreichend, um mich daran zu fesseln. Aber was es war, das sage ich Dir nicht, rate einmal, und raten mußt Du es, ich sage Dir's nicht. Aber ach, ich kann nicht mehr dazu kommen, wenigstens vor meiner Abreise nicht, und da ist's ärger als zuvor. Ich war auch in der Gemäldegalerie, aber da ist des Naschwerkes so viel, daß man sich verdirbt. Raffael hatte einen göttlichen Sinn. Auch die weltberühmte Große Oper habe ich gesehen, aber mein armes Ohr ward zerfetzt zum Erbarmen. Ich kroch in meinen Nachbarn hinein, um das entsetzliche Gekreische nur nicht zu hören. Diese Ejakulationen, Konvulsionen, Extorsionen, das wütige, unharmonische, mensurwidrige und tonlose Brüllen geht über alle Begriffe, mir ist es schlechterdings ein Rätsel, wie es die Lungen dieser Sänger nur ein Jahr aushalten. Das ist ein Schnaufen, Wüten, Toben, daß einem der Angstschweiß ausbricht, und je unnatürlicher, unsinniger, das Ohr zerreißender der Schauspieler sich gebärdet und der Sänger und die Sängerin singt, desto lauter ist das Beifallklatschen des Publikums. Es ist durchaus unbegreiflich, wie ein ganzes Volk so wenig Ohr haben kann. Dagegen dem Tanze gestehe ich unbedingt den Preis zu; solch eine Grazie, solch eine gefällige Anmut in Stellung, Wendung und Bewegung, solch ein leichtes sylphenmäßiges Schweben in den Tänzen, solch eine schöne leichte, reizende Anordnung in den Gruppen kannst Du Dir nicht vorstellen, es übertrifft alle meine Erwartung.
Auch auf dem Balle war ich und habe mein Urteil über die Französinnen bestätigt gefunden ...
Aber siehe, Liebe, schon sechsundzwanzig Tage bin ich von Dir weg und habe noch keine Silbe von Dir gehört, und zürnen kann ich denn doch nicht über Dich, denn Du kannst Dich damit entschuldigen, daß Du nicht gewußt, ob die Briefe mir sicher zukommen; nur zürnen muß ich dem Schicksal, das mich so lange von Dir entfernt hält. Ich habe Dir selbst geschrieben in dieser Zeit, das war etwas, aber nicht alles, und bitten mag ich Dich jetzt auch nicht, mir bald, bald zu schreiben; denn, wenn ich wüßte, daß ich in der Zeit, bis Du diesen Brief erhältst und ich die Antwort bekomme, nichts von Dir hörte, dann würde ich Dich nicht bitten. Noch kann ich Dir leider die Zeit meiner Abreise von hier nicht bestimmen, das Maximum meines hiesigen Aufenthaltes aber ist, wenn nicht außerordentliche Umstände ihn verlängern, noch vier Dekaden.
Man wird Dir die Zeit über viel davon vorgeschwatzt haben, man sähe, wo jetzt die sogenannten Grundsätze die Sprudelköpfe hingeführt hätten, die Frucht der ganzen Revolution sei jetzt einigen wenigen zum Nutzen anheimgefallen, so würde es zu allen Zeiten sein und die Menschen nie besser werden. Aber lasse Du Dich nicht irremachen, gebe nie den Glauben an die Menschheit auf. Und nun lebe wohl, und halte mich lieb, recht lieb, und sorge für Deine Gesundheit.
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Paris, 10. Pluviose (30. Jan. 1800).
Ich habe heute nacht geträumt, oh, einen traurigen Traum. Liebe, höre! Ich kam die Treppe des Louvres hinunter, und als ich aufsah, standest Du und FranzKatharinas Bruder vor mir. Staunend und sprachlos vor Freude stürzte ich auf Dich zu, um Dich nach so langer Trennung wieder an meine Brust zu drücken; da wandtest Du Dich unwillig von mir und wichst meiner Umarmung aus. Betrübt frug Dich mein Auge: was das sei? Ein Blick war Deine Antwort, ein Blick, der mir in die Seele drang: Schmerz, Unwille, Kummer, Vorwurf und Klage, alles lag in einem Blick; ich sank auf die Stufen der Treppe, und als ich meine Besinnung wiedererhielt, warst Du verschwunden, und ich erwachte, was war das, dieser Traum, war es eine Warnung meines Schutzgeistes? Die Seele voll von Gedanken an Dich, unruhig, daß ich so gar nichts von Dir hörte, mitten im Genusse meiner Erinnerungen vergangener besserer Tage, die ich zu meinem Troste und zur Nahrung meines verödeten Herzens mit der nämlichen Sorgfalt wie jedes andere Andenken an Dich aufbewahre, war ich eingeschlafen; was konnte es sein, was meiner Phantasie gerade diese Richtung gab? Ist es denn wahr, zürnst Du mir wirklich? Sind Besorgnisse und Unmut wirklich in Deinem Herzen aufgestiegen? Ach, ich bin ja schuldlos, nichts, nicht das mindeste ist, was ich mir zum Vorwurf gegen dich machen könnte. Aber nein, gewiß nein, Du zürnst mir nicht, Du kennst mein Herz, kennst die Unwandelbarkeit, die Innigkeit meiner Liebe, kennst das warme, unzerstörbare Gefühl, das ich für Dich in mir trage; daß ich nie heuchle, nie Empfindungen lüge, die mein Herz nicht kennt; daß ich unfähig bin, ein Wesen, das sich mir hingibt, auch nur durch den leisesten Anflug einer künstlichen Schminke zu hintergehen. Du kennst meine Handlungsweise im bürgerlichen Leben, kennst meinen Charakter mehr als irgendein anderer Mensch auf der Erde. O nein, in Dein Herz kann kein Mißtrauen Eingang finden, Du zürnst mir nicht. Antworte, oh, antworte mir, ich werde den quälenden Gedanken nicht los, immer verfolgt mich Dein Bild, wie ich es im Traume sah, immer sehe ich diesen Blick, beinahe kann ich Dich mir nicht ohne ihn mehr denken. Daß ich nicht zu Dir eilen, das Phantom nicht von mir scheuchen kann, was mich verfolgt, das ist's, was an mir nagt, was mich mit der peinlichsten Ungeduld erfüllt. Den Umfang meiner Liebe, den kennst Du nicht, den kannst Du nicht kennen. Sie hat mich gefunden, diese Liebe, beinahe an der Grenzscheide zwischen dem Knaben und dem Jünglinge und mich hinaufbegleitet bis an die Grenzscheide zwischen dem Jünglinge und dem Manne, sie wird mich zum Greisenalter geleiten. Als ich erwachte aus dem ersten leichten, traumvollen Schlummer, in den ein wohltätiger Geist uns die Jahre unserer Kindheit eingewiegt hält, da war es die schöne Natur, die zuerst mein erwachendes, aufblühendes Gefühl beschäftigte. Oh, es waren schöne Tage, die ich auf eurem Hügel am Ufer der Mosel verlebte, diese Tage der höchsten Reizbarkeit, der lebendigen Empfindung, des unschuldigsten Genusses. Ach, sie kehren nie wieder! Mit Schmerz, mit tiefem Schmerz erinnere ich mich noch zurück an den heitern Morgenhimmel meines Lebens, an die glänzenden, lebenvollen Bilder, die mich umgaukelten, an jenes ahnende Sehnen, an jenes pressende und doch so unbeschreiblich wohltuende Vorgefühl unseres künftigen Seins und Wirkens. Und wenn ich mich zur höchsten Wehmut stimmen will, dann rufe ich meinem Herzen das Andenken dieser Tage zurück und schwelge in meinem Schmerze. Auch in diesem Momente, in dieser Stimmung, bei diesem ersten lauten Aufklopfen meines Herzens sah ich Dich, und eine neue ebenso warme Quelle der Empfindung sprudelte in meinem Busen auf. Es war Liebe, aber jene nebelhafte, form- und materienlose Lichtgestalt, die uns in diesen Jahren umflattert, wußte ich es, was es war, das mir an Dir, wenn ich Dich sah, den nämlichen Eindruck machte wie eine heitere, muntere Landschaft, wenn ich an einem Frühlingsmorgen, unter einer Buchengruppe gelagert, sie mit Tränen der Freude und des Selbstgefühles im Auge anstaunte! Jene keusche, reine Liebe war es, die ihren Gegenstand nur aus weiter Ferne zu betrachten wagt, die nicht weiß, wie ihr geschieht, die sich angezogen fühlt und doch sich nicht zu nähern versucht, die sich selbst nicht kennt, ihr Entstehen und ihren Zweck nicht weiß. Das erste Quellen und Treiben meiner innern Kräfte besänftigte sich, mein Geist bekam zuerst seine Richtung ins Gebiet der Abstraktion, die ersten Eindrücke auf mein Gefühl verloren ihr grelles Kolorit, mit ihnen auch Dein Bild; es trat in eine größere Entfernung zurück, ohne mir je ganz aus dem Gesichte zu kommen. Reichliche Nahrung fand mein Kopf auf dem Felde der Spekulation. Die Bildung meines Herzens schritt nicht im Verhältnisse mit fort; es würde vielleicht ganz zurückgeblieben sein, wenn nicht mein immer höchst reges Gefühl für Kunst ihm einige Nahrung gegeben hätte. Mehrere Jahre gingen so hin; da verbreitete sich die Revolution hin bis in unsere Gegenden. Freiheit, Völkerwohl, Heil der Menschheit, welche Funken für ein nur einigermaßen warmes Gefühl! wie sehr mußten sie einen Sinn exaltieren, der so empfänglich für alle Eindrücke der Art war.
Oh, mit Entzücken denke ich noch an diese zweite schöne Epoche meines Lebens zurück, wo ich vor sechs Jahren zuerst die Bilder auffaßte, die seitdem eine so lange Zeit hindurch mein Herz ganz ausfüllten. Zum zweiten Male erschien mir die Welt in dem lichten Morgensonnenglanze, alle Gefühle und Kräfte brausten durcheinander, mir war so wohl, eine lachende Zukunft erfüllte meine Seele, ich jubelte laut auf vor innigem Vergnügen. Mit dem neuen Erstarken meiner Empfindungen wachte auch Dein Bild mit erneuter Lebhaftigkeit wieder auf. Aber der Jüngling hatte um sich sehen gelernt, er hatte gelernt, die gesellschaftlichen Verhältnisse würdigen, sich Rechenschaft geben von seinen Empfindungen. Er blickte auf und sah den Gegenstand seiner Liebe in Beziehungen, die ihn hoffnungslos machten, er sah auf sich selbst und ward noch hoffnungsloser. Doch immer war das alles noch nicht zu ganz deutlichen Begriffen gekommen; ich entsagte Dir nicht, denn bestimmte Prätensionen hatte ich gar keine gemacht; ich hielt mich an Dich, so nahe ich konnte, suchte Dich auf, wo ich Dich zu finden hoffte, mein Blick verweilte auf Dir, hing an Deinem Auge mit banger Sehnsucht und gleitete ab, wenn Du aufsahst. Die Stürme um uns näherten sich, ich warf mich hinein und arbeitete wacker meinem Ziel entgegen. Ich mag von diesem ganzen Zeitraume nichts sagen; er endigte, der Frieden kam, meine Verhältnisse änderten sich, die Deinigen waren anders, Dein Bild trat mit mehr Stärke als jemals hervor, und eine neue Periode meines Lebens, die meiner eigentlichen Liebe, trat ein; sie hat mir viele Freuden verschafft, diese Liebe, aber auch vielen Kummer, manche trübe Stunde herbeigeführt, Du hast beides mit mir geteilt, wir haben Ansprüche auf eine bessere Zukunft, auf sie sind unsere Wechsel gestellt.
Aber für mich hat sich die Natur erschöpft: sie gab mir den Enthusiasmus für die schöne Natur, für Freundschaft, für Freiheit und zuletzt auch den für Liebe; ihr Füllhorn ist geleert für mich, ihrer Gaben letzte hat sie mir gespendet, jetzt verläßt sie mich, mag ich haushalten mit den Resten meiner Schätze die übrige Hälfte meines Lebens hindurch. Oh, wie unglücklich, wie elend wäre ich, wenn Liebe mich flöhe! An alles, was meinem Herzen nur wert ist, ist sie geknüpft; alle meine Gefühle, alle meine Empfindungen werden in ihrem Medium geboren; reiße sie aus meinem Herzen, und alles, was dort ihr so innig verbunden ist, wird folgen und eine grause Öde zurücklassen, in der nur ein paar bleiche Schatten ehemaligen Glückes umherschwirren, ein paar Funken voriger Wärme aufglimmen. Aber besorge nicht, daß je dies Feuer in mir erlischt, wenn ich auch wollen könnte, ich vermöchte es nicht. Die Erinnerung vergangener Tage, genossener Jugendfreuden steigt vor meiner Seele auf, Dein Bild geleitet sie, ich sehe hinaus in die Zukunft, in jene Zeiten veredelter, gebildeter Menschheit, Dein Bild folgt mir dahin; ich genieße die Schätze der Kunst und suche die Beziehungen zwischen Dir und ihren Bildungen auf, ich denke meiner Freunde, und alle verwandten Gefühle meiner Liebe werden wach, und dessen bedarf's nicht einmal, nur den Namen irgendeines Buches, das wir miteinander gelesen haben, darf ich mir zurückrufen, und schnell strömt die Quelle des Gefühls in mir. Oh, ich wäre recht, recht unglücklich, wenn ich zweifeln könnte, daß Du mich mit gleich reiner, warmer, inniger Liebe liebtest, deren ich bedarf, wenn mein Herz nicht verwildern soll ...
Doch ich erstaune. Dies alles wollte ich Dir diesmal ja nicht sagen, aber ich lese zurück und begreife recht wohl, wie ich auf diesen Weg kam ...
Daß der Würfel geworfen ist, daß ich noch auf unbestimmte Zeit hierbleiben werde, das war es, was ich Dir eigentlich mitteilen wollte. Aber zage nicht, Liebe, zage nicht, unserer Liebe wegen unterdrücke ich die brennende Sehnsucht, die mich verzehrt: alles das wiederzusehen, was mir lieb und wert ist. Neue Stürme erheben sich; unter Hoffen und Harren und Fürchten soll noch einmal ein ganzes Jahr hingehen. Die Probalität zum Frieden ist nicht groß, und Gott weiß, welche Ereignisse der nächste Feldzug gebären wird. Um mich über sie zu erheben, um mich unabhängig von ihrem Einflusse zu machen, das ist die Ursache, warum ich hierbleibe, warum ich mein Vaterland noch nicht wiedersehe. Ob mir das gelingen wird, ist meine geringste Sorge, ich berechne meine Kräfte, meine Ressourcen, meine Verhältnisse, die Lage, in die ich hineinversetzt bin, und ich sehe keine Schwierigkeit gegen die Ausführung meiner Pläne, die mir unüberwindlich wäre. Ich kenne Welt und Menschen nicht aus Büchern, sondern aus teuren Erfahrungen, und das ist es, nicht Leichtsinn, nicht Vermessenheit, wenn ich so spreche. Meine Freunde für jeden Fall auf ähnliche Art zu sichern, ist wirklich, was mir mehr Sorge machen, mehr Anstrengung kosten wird als meine Selbsterhaltung. Wohl werde ich noch eine Weile auf den Wellen umhertreiben, wohl magst Du noch oft mich aus dem Gesichte verlieren, aber zittere nicht für mich; ich habe Kräfte genug, um mich aufrechtzuerhalten. Nichts vermag mich zu erschüttern; für alles, Deinen Verlust ausgenommen, habe ich Mittel des Ersatzes und der Abwendung. Das Schicksal ist nicht feindselig gegen mich gesinnt, es behandelt mich manchmal hart, allein diese Härte ist, wie ich immer sagen muß, heilsam und nützlich für mich gewesen; ich wäre, sowenig es auch noch ist, nicht das, was ich bin, wenn ich nicht auf diesen Wegen, nicht unter diesen Umständen geleitet worden wäre. Wohl ist es schön, unter den Palmen eines Haines ein ruhiges, wolken- und sorgenloses Leben hinzuträumen, aber ist dieser Zustand des Menschen würdig? Soll er in diesem Halbschlafe ungebildet und ungebraucht seine Kräfte abwelken lassen, in seiner Jugend voreilig schon die Freuden des Alters verzehren und dann nach dem langweilig, freudenlos hingebrachten Abend seines Lebens in die Zukunft hinübergähnen? Nein, er soll wirken und handeln, solange er noch unverbrauchte Kräfte hat; solange er der Menschheit nützen kann, seine Ruhe ihr opfern, nur in dem Verhältnisse bekommt er Anspruch auf Genuß, als er diese Pflicht erfüllt hat, und sein Lohn wird sein, daß dieser Genuß um so vielseitiger und reiner, um so umfassender ist, je mehr Bildung er seinen Kräften gegeben hat, und daß die Aussicht in ein durch die Rückerinnerung vergangener Handlungen erheitertes, zufriedenes Alter ihm wird. Das ist die Laufbahn des Mannes ...
Jetzt sind zehn Tage nach dem Anfange dieses Briefes verflossen, was hat sich in diesen zehn Tagen nicht alles geändert! Alle meine Verhältnisse sind verrückt, alle meine Beziehungen geändert, aber nicht zum Schlimmen, o nein, nicht zum Schlimmen, das Schicksal hat uns auch einmal eine Freude bereitet, eine recht große Freude, ich bin ihm dafür auch wieder gut geworden. Es drängt mich, Dir es mitzuteilen, aber nein, ich tu es nicht, überraschen soll es Dich; daß ich das mir Zugedachte nicht sogleich ergreifen kann, oh, das zerreißt mich, das treibt mich mit rastloser Unruhe umher. Schon vier Stunden bringe ich über diesen paar Zeilen zu, es ist gar nichts, dieses Schreiben und Buchstabenmalen. Da strömen die Gefühle auf, und immer neue und immer wärmere, und drängen uns zur Mitteilung, und es ist dann so schön, wenn diese Mitteilung von Auge zu Auge, von Herzen zu Herzen im Momente der Schöpfung geschieht, es ist dann so schön, wenn sie sich wechselweise begegnen und gemeinschaftlich zurückkehren, von wo sie herkommen. Aber wenn wir nach Worten haschen sollen, nach Bildern und Holzstäben, um sie zu bezeichnen, und die unsichtbaren geistigen Gestalten in ein körperliches Gewand umhüllen, um sie bis zu dem verwandten Herzen zu bringen, das ist so ängstlich, so kalt, ich habe noch keinen Brief an Dich geschrieben, den ich nicht hätte zernichten mögen, wenn ich ihn zurücklas. Ich kenne meine Empfindung darin wohl wieder, aber da stehen sie nebeneinander unbeweglich, wie die Steinbilder geputzt und ihr reine Kontur mit einer fremdartigen Draperie umhüllt. Unbeschreiblich ist es, wie ich mich deswegen auch darnach sehne, Dich einmal wiederzusehen, Dir einmal warm in die Seele zu strömen, was seit drei Monaten mich preßt. Schon der Gedanke an unser Wiedersehen erregt einen Sturm in mir, den ich nur dadurch besänftigen kann, daß ich ins Freie eile. Da versetze ich mich hin in jenen glücklichen Augenblick, wo endlich die Fesseln zerreißen, die uns in so große Entfernung voneinanderbinden, wo ich Dir sage: siehe, hier hast Du mich wieder! – Siehe hier mein Herz noch wärmer, als da es Dich verlassen mußte! – wenn wir uns dann erzählen, was seit unserer Entfernung in uns vorging, was uns quälte, uns freute, wenn ich mir das alles so denke, dann überströmt mich ein glühendes Gefühl. Mehr als einmal bin ich vor die Barrieren herausgestürzt, der Marne zu, um Dir wenigstens ein paar Stunden näher zu sein, mit jedem Schritte, wo ich Dir näher kam, stieg mein Gefühl, und ich ging rund um die Stadt herum, um nur nicht zurückkehren zu müssen. Schwermütig setze ich mich dann zu Hause an meinen Kamin, sehe hin in die glühende Asche, wie hier und da von Zeit zu Zeit ein helles Lichtpünktchen aufglimmt und stirbt. O menschliches Leben, das ist dein Bild! Nur diese Saite berührt, und alle verwandten Töne meiner Seele tönen mit, Wehmut ist mein Gefühl, ich zerfleische mich selbst, um sie zu wecken. Abende, wie ich Dir einen aus dem Gefängnisse schilderte, hatte ich gar viele seitdem, mein Herz nährt sich an ihnen, es nährt sich an seinem Schmerz, weil die Freude ihm versagt ist. –
Ich habe keinen Sinn für so manche Genüsse, mit denen sich die Menschen zur höchsten Freude hinaufjubeln, aber die Natur entschädigte mich dafür. – – –
Schon wieder Trennung, jawohl, das menschliche Leben ist ewiges Kommen und Gehen, Scheiden und Wiedersehen, Du hast recht, Liebe! Lebe wohl und behalte mich lieb.
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Frankfurt,G. berührte auf der Rückreise Frankfurt, wo Katharina bei Brentanos weilte. 29. Pluviose (18. Februar 1800).
Heute, liebe »Kätz«, werde ich Dich nicht sehen. Ich weiß nicht, wie mir ist, aber ich bin niedergeschlagen und mißmutig. Ich hatte mich so sehr aufs Wiedersehen gefreut, so herzlich gefreut; aber kaum war die erste Viertelstunde der Berauschung vorüber, da schlug uns unser Schicksal schon wieder in die Fesseln, in denen es uns beinahe die ganze Zeit unserer Liebe unausgesetzt hielt. Jener leidige Zwang, der sich wie ein bleierner Mantel um uns legt und alle unsere Bewegungen hemmt und lähmt, verfolgt uns auch hierhin, und ich hatte ganz vergessen, ihn in Rechnung zu bringen. Ein besonderer Umstand, der in meiner Jugend eintrat, hat mich mit meiner Empfindung verschlossen und zurückhaltend gemacht, das geringste Geräusch schreckt sie bei ihrem Ergießen zurück oder verhindert es ganz. Jeder meiner Briefe kostet mich daher einen kleinen Kampf, von der Besorgnis erzeugt, daß er in fremde Hände fallen möchte. Ich fange daher meistens kalt an, allmählich aber meistert mich mein Gefühl, und ich werde wärmer und wärmer, der Strom wird immer gedrängter und schwemmt am Ende alle Besorgnisse hinweg. So auch in Gesellschaft, ich weiß uns beobachtet, belauscht, augenblicklich tritt der ganze Strom meiner Gefühle zurück, und in mir entsteht eine unausstehliche Leere, und ich bin in solchen Augenblicken ein unerträglicher Mensch. Solange mich etwas zum Reden reizt, ist dieses Gefühl durch die Befriedigung des Sprechens umkleistert, ist aber dieser Reiz abgestumpft, sogleich dringt es mit seiner ganzen Schwere auf mich ein. Ich wache dann über meinem Herzen wie ein Geiziger über seinen Geldsäcken, ich denke nicht, ich empfinde nicht, ich träume mit halbverschlossenen Sinnen, alle innere Spannung hört auf. Das sind immer die widrigsten Augenblicke meines Lebens, und doch habe ich nicht Kraft genug, mich loszureißen, wegzutreten von dem Schirme, der mich von Dir trennt, ich muß weggerissen werden, und dann, wenn ich mich allein weiß, wenn jener Zwang aufhört und die gepreßten Empfindungen sich Luft machen, dann ergreift mich bitterer Unmut über mein Los, ich zürne dem Schicksale, das mich wegschleudert und wieder hinwirft, und im Augenblicke, wo ich lechzend nach dem so lange Ersehnten hingreife, mich an den Boden wurzelt, ich zähle mir alle Gefühle, alle Genüsse vor, die ich bei Dir finden könnte, und ich sehe mich so arm und isoliert, daß ich wegeilen möchte ins Weite und immer weiter, ohne daß ich je zurücksehen dürfte. Oh, das ist traurig; wann werden wir endlich aus diesem gläsernen Kerker befreit werden? – – –
Lebe wohl, immer bin ich in Gedanken um Dich, lebe recht wohl!
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Frankfurt, den 6. Ventose (25. Februar 1800).
Du willst, daß ich Dir schreibe! Du weißt, was ich dagegen habe, wenn man sich sprechen kann. Indessen hat Schreiben einen großen Vorzug vor mündlicher Mitteilung, es faßt die jedesmalige Stimmung des Momentes auf und bewahrt unsere Empfindungen für die Zukunft, da können wir denn einst zurücksehen auf die Laufbahn, die wir durchschritten, dort stehen die Wegsteine, die uns leiten bis zum Kreuzwege, an dem wir uns zum erstenmal begegneten. Ich bereite manchmal meinem Herzen ein Fest, wenn ich mich so hineindenke, ich weiß nicht in eine wie ferne Periode, wo das, was jetzt noch im trüben Dunkel als Zukunft vor uns schwebt, hell und klar als Vergangenheit hinter uns liegt, wo alle unsere Wünsche, alle unsere Hoffnungen realisiert sind und wir nun mitten im Genusse häuslichen Glückes zurücksehen auf die unruhigen, aber gewiß darum uns so werteren Tage unserer Jugend und noch einmal in der Rückerinnerung alle unsere Freuden, alle unsere Leiden der Reihe nach durchempfinden und uns freuen, daß wir so reichen Stoff vorfinden, an dem die Natur uns eine unversiegbare Quelle des Genusses für ein freudeleeres Alter bietet. Siehe, so bin ich ungenügsam; mitten im Genusse postuliere ich schon den fernen Nachgenuß und vereinige mit einem Bande die Freuden der beiden Extreme meines Lebens. –
In einigen Tagen werde ich Dich verlassen müssen. Oh, sie wird mir wehe, sehr wehe tun, diese Trennung; am Tage unseres Wiedersehens verbitterte sie schon meine Freude; aber dafür wird auch der Gedanke unseres baldigen Wiederfindens den Schmerz des Scheidens lindern und mich den Zeitraum, der zwischen beiden Momenten liegt, vergessen machen. Ich kehre nach Koblenz zurück, und dort hoffe ich den Frühling und den Sommer ruhig zubringen zu können. Oh, ich freue mich kindisch auf diesen Frühling! Schon an sich war er mir zu allen Zeiten so wert, sein Eintritt jedesmal meinem Herzen ein Fest. Nun erst mit Dir. Wenn ich ein Schwärmer bin, dann bin ich es an einem Frühlingsmorgen oder -abend geworden. Der bevorstehende soll uns schön werden, schöner als der vorige, der uns so traurig hinschlich, so traurig für die Natur wie für unsere Liebe, ich mag nicht mehr daran denken. Und doch mag ich Dir nicht sagen: eile, daß wir uns wiederfinden, ich fühle zu sehr, wie zuträglich in jeder Hinsicht Dir der hiesige Aufenthalt ist, als daß ich ihn verkürzen sollte, so nahe es mir auch geht, Dich so ferne von mir zu wissen, von mir, der so gerne immer und immer um Dich sein möchte. Nein, bleibe, solange es Deine Verhältnisse nur immer gestatten. Alles opfere ich ja gerne Deinem Wohlsein, und dies Opfer kostet der Liebe nichts, erhalte nur Deine gegenwärtige Stimmung, und Du hast für mich gesorgt.
Es ist doch sonderbar, wenn ich so die Gruppe ansehe, die wir drei: Sophie, Du und ich, hier miteinander bilden. Sophie mit der ruhigen Bedachtsamkeit, die alle Gegenstände fest ins Auge faßt und nicht rastet, bis sie ihnen die idealistische Draperie abgestreift hat, die ihre Umrisse zwar weniger scharf, aber gewiß um so lieblicher macht; mit der nüchternen Besonnenheit, die jedes lichtere Aufflammen des Gefühls, jedes Überschreiten des gewöhnlichen Rhythmus der Seelenbewegungen als Überspannung verwirft und innerhalb der streng gezogenen Grenzen des Alltäglichen nur kleine, leichte, wenig erschöpfende Oszillationen zuläßt; mit der heitern Genügsamkeit, die auch auf Heiden und Sandwüsten Schönheiten findet, sich Sträuße von Wiesenblumen pflückt ...; mit der ungetrübten Seelenruhe, die dankbar die Genüsse auffaßt, wie sie sich darbieten, ohne weiter über ihren inneren Gehalt mit der Natur zu rechten ... Mit einem Herzen, das schnell, richtig und scharf, aber eben nicht stark fühlt, das immer ruhig mit gleich großen Intervallen pulsieren soll, gut ist aus natürlicher Wärme, aber es aus eben diesem Grunde nicht sein will, das sich mit dem Kopfe in unmittelbaren Verkehr setzt, ohne der Zwischenkunft der Einbildungskraft zu bedürfen, die ihrerseits ohne Widerspruch die Herrschaft der Vernunft anerkennt.
Ich hingegen mit einem Gefühl, das früh in den ersten Tagen meiner Jugend geweckt, eine lange Zeit vorherrschend mich begleitete, mich nach und nach durch alle die verschiedenen Abstufungen und Modifikationen seines Wesens durchführte, mir alle seine Freuden und verhältnismäßig wenig seiner Leiden darbot, und selbst diese wenige in der Folge zu Genüssen umzuschaffen wußte, das jetzt zwar seine Vehemenz, aber nichts von seiner Wärme eingebüßt hat und noch immer mit dauernder Anhänglichkeit seine Gegenstände umfaßt, das vor der Kälte und der Unförmlichkeit der alltäglichen Erscheinungen zurückschaudert und sie daher mit einem Gewande umgibt, das, sei es ihnen auch fremd, doch ihrem Eindruck das widrige benimmt, das endlich zurückgestoßen, mit der unbeschreiblich unangenehmsten Empfindung, von allem Mittelmäßigen, Erbärmlichen, Kleinlichen sich immer Ideale schafft, an denen es sich entschädigt, und die es in die Vergangenheit und Zukunft überträgt, wenn die Gegenwart ihm keinen Raum oder keinen Stoff darbietet. Mit einem Herzen, das nach und nach alles durchempfand, was irgendein menschliches Herz empfinden kann, das mit Ängstlichkeit nach warmer zusprechender Empfindung um sich sieht und jene frostige Ärmlichkeit des Gefühls, jenen Mangel an treibender Lebenskraft mit peinlichem Unmute erträgt, das zu seiner Befriedigung nichts weniger als großer Genüsse bedarf, aber die dargebotenen immer auf seine Art verschönert und belebt. Mit einem Kopfe, den eine fünf Jahre hindurch fortgesetzte Erfahrung, die ebenso viele Jahrzehnte aufwiegen, die mannigfaltigste Kombination äußerer auf ihn einwirkenden Umstände abgekühlt haben, und der mit kaltblütiger Besonnenheit die Erscheinungen um sich her zu wägen und zu würdigen vermag. Mit einer Einbildungskraft, die zwar lebhaft und reizbar und auch wohl poetisch, aber durchaus nicht herrschend ist.
Und nun endlich Du selbst, liebe, eine Geßnersche Idylle, mitten zwischen der reinen kunstlosen Prosa und der Epopöe. Nicht so systematisch nüchtern wie Sophie, nicht so begeistert fürs Allgemeine wie ich, zieht Deine Weiblichkeit Dich zum Individuellen hin, in dem und für das Du ebensosehr idealisiert wie ich selbst; ebensosehr zurückgestoßen von den nackten Umrissen der Erscheinungen des Tages, aber einerseits weniger resigniert als Sophie, weniger verschönernd und hoffend als ich, ziehst Du Dich zurück in Dich selbst, um jenen Konflikt zu vermeiden, den Sophie sucht, um auch selbst dem Wasser Elektrizität zu entlocken, und den ich nicht fürchte, weil ich nur immer die Seite in Rechnung bringe, die dem Gange meiner Empfindungen zupaßt. Dein Gefühl, reizbar und beweglich, rein und geläutert, kennt die Linie nicht, auf der Sophie wandelt, erhebt sich auch nicht zu meinen Begeisterungen, denen Sophie, vielleicht nicht ohne Grund, ihre Periode fixiert hat; warm in Deinen Empfindungen, aber während des Laufes Deines Lebens nur zu oft der Notwendigkeit ausgesetzt, ihnen Gewalt anzutun und sie zurückzutreiben, ist es nicht Grundsatz, sondern eine gewisse weibliche Scheu, die Dich zurückhält, und die Dich von außen Sophie nähert, während Dein Inneres mir selbst mehr zuspricht; Dein innerer Sinn sanft und rein gestimmt, schwebend wie der Ton der Harmonika, mitten zwischen dem scharf und fest gegriffenen und dem starken und vollen; Dein Herz, immerfort aufgeregt, immer oszillierend, zieht sich nicht so ganz in sich selbst zurück wie das Sophiens, fließt nicht so ganz auseinander wie das meinige, es kennt keine Fessel und keine fremden dilatierenden Kräfte und muß sich anschmiegen, nicht wie Sophie an die Menschen, nicht an die Menschheit wie ich, nur an Einen, der ihm alles ist. So stellt denn jedes von uns dreien seine eigene besondere Erscheinung dar ...
Siehe, so beurteile ich Sophie; wenn sie etwas anderes glaubte, so tat sie Unrecht.
So beurteile ich mich selbst; wer mich aus einem anderen Gesichtspunkte ansieht, beurteilt mich schief.
So endlich beurteile ich Dich; und ich glaube, ich beurteile Dich recht. Man sagt, die Liebe sei blind, das ist sie nicht, sie macht den Kurzsichtigen scharfsichtig. Erhalte mir jene Individualität in Deinem Charakter, in meinen Verhältnissen werde ich, wenn ich sagen darf, so sehr an Universalität gesättigt, daß ich mich in meinen persönlichen Beziehungen nach jener weniger verbreiteten, aber um so innigeren Anhänglichkeit sehne. Aber wohlgemerkt, Individualität ist nicht Menschenscheu ...
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Morgens den 2. Germinal J. VIII. (23. März 1800).
»Wenn Dich alles verläßt, dann wirf Dich an mein Herz, dem Du alles bist, das in Dir seine Welt findet, und Du sollst Dich mit Deinem Geschicke wieder aussöhnen.« O Liebe, was diese Stelle meinem Gefühle so unbeschreiblich wohltut, wie ich mich an ihr erwärme, daß ich Deine Abwesenheit vergesse und nur Sinn für mein Glück behalte, ein solches Glück gefunden zu haben, was wäre ich, wenn mein Geschick nicht zu allem übrigen auch diese erste und größte aller Wohltaten hinzugefügt hätte, wenn es mich einsam gelassen hätte mein Leben hindurch oder zerpflückt vor ihrer Blüte die Liebe, deren Wurzel es mit allen meinen Jugendfreuden verflocht. Unter zehn Millionen Fällen bringt der Zufall nur einmal drei Sterne so nahe, wie sie im Orion stehen, sind mehr Treffer bei der Annäherung verwandter Seelen? Nein, nur Du warst für mich, so wie Du da lebst und webst, so bedurfte ich Deiner, zerreiße dies Band, und mein Herz fällt auseinander, es ist aus mit ihm. Ich berechne mit Schaudern, was dann aus mir werden könnte, ein kalter, kalter Menschenhasser mitten unter Schutt und Graus auf der Brandstätte seines ehemaligen Glückes. Aber nicht wahr, das kann nicht so werden, mein Leben ist nicht abgeteilt in eine helle glänzende und eine dunkle schwarze Schattenseite? Bei Dir werde ich mich bewahren vor Erkältung und Überdruß, an Deinem Herzen finden, was alles außer mir sonst mir versagt. Aber ich weiß ihn auch zu würdigen, diesen Schatz, ich bewahre ihn dort, wo keine Zeit und kein Zufall ihn mir zu rauben vermag. Wenn ich so manchmal sinne, womit ich Dir für Deine Liebe danken soll, dann fällt mir gar nichts ein als Gegenliebe, gar nichts sonst, alles andere ist nichts. Noch denke ich mir manchmal lebhaft, wie ich Dein künftiges Leben erheitern, wie ich alles von Dir abwenden werde, was Deinem Herzen wehe tun könnte ...
Die wahre Liebe ist unermeßlich und deswegen unzerstörbar für alle Zeit. Einen kleinern Raum im Herzen einnehmen, das mag sie, aber nie, nie ganz sich daraus verlieren, und ich möchte nicht angefangen haben zu lieben, wenn ich je aufhören könnte ...
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Brief vom 9. Floréal (29. April 1800).
Mißverstanden hast Du mich bei dem, was ich über weibliche Arbeiten sagte. Das Weib hat seine Berufspflichten, mehr oder minder gravierend, im Verhältnis seiner individuellen Lage, diese sollten erfüllt werden, das ist recht. Aber nun hat die Langeweile andere Arbeiten erfunden, um die übrigen müßigen Stunden auszufüllen, und da, sage ich, hatte man unrecht, diese Wahl der Langeweile zu überlassen. Da sucht ein gebildeter Sinn was Höheres und Besseres an die Stelle zu setzen und einen geisttötenden Mechanismus zu verdrängen. Nähe, sticke also immerhin so viel, als Du für gut hältst, nur tue es nicht zum Zeitvertreib.
Noch hast Du mir keine Silbe gesagt, wie Sophie meine neuliche Zuschrift aufnahm. Ich traue ihr nicht zu, daß sie es mir übelgenommen hat. Freilich ist in den feinern Zirkeln unseres lieben Vaterlandes eine Art, sich einander Artigkeiten zu sagen, eingeführt, deren Nichtigkeit man nicht, wie in der großen Welt, allgemein anerkennt, sondern denen man aus Barmherzigkeit, um den Leuten doch etwas zu lassen, wirklichen Kurs gestattet. Da heißt es nur: der liebenswürdige Mann, die liebenswürdige Frau, vom Pinsel und Bösewicht und dem gemeinen Weibe ebensosehr wie von dem Besten und dem Gebildetsten. Ich kenne eine höhere Sphäre, dahin soll alles aufsteigen, was sich über die manierierte Bildung der Zunft erheben will. Da nähert man sich nicht einander lobpreisend und psalmierend, man würdigt, wem Ehre gebührt, aber man sagt es sich unverhohlen, wo man Blößen und Irrtümer bemerkt. Da ist Voranschreiten und Höhersichheben noch möglich, beim andern nur Einseitigkeit, Stocken und Sinken, weil nichts bleiben kann, was es ist. Aus diesem Gesichtspunkte schrieb ich unaufgefordert nieder, wie es mir ums Herz war, und aus ihm muß mich Sophie beurteilen. Ich zürne niemand, wenn er mir die empfindlichsten Wahrheiten sagt, ich zürne nur dem, der ihn abhalten will. Lebe wohl und schreibe bald. Grüße mir Sophie.
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Koblenz, am 23. (13. Mai 1800).
... Siehe, ich habe auf einem Flecke gewohnt, und der Fleck war umgeben mit einem großen, weit ausgedehnten Lande, und das Land war mein Wirkungskreis, und eine große Flut hat den ganzen Strich weggeschwemmt und mir nur die kleine Insel auf so lange gelassen, als sie mir das Schicksal vergönnt. Das ist meine Geschichte. In mir ist eine andere unendliche Welt, die schwemmt mir keine Wasserflut weg, die erschüttert mir kein Sturm, in ihr will ich leben, rückwärts reflektieren, was sich vorher nach auswärts verbreitete, die eine Sphäre ist am Ende ja doch nur das zurückgeworfene Bild des andern. Das ist mein geringster Kummer, die Zerreißung der Fäden, die mich an jene Sphäre banden, mein Inneres ist in vollem Gleichgewicht, es bedarf keiner Stützen, es ruht auf sich, aber das Ringen der Menschheit nach einem ähnlichen Zustande des Gleichgewichtes jetzt gänzlich niedergeschlagen zu sehen, zu sehen, wie tierisch diese Menschheit noch ist, wie sie im Schlamme ausgestreckt daliegt und wiederkäut und nur durch Instinkte und Gelüste handelt, wie die Menschen da nun einen Knäuel bilden von Bestien, die sich bei den Haaren, mit den Zähnen und mit den Krallen fassen und sich zerfleischen, um zu existieren; vorzusehen, daß diese Generation der Tierheit sich in einer andern ähnlichen verjüngen und daß alles noch lange hin nicht anders werden wird, das ist traurig, sehr traurig, und darüber kann ich mich nicht beruhigen. Daß sie es nicht besser wollen, ist kein Trost dafür, daß es nicht besser ist, denn liegt das Schlimme nicht in dem Grunde, warum es so ist.
Ich kann nicht mehr schreiben. Lebe wohl, reise glücklich und schnell, ich warte Dein mit brennender Sehnsucht.
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Am 30. Floréal (20. Mai 1800).
Endlich und endlich, liebe »Kätz«, ist es denn doch entschieden, Franz geht, Dich abzuholen. Schwankender und unzuverlässiger wie Dein Oheim gibt es doch kaum einen Menschen. Aber das hast Du gewonnen, daß Du schönes Wetter zur Reise bekommst. Es war eine arge Täuschung! Von dem Augenblicke, wo Dein Brief kam, daß Du in Mainz seist, hatte ich keine Ruhe mehr, ich hätte hinaufrennen mögen und übermorgen früher schlafen gehen als gewöhnlich, um sie zu verkürzen. Und sind sie vorüber, dann ist auch das überstanden, und wie das wird auch alles übrige vorübergehen. Freilich hängt da noch eine Wolke, die uns manchen trüben Tag machen wird, aber immer da hängenbleiben kann sie nicht, und oft gestattet sie uns ja auch recht heitere Sonnenblicke und den Anblick der Sterne und des blauen Himmels. Ich bin karg mit den Freuden der Zukunft, und da drückt mich auch das Vorgefühl ihrer Leiden weniger. Rückwärts im menschlichen Leben ist unsere Aussicht, wenn wir an der Grenze der Jugend stehen, eine lange, weitgedehnte, schöne sonnenbeglänzte Ebene, auf der alle schroffen Felsen und alle rauhen, blumenlosen Stellen von schönen Regenbogenfarben versteckt sind, vorwärts scheint es oft ein Bergland, mit Gletschern und Granitwänden bedeckt, von Gründen und Abgründen durchfurcht; aber wenn wir uns nicht irremachen lassen und immer getrost voranschreiten, dann finden wir, daß jene Abgründe so schrecklich nicht sind, als sie von ferne das Ansehen hatten, daß wir durch eine Täuschung unserer Einbildungskraft ferne Wolken für Berge und Gletscher hinnahmen, die nun unter unsern Fußtritten verschwinden.
Siehe, so gehe ich immerfort und sorge nur, daß ich nicht strauchle, und setze mich nieder von Zeit zu Zeit und achte nur auf das, was mich erheben kann, von dem, was mich niederschlagen könnte, flüchte ich zu meinem Herzen oder zu meinem Kopfe. Das gelingt mir nicht immer auf der Stelle, aber spät oder früh erreiche ich meinen Zweck und stelle das gestörte Gleichgewicht wieder her. Das wird so lange dauern, bis ich den letzten Meilenstein auf meiner Laufbahn erreicht habe. –
– Die Sprache ist kein Werkzeug für das Herz, sie ist nur für den Geist geschaffen, dessen Sprache ist eine andere, und die sprechen wir beim Wiedersehen. Bald, bald, bald.
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Worms, 8. Okt. 1819.
Ich sitze hier ruhig bei Zimmer, fahre heute nach Speyer und gehe morgen abend über die Grenze nach Straßburg.Die Antwort auf Görres' Schrift »Teutschland und die Revolution« war eine kgl. Kabinettsordre, die Görres' Verhaftung befahl. Er floh über Frankfurt nach Straßburg. In Frankfurt haben sie mich aller Wahrscheinlichkeit nach heute nacht in meinem Bette aufgesucht, um mich als ersten Auftrag dem Prevotalgericht in Mainz vorzusetzen. Aber die Sache hat sich durch etwas, was man glücklichen Zufall nennt, allein etwas ganz anderes ist, zu anderem Ende gewendet. Es hat sich damit so zugetragen. Als ich zum erstenmal meine Anwesenheit in Frankfurt laut werden ließ, kam Willemer gleich vorgefahren und lud mich aufs unbestimmte zum Essen ... Gestern ... als ich am Tor des Römer nachsann, wohin ich gehen sollte, fiel mir Willemer ein, und ich zog zu ihm. Er hatte gerade seine Familie zum Essen geladen, darunter auch Bürgermeister Thomas. Um zwei Uhr, als wir vergnügt bei Tische saßen, wurde dieser herausgerufen. Herr Bürgermeister Stark wolle ihn in einer wichtigen Sache sprechen. Da ich meinen Überschlag gemacht hatte, daß die Depesche von Koblenz, wenn sie mich dort nicht gefunden, gerade gestern hier angelangt sein könne, so roch ich gleich Unrat. Willemer hatte ähnliche Gedanken, und als Thomas nach einer Viertelstunde ganz blaß zurückkam, war ich der Sache schon in mir gewiß. Beim Aufstehen folgte Willemer Thomas in ein anderes Zimmer und kam bald zurück, Thomas habe ihm nichts sagen wollen, was es sei, wodurch also die Sache entschieden wurde. Ich fuhr sogleich über den Main, zog Kundschaft ein, erhielt bald die Bestätigung, die Willemer eben auch nach einer Stunde von seiner Seite brachte. Darum säumte ich keinen Augenblick mehr, saß sogleich ein, fuhr noch am Abend nach G. und heute morgen hierher. In Straßburg werde ich in voller Sicherheit wohnen, den Franzosen kann kein größerer Triumph widerfahren, die in Berlin aber werden sich ärgern, wenn sie den Ausgang ihrer plumpen Raserei erfahren. Von Straßburg werde ich dem Kanzler schreiben. Ich werde nichts tun, was ich nicht vor Gott und meinem Gewissen verantworten kann, aber sie sollen einmal erfahren, was ein Mann vermag, der auf dem Rechte und der Wahrheit steht und sich nicht erschrecken läßt. Ihr könnt also völlig ruhig über den Ausgang der ganzen Sache sein.
Aber Du, meine liebe Frau, mußt nun auch mit den Kindern den Wanderstab ergreifen und Dich rüsten, daß wir den Winter miteinander in Paris zubringen ... GuidoGörres' Sohn. läßt Du zurückkommen, er muß auch mit. Acht Tage Zeit hast du für das alles, erstens wegen der Sicherheit, da unter den jetzigen Umständen niemand wissen kann, wie weit die Tyrannei geht, dann auch, weil ich euch ungern spät im Winter eine so lange Reise machen lasse ... Also nehmt euch zusammen, daß alles schön ordentlich vonstatten geht. Wenn Schlossers nach Paris kommen, wollen wir den Winter dort sehr vergnügt zubringen. Überall, wo ich hinkomme, sind mir die Leute zugetan, das Buch hat alles angeregt und aufgerichtet, in Frankfurt war es nach drei Stunden in allen Häusern. Schreibe mir gleich. Gibt es auch einige Unruhe, so geht das doch vorüber und ist besser, als wenn ich mich von den vortrefflichen Herren hätte herumschleppen und festnehmen lassen. Überdem, wenn die Ruhe schimpflich ist, darf man die Unruhe nicht scheuen. Gott befohlen! viele Grüße an alle Freunde, auch aus dem hiesigen Hause.
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Straßburg, am 18. Dez. 1819.
Nun, diesmal seid ihr alle recht fleißig gewesen, ein ganzes Paket Briefe liegt vor mir und mahnt mich an meine Schuld ... Ich muß zurückgreifen bis in die dritte Generation, die zuunterst liegt, und jedem sein Recht antun.
Was zuerst den Tod meiner Mutter betrifft, so habe ich ihn wohl schon seit dem vorigen Frühjahr ... vorhergesehen, er hat mich also nicht überrascht und unter den vorliegenden Umständen nicht so sehr betrübt. Wenn einmal das Beste am Menschen weg ist, dann ist er schon gestorben. Es ist mir aber doch lieb, daß ihre Besinnung in der letzten Zeit so schwach gewesen, daß sie von der ganzen Geschichte mit mir weiter nichts erfahren; sechs Monate früher hätte sie sich auf eine höchst betrübte Weise in ihre Phantasien verflechten können, das ist nun, Gott sei Dank! glücklich vorbeigegangen und hat sich in gelinder Art gelöst. – Sie hat mir immer wohlgewollt, have anima pia!
Die Großmutter ist eine kräftige Natur, die hat ihr Leben in ihrer Weise abgesponnen, da ist innerer Zusammenhang und gar nichts Konfuses, sie hat ihr Tagewerk abgearbeitet und weiß, was sie davon hat. Trotz meiner letzten Ölung hatte ich doch keine Sorge für sie, wenn ein tüchtiger Schlagfluß sie nicht mitnimmt, den gewöhnlichen Alterskrankheiten erliegt sie nicht, denn sie hat noch ein tüchtiges Kapital Leben im Solargeflechte liegen, ohngefähr so stark wie das, für welches sie noch die zwanzigjährigen Zinsen vom König haben will! Grüße sie herzlich von mir, sie soll sich kein graues Haar um mich wachsen lassen, ich fange jetzt wieder ganz von vorne an, aus dem alten Leben haben sie mich herausgesprengt, jetzt habe ich die Universität bezogen und führe Junggesellenhaushalt, doch schreiben mir Frau und Kinder zuweilen aus der andern Welt. Aber Käthe, Käthe, ist Saul auch unter die Propheten und Du unter die Politiker geraten.Frau Görres hatte ein Bittgesuch an den König um Aufhebung des Haftbefehls gerichtet.. Der König wird eben denken, nun habe er es erst recht gut gemacht, da er den einen fortgejagt, seien gar zwei daraus geworden, wie beim berühmten wassertragenden Besenstiel, und das andere Ding schwatze akkurat wie das erste und sei kein größerer Unterschied wie zwischen hic und haec, he-cockund she-cock, auch wird er denken, der junge Range, der tolle Füchse schießt, wächst auch heran, und dann wären es ihrer gar drei, die räsonierten. Es ist wirklich dem König nicht zu verargen, daß er wild und rappelköpfisch wird, die eine Partei, die immer recht haben will und es öfters auch hat, ist ihm so höchst fatal und unangenehm, die andere aber, die im Unrecht steckt, ist ihm so angenehm. Er wird dabei von allen Seiten angeschrien, daß es kein Wunder ist, wenn er endlich mit der Hand der Gerechtigkeit und mit dem Zepter dreinschlägt ins ungestüme Volk ...
Um auf Deine Eingabe zurückzukommen, so lautet sie freilich etwas anders als meine an den Kanzler, aber einerseits ziemt der Frau eine andere Sprache als dem Manne, anderseits kann man mit dem Kanzler anders reden als mit dem Könige, und dann war die meine auch, wie ich ausdrücklich darin bemerkte, eine vertrauliche Eröffnung unter vier Augen, vor der ich jeden öffentlichen Gebrauch negierte und verbot ... Ihr erster Gedanke in ihrer abgeschmackten Pfiffigkeit wird sein, ich habe es selbst gemacht und treibe nur Bauchrednerei ... Den König hat die Sache in einige Verlegenheit gesetzt, er wird sich nicht verleugnet haben, daß alles darin Gesagte wahr und vernünftig ist, auch wird er sich erinnern, daß er in Jahr und Tag keine solche Eingaben von seinen Ministern erhalten, die Sorge tragen, daß die Fische, die sie ihm ins Kabinett einliefern, faul sind, aber sie werden es ihm schon wieder ausreden, und der lederne Koller wird sein Recht behaupten. Denn zurücktreten, wenn es an der Zeit ist, das verstehen diese Leute am allerwenigsten, sie müssen durch, bis sie bei der wand angelangt, und dann kratzen sie wohl noch jahrelang, wie jenes Gespenst, an der vermauerten Türe. Sie sind sehr zornig und werden es täglich mehr, je mehr ich in Frankreich mit Ehren bestehe ...
Auf Deine Erinnerung über meine Kleidungsstücke habe ich mich ernsthaft darauf angesehen, und der Befund ist der: Schuhe in ziemlich schlechten Umständen, doch hatte ich mir eben in dem Augenblick, als ich Deinen Brief erhielt, ein Paar anmessen lassen. Socken, nicht sehr erbaulich, habe sie schon oft um viele Sols hier ausflicken lassen; Hosen fangen an unten herum zu sich befalblanen, auch wollen Knöpfe nicht mehr halten; Hosenträger, längst höchst einseitig, verlangt sehr nach einem Nachfolger; Hemden und Halstücher zur Zeit noch die glänzendste Partie; Rock, soso, kann noch gehen, hab' auch andere darum gefragt, die dasselbe meinen. Seidene Strümpfe, kurze Hosen, Frack in allerbestem Zustande, da ich sie noch gar nicht gebraucht. Nun geht's doch zu Ende; darum grüße und küsse ich euch alle, und da ich vor Neujahr wohl nicht mehr schreiben werde, wünsche ich euch zum kommenden das Beste. Sophie soll mir auch einmal schreiben; Guido soll hören und folgen, sonst werden ihm alle Prügel, die er verdient, auf Rechnung geschrieben; der kleine Schwipp soll wohl bleiben und gedeihen. Die Rüssel grüßt mir vielmal, sie sieht sich die Dinge mit mehr Sinn und Verstand an als eben die meisten Männer.
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Straßburg, 6. Dezember 1824.
Du hast, lieber Guido,Guido war seit Herbst 1824 zum Universitätsstudium in Bonn. lange nichts von uns gehört, und darum auch lange genug nichts von Dir hören lassen. Hätte von dem Wasser, das wir euch heruntergesendet, jeder Eimer voll einen Gruß bestellt, du wärst »hörmüdig« geworden vor den vielen Salutationen. Noch haben wir überall die Felder voll stehen, das euch noch alles zugedacht ist; die schönsten Wasserspiegel lachen den Vorbeigehenden an, aber es will kein Eis frieren, zum Verdruß der Straßburger Jugend, die dadurch vom Schlittschuhlaufen abgehalten ist. Mendelssohn war auch im vorigen Monat hier, durch Regenströme ist er hier angekommen, sie haben ihm beim Abreisen wieder aufgepaßt, und so ist er gehörig durchgebadet, jetzt, wo schönes Wetter eingetreten, wahrscheinlich glücklich im schönen Berlin angelangt und hat seine Lagerstätte hinter dem Ofen wieder eingenommen.
Du erzählst mir von der Aufnahme, die Du unten gefunden, das ist recht gut; sorge, daß die Leute ebenso freundlich von Dir scheiden. Mit den Vorlesungen wirst Du indessen die Einrichtungen getroffen haben, wie sie den Umständen am besten angemessen sind. Daß Schlegel Dir geraten, zuerst Englisch zu lernen, ist ganz natürlich, ich hätte mir's selber an den Fingern abrechnen können. SteingaßGörres' Schwiegersohn. hatte freilich insoweit recht, daß es vorderhand Dich einigermaßen an der Befestigung in den andern beiden Sprachen hindern würde. Jedoch, wenn man diese einmal so weit vor sich hat, daß die weitern Vorschritte hauptsächlich durch geläufiges Bekanntwerden mit den Schriftstellern geschehen, dann kann man schon eine neue anfangen, da die neu beginnende grammatikalische Arbeit eine Sache des Gedächtnisses ist, das bei jenen weniger beschäftigt ist. Inzwischen hat der Inzidenzpunkt mit dem Englischen die Sache von selbst ins rechte Geleise gebracht. Du kannst den Winter nun benützen, um Dich in den Klassikern abzurunden, und hast nebenbei vollkommen Zeit, Dich im Englischen so weit umzutun, daß Du Schriften darin lesen kannst. Das ist nicht sehr schwer, und ich habe es in sechs Wochen dahin gebracht, Miltons »Verlorenes Paradies« ziemlich geläufig, wenn auch hie und da herumratend, zu übersetzen. Dann kannst Du im Sommer Brahmanisch anfangen, damit, wenn einmal eine Gesandtschaft aus Benares an den König von Preußen kommt, jemand am Rhein ist, der weiß, was die guten Leute sagen wollen ...
Du schreibst mir in Deinem Briefe allerlei Notizen über den Hunsrück. Das ist alles recht schön und gut, aber ich werde leider nicht klug aus der Erzählung. Du mußt in solchen Fällen immer eine Zeichnung machen unter den Augen der Leute, die selten die Gabe haben, das, was sie gesehen, mit deutlichen Worten zu erklären. So roh der Entwurf ist, kann man ihn hernach doch durch die Ortsnamen auf eine bessere Karte bringen und sich dann orientieren. Das merke Dir für ein andermal, auch wenn Du Erkundigungen unten im Lande einziehst ...
Wir haben seither bedauert, daß Du so zur unrechten Zeit weggegangen, wo Dein schönes Disputationstalent die rechte Kultur gefunden hätte. Es ist nämlich ein französischer Missionar aufgetreten, der in einem halben Hundert Predigten, die er binnen vierzehn Tagen gehalten, viel Beifall und Frucht bei seinen Glaubensgenossen geschafft, aber viel Widerspruch von der andern Seite erfahren. Das wäre eine erwünschte Gelegenheit gewesen, mit dem zweischneidigen Sackmesser so hineinzufahren und bald links und rechts die nötigen Blessuren anzubringen. Inzwischen wird der Himmel auch unten für dergleichen Gelegenheiten gesorgt haben, damit Deine Virtuosität durch Nichtgebrauch sich nicht verliere. Gleich die Malerei in der Aula, von der Du schreibst, ist ein schönes Thema, und Marie schlägt den Bonner Herren, die den Augustinus hinüberziehen wollen, vor, ihn als jungen Menschen, aus den frühern Jahren, wo er noch ein Manichäer war, dort in ihren Himmel zu placieren, womit allerdings allen Parteien genug getan wäre ...
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Straßburg, Februar 1825.
Es ist mir lieb gewesen zu vernehmen, wie ihr nun Frankfurter Bürgersleute geworden. Denn ich kann mich jetzt rühmen, von den wenigen Republikanern, die in Deutschland der Heiligen Allianz entgangen, einige Exemplare zum Vorzeigen in meiner Familie zu besitzen, und dann habe ich Hoffnung, die Nachrichten von euch ... direkt aus erster Hand zu erlangen, so daß ich mit jedem Konkurrenz halten kann ...
Aus allem, was ihr mir von Brentano schreibt, sieht man, daß er vor der innern Bekehrung schon getauft war, darum hat er keineswegs einen neuen Menschen angezogen, es ist eben noch bis in die Tiefe, wohin der Erdbohrer reicht, der alte Klemens von Heidelberg, nur daß die Poesie eine andere Richtung genommen. In jedem Worte, das er spricht, erkenne ich ihn wieder und hätte es zum voraus sagen können. Wie die Bienen frißt er den Honig zuerst, den er in den Blumen findet, und dann, wenn er verdaut und präpariert ist, gibt er ihn durch eine umgekehrte peristaltische Bewegung von sich, und was nun in die Zellen kommt, ist allerdings authentischer, wahrhaftiger Blumenhonig, aber man riecht doch gleich, daß er auch von seinen Säften hinzugetan. So ist in dem, was er sagt, allerdings Allerweltswahrheit, sie ist aber mit seiner subjektiven so stark legiert, daß die Leute gleich hartmäulig und halsstarrig werden, leicht auf den Gedanken fallen, man wolle sie zum besten haben, und da sie doch dazu zu pfiffig sind, so setzen sie sich gleich auf die Hinterbeine und schütten alles miteinander aus und stampfen's unter die Füße. Daß er den Mut nicht aufbringt, hieherzukommen, war leicht vorauszuwissen, daß er seine Furcht für ein Werk der Vorsehung hält, zeigt das schöne Einverständnis, in dem er mit ihr steht; nachdem er ihr zuvor zugewinkt, winkt sie ihm wieder, und er bleibt in Gottes Namen, wo er ist. Was er über meine Sachen im »Katholiken« sagt, hätte er vor siebzehn Jahren auch gesagt; die Elle, mit der er mißt, ist dabei sein eigner Fuß, ich aber messe mit dem meinen. Doch mag er am Ende recht behalten. Grüßt mir ihn vielmal; er könnte wohl auch einmal Arnim schreiben, der sich schon vor einem Jahre beklagte: seit er in die Frömmigkeit hineingeraten, überlasse er seine alten Freunde ihrer Verdammnis.
Haltet Euch gesund und frisch und wohl und munter und gedenkt unser in Liebe.
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Straßburg, 15. Mai 1825.
Daß der kleine Kerl das Haus tyrannisiert, wie sein Vater klagt, ist einmal so hergebracht; sie fangen immer mit der absoluten Herrschaft an, als Studenten werden sie darauf Republikaner und darauf erst ruhige Philister, die nun leicht zu behandeln wären und das Trinknäpfchen nicht schreiend zurückstießen und sich damit begössen, auch nicht blau und schwarz sich überschrien, aber dann sind sie erwachsen und brauchen nichts mehr. Was sein Essen betrifft, so ist die einfache Regel, gebt ihm, bis er satt ist, was sich gewöhnlich sehr deutlich an einem musikalischen Gesprudel zeigt, das sie, ganz nonchalant ausgestreckt, mit dem letzten Löffel Brei im Maule zu treiben pflegen, sagend: ich bin satt, das übrige für die Welt! Wenn er gedeiht, so ist das ein Beweis, daß ihm nichts abgegangen; aber da der Schlund immer größer wird, je mehr er schlingt, so wird freilich der Breitopf sich auch vergrößern müssen. Zu ängstlich braucht man in allem dem nicht zu sein, denn die Natur geht nicht haarscharf auf einem Messerrücken, sondern auf ziemlich breitem Wege ... Daß er die Rhabarbera ausgespien, damit hat er kritisches Talent bewiesen, das sich nicht wie ein teutsches Publikum alles und jedes ins Maul stopfen läßt und dabei immer das gleiche Gesicht macht. In der Nacht haltet nur auf Ordnung bei ihm ...
Über Brentano ist, wie es scheint, der alte böse Dämon der Langeweile wieder gekommen. Solange die Emmerich lebte, war er stationär, weil er immer etwas bei ihr über die andere Welt auszulauern hoffte, jetzt ist die tot, nun kommt das unstete, unruhige Wesen wieder. Es schadet übrigens nichts, wenn er die Sorte erhabener Philister, die in Koblenz auf dem Kasino ihr Wesen treibt, einmal zusammengeschüttelt und ihnen zeigt, daß es noch andere Gattungen von Narren auf Erden gibt, auch einen Verstand, der mehr gilt als der, den sie sich herangezogen.
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Straßburg, 13. März 1826.
Dem Jungen sein Wesen beschreibst Du gut. Ein Feldmarschall wird er, wie es nach seinen ersten Bewegungen scheint, wohl nicht, auch kein Seeheld; die große Bedächtigkeit aber und sein Beobachtungsgeist deutet auf einen Literarus und die große Gerechtigkeitsliebe auf einen Doktor Juris, so daß ihr ihm also füglich mit den Hosen zugleich die Pandekten anschaffen könnt, damit er sich in Zeiten den nötigen Ballast daraus einladen kann. Daß die oberen Schneidezähne so lange ausbleiben, hat auch seine Bedeutung; es zeigt, daß er nicht in die kritische Schule unter die Nagetiere gehört, sondern in die historische, wohin auch die andern Umstände deuten, die ein gutes Gedächtnis versprechen, das viel behält und wenig von sich gibt. Ob er aber ein streitsüchtiger Advokat oder ein gravitätischer Richter werden soll, wird sich erst entscheiden, wenn die Hundszähne kommen; Guido kann ihm einstweilen mit Disputieren ein wenig auf die Zähne fühlen. Das Reiswasser war längst schon bei ihm ganz unnötig, und ihr könnt ihn mit an den Tisch nehmen und ihn mit Gemüse und leichten Suppen weiter auffüttern, und bis die Zähne durch sind, ihn mit gekochtem Obste bisweilen regalieren, wenn aber hernach Durchfall kommt, auch mit Fleischbrühe wechseln ...
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Straßburg, 6. April 1826.
Herzallerliebste Madame und wertgeschätzte Gönnerin!
Ach, allerliebste Frau Görres, was ist das für ein Spektakel im Hause, seit Sie fort sind, und was hab' ich für Verdruß, der mir bald das Herz im Leibe abdrückt. Das ist ein unruhiges Menschenvolk, es kann sich nicht hinlegen und die viere ausstrecken und schnarchen, wie wir Hunde tun, es muß sich immer etwas zu schaffen machen, immer herumhantieren und Dinge treiben, wovon man gar nicht weiß, wofür sie da sind. Sehen Sie, werteste Madame, als es vor acht Tagen spät Morgen wurde, bin ich aller guten Dinge voll aufgestanden und kam in die Stube, um Ihnen wie gewöhnlich ein kurzes Kompliment zu machen und dann nach der Milch zu gehen: da war aber weder Madame noch Milch weit und breit zu sehen. Ich dachte: nun, sie wird sich etwas im Bett verspätet haben, und du mußt dich ein wenig gedulden; ich wartete deswegen und wartete, aber keine Madame kam. Statt Ihnen aber kamen ein paar schmutzige Männer und brachten etwas Gegittertes geschleppt und gaben sich daran, denken Sie sich, liebste Freundin, die Verwegenheit, und hobelten und sägten und hämmerten, wie sie es nennen, mitten in der Stube und machten in einer halben Stunde das ganze Zimmer voll so krauser Dinger, wie die Pudel am Leibe haben, und dabei den ganzen Boden so voller kleinen spitzen Dinger, daß ich nicht mehr wußte, wo ich den Fuß hinsetzen sollte, aus Furcht mich in den Fußangeln zu verfangen und zu verletzen. Ich dachte: wartet nur, bis Madame kommt, die wird euch den Weg weisen, die kann nichts weniger leiden, als wenn man ihr Schmutzereien in die Stube macht; sie lachten aber nur dazu, denn sie mußten wohl wissen, wie es stand. Das war noch nicht alles. Über ein kleines kamen andere Kerle, noch greulicher als die andern, auch zu ihnen ganz grob herein, ohne anzuklopfen, und brachten große Balken und ein Seil und eine Leiter. Ich dachte nicht anders, als der Herr sollte gehenkt werden, und ich sollte das Leiterchen tragen, was ich zwar ungern getan hätte, nicht aber aus Liebe zu meinem Herrn, sondern aus andern Gründen. Als sie's zu toll machten, fuhr ich einmal auf sie los und schimpfte sie tüchtig aus, sie frugen aber gar nichts danach, hörten auch nicht einmal auf mich, weswegen ich denn fortan ganz still schwieg. Der Herr muß auch nichts über sie zu befehlen haben, denn sie störten sich gar nicht um ihn, räumten die Blumen auf die Seite, rissen die Fenster auf und kramten da herum. Nun denken Sie sich meine Lage, schlecht gekleidet und sehr empfindsam wie ich bin und in der empfindlichsten Kälte alle vier Fenster oben und unten auf, dabei die Türe auf und zu und also ein beständiger Zug, so daß ich mich sehr verwundere, daß ich nicht die Gicht davongetragen. Endlich wurde es meinem Herrn doch auch zu kalt, und er machte im kleinen Ofen ein gutes Feuer an, da setzte ich mich, weil ich in den Spänen nicht gehen konnte, auch kein Korb weit und breit zu sehen war, auf den roten Stein, und hatte ich mir die Hachsen müd gehockt, legte ich mich auch ein wenig aufs Kanapee. Seither spazieren immer lange Männer vor den Fenstern herum, und ich bin allzeit in tausend Sorgen, sie brechen einmal durch und massakrieren die ganze Haushaltung; der Herr aber spaziert ganz gleichgültig dabei herum und pfeift und singt; ich begreife den Mann gar nicht. Aus lauter Desperation habe ich neulich mein Frühstück und Mittagessen beides zusammen in einem Zug heruntergefressen. Darauf habe ich nun alle Tage aufgepaßt, ob Sie nicht wieder an einem schönen Morgen da wären oder mittags an Ihrer Stelle auf dem Kanapee säßen, aber es wird immer für einen weniger gedeckt. Anfangs hatte ich den Herrn in Verdacht, er habe Sie in der Stille auf die Seite geschafft, nach und nach aber habe ich aus den Reden, die gefallen, abgenommen, daß Sie auf Reisen gegangen und mein treues Herz im Elend haben sitzen lassen. Ach, welch Unglück ist es doch, ein solch empfindsames Herz zu haben. Nachts flieht der Schlaf meine Augen, und schlafe ich ein, so höre ich immer winseln, und wenn ich erwache, so finde ich, daß ich es selbst gewesen. Darum ist es mir seither oft begegnet, daß ich etwas lang in den Tag hinein schlafe; am vorigen Sonntag habe ich um zwei Uhr nachmittags geweckt werden müssen, was mich doch ein wenig beschämt hat, weswegen ich seitdem früher aufzustehen mich bemühe. Was mich wundert, ist besonders eins: Sie wissen, liebste Madame, daß ich nicht weinen kann; da habe ich zuweilen befürchtet, der viele Praß und die überflüssige Feuchtigkeit möge sich anderwärts hinwerfen, es ist aber noch nicht geschehen, selbst da nicht, als der pockennarbige Mann, ich glaube, sie nennen ihn Hauffe, auch verreist ist, da war der Herr und die Mamsell den Abend vorher dort, es wurde bald Mitternacht, und ich bin beinahe verzweifelt und dachte, die wären auch in alle Welt; endlich kommen sie doch. Sonst kommt nichts Neues vor, soviel ich sehen kann, gestern hat mir die Selmel aus Versehen Sauerkraut zur Suppe und Gries als Gemüse gekocht, das ist aber schon verdaut. Die Ottilie, die mir auch niemals hold gewesen, wackelt noch immer hier herum, sie hat einige kleine Verdrießlichkeiten gehabt; sie muß im Zaum gehalten werden, sonst kann kein Hund mit ihr auskommen ...
Nehmen Sie, herzliebste Madame, mir dies mein ungeübtes Schreiben und meine ungekünstelten Herzensergießungen nicht übel, sobald ich Ihren Aufenthalt erfahren hatte, konnte ich es nicht über mich bringen, ich mußte Ihnen meinen Kritzkratz senden. Empfehlen Sie mich unbekannterweise allen Ihren Freundinnen aufs beste, besonders der Paula mit ihren achtzehn »Nähmädercher«, wäre ich nur dort, da könnte ich immer von einem Schoß zum andern. Kommen Sie ja bald wieder und trösten Sie Ihre verzweifelnde
Finette.
Apropos: meine Streitigkeiten mit den Katzen dauern noch immer fort, unsere Hauswirte sind sonst gute Leute, und ich möchte gerne Freundschaft mit ihnen halten, aber daß sie das Gehängs mit den abscheulichen Tieren haben, gefällt mir gar nicht. Die Bestien tun nichts den ganzen Tag, sie geben sich zwar für Spinnerinnen aus, sitzen aber immer müßig vor den Türen und passen ehrlichen Hunden auf, die an nichts Arges denken. Kaufen Sie mir doch in Frankfurt ein paar mausefarbene Stiefeletten und bringen Sie mir sie mit, die ziehe ich dann an, und wenn die Bestien mir danach hauen und meinen, sie hätten mich getroffen, dann fahre ich ihnen an den Hals und zause sie tüchtig. Schöne Empfehlungen ins Haus ...
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Straßburg, 6. Juli 1826.
Ich schreibe Euch mit roter Tinte; einmal weil Rot die Farbe der Gesundheit ist, und dann, um Euch zu zeigen, wie reichlich die Kastalischen Quellen bei uns in allen Regenbogenfarben springen, was seit Menschengedenken in der dahiesigen Schreibstube nicht der Fall war. Ihr seht daraus, wie hier die Gelehrsamkeit floriert und wie sie sich beblümt. Um so eher hättet Ihr den kleinen Franz mit der Großmutter zur hiesigen Universität ziehen lassen können; er hätte über ein kleines morgens Griechisch mit Schweighäuser, mittags Lateinisch mit dem Professor der Humanoria geschwatzt, und Ihr hättet ihn als einen so grundgelehrten Mann zurückbekommen, daß seine eigne Mutter kein Wort von allen seinen Reden verstanden hätte. Ich meinerseits hätte die Diätetik übernommen und ihn genau nach der Makrobiotit aufgefüttert, so daß er alle Hoffnung gehabt hätte, den letzten Papst Petrus II. und somit das Jüngste Gericht zu erleben, wo, wenn er sich vor den fallenden Steinen zu hüten weiß, die überflüssige Zeremonie des Sterbens und Wiederaufstehens ganz für ihn wegfallen würde. An guter Unterhaltung mit allerlei Kreaturen würde es ihm gleichfalls nicht gefehlt haben. Das Hausinventarium zählt nämlich bei uns bis auf dreizehn Katzen, Salomons Thron mit zwei Löwen auf jeder Stufe war nicht schöner als unsere Treppe, wenn jede Sprosse mit einem Angorakatzenpaar besetzt ist. weiter einige Dutzend Kaninchen, dreißig Enten, drei Züge Hühner, deren Nachkommenschaft jedoch unglücklicherweise größtenteils von den Katzen gefressen worden, ein Flug Tauben, fünf Hunde und hierzu die nötige Anzahl Menschen, um als Dienerschaft für diese ganze Viehwelt einzustehen. Übrigens sind wir jetzt in unsern häuslichen Verhältnissen aufs beste herausgeputzt; bis auf eine kleine Schmutzecke ist alles neu geschminkt und besalbt, und die ganze Renovation ist glücklich zu Ende. Das gibt Euch nun allerdings eine große Chance in Rücksicht auf unser Kommen und Bleiben, denn wie Euch bekannt, habe ich in Koblenz zwanzig Jahre in meinem Hause gewohnt, erst ohne Fenster, dann ohne Türe, dann ohne Treppengeländer, wie aber alles glücklich fertig war, bin ich ausgezogen in die weite Welt hinaus. Ich für mich hätte wenig gegen das Ziehen, aber ich fürchte, die Hiesigen lassen mich nicht fort. Den Abgang der Mutter wird aber niemand mehr hier bedauern als die Schnaken, die eine wahre Nährmutter an ihr verlieren.
Gott behüte Euch alle miteinander.