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Merkwürdiges Schicksal: Der Mann, der genau hundert Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges die Stimme Deutschlands, ja, des wider Napoleon geeinten Europas war, der Mann, den sein dämonischer Gegenspieler Bonaparte eine fünfte Großmacht genannt hat, einer der stärksten Anreger all der Kräfte, die auch heute noch unser nationales und kirchliches, unser politisches und kulturelles Dasein bestimmen, ist fast sechs Jahrzehnte hindurch so gut wie vollkommen vergessen gewesen. Gewiß haben die von seinem Sohne Guido gegründeten »Historisch-politischen Blätter« sein Andenken bewahrt, aber doch nur in der gebildeten Schicht des katholischen Volksteils. Darüber hinaus wirkten alles in allem auch nicht die Erinnerungen an ihn, die in der »Görresgesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland« fortlebten. Die erste Gesamtausgabe seiner Werke durch seine Tochter Marie entsprach nicht den wissenschaftlichen Anforderungen, und die zweite, herausgegeben von Dr. Wilhelm Schellberg, begann ihr Erscheinen erst im Jahre 1926, ohne daß sie bisher hätte vollendet werden können. Nicht zuletzt angeregt durch eine von dem gleichen Herausgeber redigierte Auswahl, die 1911 bei Kösel erschien und heute vergriffen ist, kam die Görres-Forschung erst recht in Gang seit etwa zwei Jahrzehnten, und nun freilich schon in immer steigendem Umfang. Gelehrte und Publizisten wie J. Grisar, Karl D'Ester, H. Dähnhardt, F. Schultz, H. Grauert, Ph. Funk, J. Hashagen, Wilhelm Spael, R. Hoeder und viele andere haben sich mit ihm beschäftigt und die verschiedensten Seiten seines Lebens und seiner Tätigkeit beleuchtet. Die Literaturgeschichte, wenn wir den einzigen Nadler ausnehmen, kennt ihn bis heute nicht. Im allgemeinen Bewußtsein behauptet Joseph Görres bei weitem nicht den Platz, der ihm zukommt, für Millionen von Deutschen harrt sein Andenken überhaupt noch der Auferstehung.
Mag dieses merkwürdige Schicksal sich auch teilweise durch menschliche Willkür, sei es fahrlässige Unterlassung, sei es beabsichtigte Unterdrückung, erklären, tieferer Betrachtung stellt es sich als eine Fügung der Geschichte dar. Der Genius der menschlichen Entwicklung ruft seine Führer, wenn er sie braucht, und so weckt er auch ihr Andenken, wenn die rechte Stunde gekommen ist. Wurde damals durch die Französische Revolution die gesamte zivilisierte Welt erschüttert, von Washington bis Paris und von Paris bis Moskau, so sind auch wir heute in einem Umwandlungsprozeß, der bis an die Wurzeln unserer persönlichen und völkischen Existenz greift. Erhoben sich damals zum Gegenschlag wider den Rationalismus und die Aufklärung eines ganzen Jahrhunderts die Kräfte des Volkstums und der Nationen, so stehen auch wir, und fast alle Völker des Erdkreises, an einer ähnlichen Wende, einer durchaus entscheidenden, durch Geist und Seele bis ins Blut hinabreichenden, wie in jenen Zeiten sämtliche menschlichen Einrichtungen ins Wanken und Schwanken gerieten, wie vor allem die großen Räume von Staat und Kirche, in denen menschliches Dasein sich formt und vollendet, neuartig in Erscheinung traten, wie ihr gegenseitiges Verhältnis vom inneren Geiste her und in der äußeren gegenseitigen Zuordnung sich neu zu konsolidieren suchte, alles Vorgänge, die mit außergewöhnlichen seelischen Spannungen und geschichtlich gewordenen Konflikten verbunden zu sein pflegen, so drängt auch uns die Zeit selber zu Erneuerungen im ganz Primitiven, zu Formen, die aus dem Ursprünglichen wachsen, zu geistigen Haltungen, die dem Ewigen in der Sinngebung alles Menschlichen sich von neuem einzufügen suchen. Gab es damals noch nicht die wirtschaftlichen und sozialen Fragen von heute, obgleich Görres auch schon in das Zeitalter des Dampfes und der Technik überhaupt hineinragte und auch schon dunkel die neuen Probleme empfand, so vollzog sich doch die Emanzipation des dritten Standes, so geschah doch, wenn auch auf anderer Ebene und in geringerer Tragik, etwas dem Verwandtes, was wir heute im Aufstieg von Schichten erleben, die nach Millionen zählen, und deren gesellschaftliche Einordnung eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit ist. Wo immer man Görres' Schriften aufschlägt, da spiegelt sich blitzhaft, in unzähligen Ähnlichkeiten, diese unsere Zeit, es weht einem entgegen urweltlicher Geist, es bläst einen an feuriger Schöpferatem, es greift einen ins Gemüt ein epochales »Stirb und Werde«, es streiten miteinander Geist und Natur, Romantik und Sachlichkeit, Schicksal und Freiheit, Friede und Kampf, Menschheit und Volk, leibhafte Sinnenhaftigkeit und doktrinäre Abstraktion, Todesröcheln des Untergangs und Aufschreie neuen Lebens, Immanenz und Transzendenz, Himmel und Hölle, Gott und Dämon.
In der Tat, die Stunde ist da, daß Joseph Görres auferstehe. Die Idee der Freiheit, die vor allem den ersten Teil seines Lebens beherrscht hat, bedarf von neuem des Heroldes, der sie gegen blinde Gewalt und brutale Despotie verteidigt. Die Idee des Volkstums, die den zweiten Teil seines Lebens befruchtet, ruft nach Verkündern, die das alles nicht von außen sehen, sondern von innen miterleben, die Volk im eigenen Blute spüren, die Volk darüber hinaus als Kulturträger empfinden, die das beste Erbe unserer Väter verjüngt in die neue Zeit tragen, und die überhaupt um die starken konservativen Mächte wissen, die aus den Tiefen der Natur heraus die Freiheit davor bewahren, zur Willkür zu werden. Die Neuordnung unserer gesamten wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verlangt nach Baumeistern, die fähig sind, zerbröckelnde, aber auch neu sich bildende gesellschaftliche Strukturen zu sehen, eben weil ihr Blick geschult ist in der inneren Anschauung der ewigen Formen, wie Dante sie noch besessen hat, wie sie vielleicht ein besonderes Erbe des katholischen Rheinländers ist, wie sie unbedingt erfordert wird, wenn nicht unsere Kultur zur Zivilisation erstarren, wenn nicht geistige Formen in ungeistige Anarchie geraten sollen, wenn wir nicht Trümmer auf Trümmer häufen wollen, sondern vielmehr bauen an der Kuppel der Nation, darüber hinaus die Kuppel weitend zum Riesengewölbe eines Domes, unter dem die Menschheit wohnen kann und glücklich ist. Damit haben wir schon die Hauptstichworte genannt, die den Plan dieser Sammlung kennzeichnen, es ist Görres, der Herold der Freiheit, Görres, der Künder des Volkstums, Görres, der Seher der neuen Form.
Es kann die Aufgabe dieser einführenden Darlegungen nicht sein, das scheinbar außerordentlich verwickelte Leben und Streben des großen Rheinländers in allen seinen Verästelungen darzulegen, vielmehr soll es uns darauf ankommen, das Komplizierte zu vereinfachen, und zwar ohne daß man ihm deshalb Gewalt antäte. Men das zeichnet ja ein wirkliches Genie aus, daß es im Grunde sehr einfach ist, selbstverständlich wie die Natur, die doch andererseits wieder so geheimnisreiche. Ein glücklicher Zufall, oder besser das Urgesetz alles Großen selber, hat dieses Leben in These, Antithese und Synthese geteilt, hat die ewige Dialektik des Geistes in ihm verwirklicht, und zwar so, daß jedesmal ein ungeheurer Auftrieb eine Phase einleitet, während Enttäuschung, Verzicht oder Gelassenheit sie beschließt. Noch ist wichtig, zu bedenken, daß bei dem Wachstum dieser Persönlichkeit keine Schicht der kommenden restlos geopfert wurde, sondern daß die eine sich in die andere erhebt, sich selber dabei lösend und klärend. Das gilt schon von jenen Ideen, die damals in der Französischen Revolution emporloderten und ihren Feuerschein über ganz Europa warfen. Wir wissen, wie damals selbst die besten Männer bei uns erwartungsvoll der Dinge harrten, die einen neuen Tag der Menschheit zu versprechen schienen, wieviel mehr mußte das der Fall sein bei der Jugend, und erst bei der leichtbewegten rheinischen Jugend. Joseph Görres, der Sohn eines Floßhändlers aus dem Mosellande, dessen Gattin italienischen Geblütes war, besuchte damals das Gymnasium seiner Vaterstadt Koblenz. Frühreif, ungewöhnlich begabt, voll sprudelnden Humors, ein Feuerkopf zugleich, gab er sich mit ganzer Seele den neuen Idealen hin, in denen alles, was das Zeitalter der Aufklärung und Humanität, des Fortschritts und der Wissenschaft gesonnen und gesponnen hatte, sich in einem Rausch von Menschheitsbeglückung zu erfüllen schien. Die »veredelte Menschheit«, das war der »Fixstern«, der ihm damals vor Augen stand. Der junge Jakobiner war bereit, diesem Fixsterne, zu dem er mit Rousseauscher Gläubigkeit emporschaute, alles zu opfern, was so viele Jahrhunderte hindurch immerhin das Haus des deutschen Volkes und ein Träger der abendländischen Ideen gewesen war. Mit beißender Ironie verkündet er es seinen Mitbürgern: »Am 30. Dezember 1797, am Tage des Überganges von Mainz, nachmittags um 3 Uhr, starb zu Regensburg, in dem blühenden Alter von neunhundertfünfundfünfzig Jahren, fünf Monaten, achtundzwanzig Tagen, sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenem Schlagfluß, bei völligem Bewußtsein und mit allen heiligen Sakramenten versehen, das Heilige Römische Reich, schwerfälligen Angedenkens.« Damals begannen sich in seiner Seele jene Träume zu regen, die um den Kern des Rheinlandes das alte Mittelreich wieder entstehen lassen sollten, das einst zwischen Ost- und Westfranken sich von Nord nach Süd erstreckte. Das neue Reich sollte es sein, aus der anfänglichen Verknüpfung mit Frankreich befreit und zur Führung des ganzen östlichen Deutschland bestimmt. Man darf in diese schwärmerische Jugendbegeisterung nichts von den Empfindungen hineintragen, die in unseren Tagen bei jedem Deutschen dabei wachgerufen werden. Das Wort Freiheit ist niemals als ein von allen weiteren Werten getrennter Begriff in der Seele eines Menschen, es ist vielmehr immer verbunden mit dem spezifischen Gehalt eines Volkstums und einer Kultur. So, wie der junge Görres es spricht, ist es durch und durch deutsch, ja, schon jetzt in einem Keime wirkend, der erst später die Eigenart seines Wuchses verraten soll. Unbeschreiblich war daher auch die Enttäuschung, die den jugendlichen Stürmer befiel, als er die französische Wirklichkeit, die zu seiner Freiheitsidee gehörte, in Paris selbst zu sehen bekam: «Ich sah die Schauspieler entkleidet hinter den Kulissen. Die Menschen hatten so viel zu tun, untereinander zu beobachten, sie hörten auf, sich selbst zu bewachen. Die Leidenschaften, losgebunden von der Kette, in die der gesellschaftliche Anstand sie schlug, tummelten sich auf der leeren Bühne umher und achteten wenig der unbefangenen Zuschauer, die verwundert dem Bacchanale zusahen.« Man staunt bei der Beobachtung, wie schnell dieser junge Mensch umlernte, und er selbst sieht sich genötigt, uns darüber aufzuklären. Eigentlich kann man von einer Änderung seiner Anschauungen nicht sprechen; denn nicht die Idee der Freiheit an sich wurde in ihm erschüttert, sondern nur das Paradigma ihrer Verwirklichung in einer Revolution, die allzu schnell im Despotismus endigte. Bewundernswert die Unerschrockenheit, mit der Görres die Mitbürger, die ihn als Beschwerdeführer nach Paris geschickt hatten, über all seine Erfahrungen aufklärt. Es ist dieses jene männliche Tugend, die den unermüdlichen Kämpfer bis ans Ende seiner Tage begleitet hat, eine Tugend, die nicht nur eine sorgsam gehütete Privateigenschaft war, sondern eine ihrer Natur nach für die Öffentlichkeit bestimmte, eine wahre Bürgertugend, der Wesenszug eines Publizisten, der sich als das laut sprechende Gewissen der öffentlichen Meinung betrachtete. Schon im »Roten Blatt« und im »Rübezahl«, den ersten journalistischen Unternehmungen des kaum Gereiften, hatte sich diese Bürgertugend in einem erhabenen Pathos offenbart, das wie eine heilige Flamme immerfort aus Programmen und Artikeln emporschlug. Im innersten Wesen einer solchen Publizistik liegt jene Verbindung von gedanklicher Klarheit und moralischer Wucht, die das Ergebnis solcher Bemühung deutlich, vom rein wissenschaftlichen, wie vom rein Künstlerischen, scheidet, die es als einen Typ für sich hinstellt, eben als Publizistik höherer Ordnung. Der Inhaber dieser Gabe faßt sein Amt als prophetische Sendung auf, als eine durch nichts und durch niemand zu ersetzende Funktion im Volksganzen und in der Kultur, fühlt sich frei wie ein Gott und herrscherlich wie ein Fürst.
Schon durch seine journalistische Tätigkeit in Koblenz dazu erzogen, scharf zu beobachten, sofort Schlüsse zu ziehen und in bewußter Führerschaft vorwärts zu drängen, setzt Görres sich schnell auseinander mit der plötzlich veränderten Lage. Er ist nicht blind für die wahren Werte, die im Schrecken der Revolution doch schließlich ihren Durchbruch vollendet hatten. Aber er ist sehend geworden den Unzulänglichkeiten gegenüber, die solchem Geschehen anhaften. Überschwang der Freiheit muß in Terror enden. Weltbürgertum, nur von einer Abstraktion her entwickelt, muß scheitern, sobald die Verschiedenheit der Nationen ihre Rechte geltend macht. Erneuerung der Menschheit, wie kann sie vollzogen werden, wenn nicht in einer Erneuerung der Säfte, die von Anfang an den Organismus der einzelnen Völker geschaffen und durchblutet haben! Anders in der Tat, als es diese Revolution versucht hat, muß das Ideal der Freiheit verwirklicht werden. Wie so mancher Deutsche vor ihm und nach ihm, hat Görres in Paris das eigene Volt und seine Geschichte neu sehen und neu lieben gelernt. Das Fremde, indem es deutlich ins Bewußtsein trat, hat die eigene Art eben dadurch auch zum klareren Bewußtsein gebracht. Görres beschließt, seine Tätigkeit zu ändern, in aller Stille sein Wissen vom eigenen Volk zu vertiefen und so auf gesundere Art die Ideale seiner Jugend zu verwirklichen.
Wieder schlägt eine Begeisterung in unserm Helden empor, und zum zweitenmal wird er die Erfahrung machen, wie sehr die Dinge sich im Räume stoßen, die im Reiche der Idee leicht und schimmernd ihren leuchtenden Gestaden zustreben. Äußerlich in der Stellung eines bescheidenen Lehrers, studiert Görres nun mit hingebendem Eifer die Philosophen des deutschen Idealismus, vertieft sich in Kunst und Poesie und saugt in vollen Zügen jene romantische Luft ein, die damals wie ein junger Lenz über die deutschen Gaue strich. Man könnte den Görres dieser Zeit einen Romantiker nennen, insofern romantische Wesenszüge jetzt vor allem an ihm sichtbar werden. Dennoch wäre es verfehlt, dieser Bezeichnung einen umfassenderen Sinn zu geben, denn Romantiker in der spezifischen Bedeutung des Wortes, und namentlich in seiner Begrenzung, ist Görres nie gewesen. Dafür war er zu sehr Tatsachenmensch, zu nüchterner Politiker, zu sehr rastloser Kämpfer. Alle Regungen jener Zeit hat dieser gewaltige Mann in sich aufgenommen, gelehrig und souverän zugleich, nur einem doch irgendwie ferne bleibend, nämlich Goethe. Was die beiden schied, war vielleicht ähnlich dem, was später das Junge Deutschland von Goethe getrennt hat. Sicher ist, daß die stille Klarheit und die weise Mäßigung, die wir an Goethe bewundern, Görres nicht im gleichen Maße beschieden war. Dafür liegen freilich in ihm Schwergewichte metaphysischer und intellektueller Werte, die wir bei Goethe schmerzlich vermissen. Beide Welten in eins zu weben, ging damals wohl über Menschenkraft, kann überhaupt nur das Ergebnis langen, tragischen Ringens sein und bleibt vielleicht immer nur ein leuchtendes Fernziel der nun einmal in sich gespaltenen deutschen Seele, ja, der Menschheit überhaupt.
Von den Philosophen hat Schelling mit seiner Naturphilosophie Görres am stärksten beeinflußt. Innerlich verwandt fühlte er sich Herder, Jean Paul und Hölderlin, deren Werke er feinsinnig bespricht und kraftvoll verteidigt. Im übrigen zeigen seine Briefe, wie ausgedehnt und bedeutend sein Interessen- und Freundeskreis war.
Für eine kurze Weile, nämlich während der Privatdozentur an der Universität Heidelberg von 1806 bis 1808, fließt der reißende Strom dieses Lebens nun in einem lieblichen Idyll dahin. Eichendorff erzählt uns, welchen Einfluß Görres in Heidelberg auf die Jugend ausgeübt habe, wie er besonders in der Freundschaft eines Meisters mit seinen Jüngern die Herausgeber von »Des Knaben Wunderhorn«, Achim von Arnim und Klemens Brentano, liebgewonnen. Eichendorff stellt die Charaktere dieser beiden so verschiedenen Romantiker einander gegenüber und schildert uns, wie es in Görres' einsamer Klause zuging, »wo die Freunde allabendlich einzusprechen pflegten; und man könnte schwerlich einen ergötzlicheren Gegensatz der damals florierenden ästhetischen Tees ersinnen als diese Abendunterhaltungen, häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis tief in die Nacht hinein; wie da die dreie alles Große und Bedeutende, das je die Welt bewegt hat, in ihre belebenden Kreise zogen und mitten in dem Wetterleuchten tiefsinniger Gespräche Brentano mit seinem giftsprühenden Feuerwerk dazwischenfuhr, das dann gewöhnlich in ein schallendes Gelächter zerplatzte.« Schöneres und Ergreifenderes ist über die Poesie des Volkes, über Sage und Legende, über den ganzen Geist des Mittelalters nicht geschrieben worden als das, was aus Görres' Feder floß. Die Besprechungen des Faust, der Genoveva, des Eulenspiegels, der Haimonskinder zeigen nicht nur den höchst scharfsinnigen Kritiker, nein, sie verraten einen Menschen, der seine Wurzel im Boden der Heimat hatte, der der Wälder Rauschen und der Ströme Brausen in sich selber fühlte, der urverwandt war der Blume und dem Getier, ja, allen den Elementargeistern, die in der Tiefe der Berge und der Verborgenheit der Täler, in deutscher Landschaft weben und schweben. Dieser Mann war eigentlich immer, was er schrieb, was man von Brentano sagte, nicht er habe die Poesie, sondern die Poesie habe ihn, gilt in einem noch tieferen Sinne von Görres, in dem die Bedingung des romantischen Genies, daß es nämlich gleich Natur sei, sich vollkommen erfüllte. Nicht zu lange dauerte dieses Idyll. 1808 ist Görres bereits wieder in Koblenz, und zwar als Gymnasialprofessor. Der Sturmschritt der Napoleonschen Heere hat inzwischen schon begonnen, den Boden Europas zu erschüttern. Das Idyll der Heidelberger Romantik wird in der Ferne begleitet vom Schlachtendonner bei Jena. Görres aber sinnt in der Stille über die moralischen Kräfte nach, die Deutschland vom Joch eines Zwingherrn befreien könnten, dem doch nur zu vergewaltigen bestimmt war, was sich selber zu regieren die innere Kraft nicht mehr besaß. Bis seine Stunde kam, bis die Regierung selber ihn rief, im Jahre 1814, den »Rheinischen Merkur« herauszugeben und mit seinem starken Worte die in Frankreich kämpfenden Armeen zu begleiten. Damals, so darf man wirklich sagen, war in seinem Lager Deutschland. Die ganze verborgene Glut der stillen Studienjahre bricht nun auf einmal hervor. Riesenhaft wachsen dem Manne die Kräfte, wo der Glaube an Deutschland mit jedem Sieg über Napoleon steigt, wohin diese Flamme dringt, da schmilzt alles Unechte weg, und schlackenlos bildet sich das reine Metall der aus echter Freiheit geborenen Gesinnung der deutschen Volksgemeinschaft. Aller deutschen Stämme Eigenart und Kraft glüht in diesem Worte auf, das nur ein Deutschland kennt und ein Volk in seiner neuen Freiheit. Wir wissen, wie damals die Botschaften des »Rheinischen Merkur« zu Staatsmännern und Feldherren gelangten, wie sie den Geist der Frontkämpfer belebten und das vaterländische Gefühl der Heimat. Nie hat der deutsche Adler so seine Schwingen gehoben wie in diesem aus Blut und Seele des rheinischen Kämpfers aufsteigenden Prophetenwort.
Der Sieg ist erfochten. Die Begeisterung sinkt. Das Leben muß sich in den Alltag zurückfinden. Der deutsche Philister, den Görres so gut kannte, legt sich wieder auf die Bärenhaut. In den Zusammenkünften der Diplomaten stellt sich das Interesse des einzelnen über das gemeinsame Schicksal, wenn es nach Görres gegangen wäre, so hätte nun erst die Arbeit begonnen. Was er mit Friedrich von Schlegel und mit Adam Müller wollte, das war eine Verfassung, wie sie den Forderungen der Zeit entsprach. Das Volk hatte gekämpft, und Fürst und Volk hatten ein gemeinsames, gewaltiges Erlebnis gehabt. Feierliche Versprechungen warm gegeben worden. Der Volksstaat mußte kommen, die demokratische Verfassung, mochte auch die Monarchie einstweilen die der Entwicklung gemäßeste Form bleiben. Stände sollte es geben, ein wohlgegliedertes Ganze, wie es der Organismusidee entsprach, die Görres schon in den Tagen seiner Jugend entwickelt hatte. Nichts von all dem aber wurde verwirklicht. Mag man den Fürsten und Metternich, den wir übrigens heute in hellerem Lichte sehen als noch vor zehn Jahren, zugute halten, daß die Geister der Revolution sich allzu ungebärdig austobten, war Görres auch selbst sich der Weisheit des Augustinuswortes bewußt, daß nämlich die Demokratie nur einem tugendhaften Volke geschenkt werden dürfe, so bleibt es doch eine ergreifende Tragik, daß gerade jener Mann als Flüchtling aus dem Lande weichen mußte, der mehr als alle seine politisch gleichgerichteten Freunde die sittlich-moralische Erneuerung des Volkes als die Grundlage jeder andern bezeichnet hatte, und daß jene Macht sich bereitete, ihn auf irgendeine Festung zu bringen, die mehr als jede andere zum Siege beigetragen, deren geistiger Erneuerer Hardenberg und Freiherr vom Stein in ihren Grundanschauungen Joseph Görres so sehr verwandt waren. Hatte also dennoch jener Geist gesiegt, der Geist des Absolutismus, den der Verfasser des napoleonischen Manifestes in seiner ganzen brutalen Nacktheit so meisterhaft und vernichtend gezeichnet hatte? Oder dachte Görres auf dem Wege nach Straßburg über jenen »furchtbaren Satz«, wie Nadler ihn nennt, nach, den er selber in seiner Schrift über »Teutschland und die Revolution« geschrieben hatte, den unmittelbaren Anlaß jenes Haftbefehls: »Revolutionen sind wie der Tod, vor dem nur Feige zagen, mit dem aber nur die Frivolität zu spielen wagt. So furchtbarer Bedeutung sind diese Katastrophen in der Geschichte und so ernsten Inhalts, daß nur Verrückte oder verzweifelte sie herbeiwünschen mögen. Eine Staatsumwälzung kann einzig das Werk der Leidenschaften sein«?
Tiefe Menschen bringt ein Mißgeschick niemals zur Verzweiflung. Es durchstößt ein Schicksal immer nur eine neue Schicht, die bis dahin ungebrochen in der Seele lag. Hatte die Desillusionierung in Paris den Freiheitskämpfer nur dahin gebracht, die Hohlheit des liberalistischen Weltbürgertums zu durchschauen und zum Realeren und Wurzelhafteren, nämlich zum Volkstum und zur Nation zu kommen, so läßt ihn neue Prüfung auch dieses Ideal auf sein eigentliches Kernstück untersuchen. Görres wendet sich der Religion zu. Auch hier haben wir keinen absoluten Neubeginn. Auch hier beginnt nur plötzlich etwas zu wachsen, das als verborgene Energie schon länger spürbar geworden war. Bereits 1810 hatte Görres geschrieben über den »Fall der Religion und ihre Wiedergeburt«, eine Schrift, die ganz von romantischer Sehnsucht nach Religion durchdrungen ist, ohne daß sie die religiöse Wahrheit seines katholischen Bekenntnisses schon zur vollen Entfaltung brächte. Noch werden die Unterschiede, die zwischen Katholizismus und Protestantismus obwalten, sowie auch die Stellung der Kirche dem Staate gegenüber nicht deutlich gesehen, wie hätte das auch möglich sein sollen, ist doch Görres in einem religiös völlig indifferenten Milieu aufgewachsen, und ist doch die Religion lange Zeit hindurch ihm fremd oder gleichgültig gewesen. Die Ereignisse der Zeit haben ihn nachdenklich gemacht, Freunde weckend auf ihn gewirkt, der katholische Zug in der Romantik hat auch ihn ergriffen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sein erstes großes religiöses Werk, die »Christliche Mystik«, in vieler Hinsicht romantische Züge trägt. Viel Krauses ist darin, viel Teufelsspuk und allerlei Magie, will man das Romantische darin auf eine feste Formel bringen, so ist das nicht leicht, denn was ist Romantik? Seinem Bruder schrieb Friedrich Schlegel, der Trommelschläger dieser Romantik, auf eine ähnliche Frage einst: »Meine Erklärung des Wortes Romantisch kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie – 125 Bogen lang ist!« Man fühlt es mehr, als man es sagen kann, empfindet auch Worte besonders treffend, wie sie etwa Novalis geprägt hat: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« Dieses Geheimnisvolle, diese Sehnsucht nach dem Unendlichen, dieses Ahnen des Wunderbaren, das pflegen wir schon religiös zu nennen, und es ist auch religiös, wenn auch mehr im Natursinne. Indem die Romantiker der Freidenkerei der Enzyklopädisten und jeglichem Rationalismus gegenüber diese Werte wieder zur Geltung brachten, mochten sie sich als Stifter einer neuen Religion ausrufen. Indem sie dem Rätsel des Lebens nachgingen, es in seine Polaritäten auflösten, es in seinen organischen Bezügen wieder vereinigten, es in ungeheuerlichen Theogonien sich entwickeln ließen, es mit den Geheimnissen der Offenbarung, der Trinität selber, verquickten, mochten sie glauben, schon mitten im Christentum zu stehen. Auch jene, die tatsächlich die neue Wesensart der Offenbarungsreligion erkannten, die eben nicht aus den Abgründen der Immanenz stammt, sondern aus dem Wort einer anderen, einer transzendenten Welt, und deren Geheimnisse ihren eigenen Kreis haben, mag man auch für ihn Analogien im Naturbereich finden, führten doch noch immer viel gnostisches Gut mit sich, das heißt, sie versuchten doch die übernatürlichen Geheimnisse, die der Gläubige nur im Glauben hinnimmt, und von denen er grundsätzlich bekennt, daß sie über jede Forschung der Vernunft erhaben sind, wenn sie ihr auch gleichwohl niemals widersprechen, irgendwie aus der Natur und aus dem Menschengeiste abzuleiten. Ihre Symbole waren und blieben Natursymbole und wurden für christlich einzig darum ausgegeben, weil sie in einem seltsamen mystischen Glanz aufleuchteten. Nur wenige Romantiker drangen zur letzten Klarheit, obgleich auch noch bei den bedeutendsten von ihnen, etwa bei Friedrich von Schlegel oder bei Görres, irgendein krauses Gewölk vor der Sonne stehenbleibt. Wie sehr sich Görres um letzte Klarheit hier bemüht hat, zeigen seine Studien über Glaube und Wissen, beweisen bei ihm auch die Untersuchungen über Gebet und Aszese, offenbaren vor allem seine Arbeiten über das Verhältnis von Staat und Kirche. Recht hat Nadler, wenn er von dieser letzten langen Epoche sagt, daß sie im Zeichen des Logos stehe. Es begegnet uns öfter das Wort Staat an Stelle von Volk, ist doch der Staat die geistige Form, in der ein Volk die Höhe seiner Existenz erreicht. Es heißt jetzt nicht bloß mehr Religion, sondern Kirche, denn auch da ist das Unbestimmte und Fließende in das feste geistige Gepräge aufgenommen worden. Dieser Problemkreis mußte ihn auch darum beschäftigen, weil er doch in gerader Entwicklung aus seinem ganzen Lebenswerk erwuchs. Das deutsche Volk wollte Görres aufbauen, ihm der weitschauende Architekt sein, ihm die Einheit und die Geschlossenheit geben. Die Freiheit wollte er begründen, die immer wieder der Willkür und dem Egoismus kleinlicher Interessen zum Opfer fiel. So kam er schließlich zu jenem Weltbild, in dem die Kirche als die berufene Hüterin der Religion, der höheren Sphäre also, dasteht. In ihr bindet sich der Mensch an die Ideale seines Glaubens. Also in den Fundamenten der Sittlichkeit gestützt und gesichert, ist der Mensch imstande, die Freiheit richtig zu verwalten, die ihm ausgiebig in der Sphäre des Staates verliehen werden soll. So ist denn der Staat selbständig in seinem Bereich und in ihm nur Gott verantwortlich, ist aber andererseits die Kirche genau so selbständig in ihrem Bezirk und auch in diesem nur Gott verantwortlich. Indem aber die Güter, die der Kirche anvertraut sind, einer höheren Ordnung angehören, indem sie die innere Garantie auch für jene ethischen Fundamente enthalten, auf denen der Staat ruht, so ist sie bei aller Trennung der verschiedenen Aufgaben doch dem Staate übergeordnet, eben dadurch der beste Garant seiner Freiheit.
Wie es denn nicht anders zu erwarten, bricht nach langer Stille, die der ruhigen Arbeit an der Universität in München geweiht ist, der alte Kämpfer wieder durch, doppelt furchtbar, nachdem seine Energie eine um so geistigere geworden ist, je mehr er sich in die Höhe des reinen Gedankens erhoben hatte. Alle Angriffe einer leidenschaftlichen Natur müssen sich ja in dem Maße steigern, als die Motivkraft, die sich in der Leidenschaft entlädt, an geistiger Wucht und an Glaubensüberzeugung zunimmt. Der Mann, der in den Kölner Wirren, als man den Erzbischof von Köln mit Polizeigewalt abführte, dem Mißbrauch der Staatsomnipotenz entgegentrat, hat schon etwas von der markigen Kraft der alttestamentlichen Propheten, etwas von dem Geiste, der Johannes vor Herodes sprechen ließ: »Es ist dir nicht erlaubt«, etwas von der antiken Größe des Ambrosius, der dem gebannten Kaiser an den Pforten der Kirche den Eintritt verweigerte, etwas von der Unbeugsamkeit des siebenten Gregor, der Heinrich IV. nach Canossa zwang. Modernem Denken scheint dieses eine Vergewaltigung der Freiheit zu sein und ein Übergriff kirchlicher Gewalt. Auf die Länge der Jahrhunderte gesehen, die aus Görres spricht, aber bedeutet der Machtanspruch der Kirche, solange sie auf ihrem Gebiete bleibt und weltlichen Händeln fern, nur eben die Behauptung einer höheren religiös-sittlichen Macht gegenüber einer irdisch-materiellen, die Anwaltschaft der Hoheit des Geistes gegenüber jedem tyrannischen Mißbrauch. So hat Görres die Dinge gesehen, der nie ein Fürstendiener in knechtischem Sinne gewesen ist, weder im Staate noch in der Kirche.
Wie rein und wie innerlich und ganz und gar nicht fanatisch das große Buch »Athanasius« aus dem Innersten von Görres' Seele emporgewachsen ist, das zeigt sich am klarsten, wenn wir die Linie, die hier aufgipfelt, bis in ihre letzten Ausläufer verfolgen. In den vierziger Jahren feierte das katholische Deutschland die »Wallfahrt nach Trier«. Es war ein Ereignis, das über eine Million von Menschen, für die damalige Zeit eine ungeheure Zahl, in Bewegung fetzte. Görres schrieb darüber, wie er immer die großen Stunden seines Volkes als Stimme des Gewissens gewürdigt hatte. Wie ein großer Schlußsatz, der noch einmal alle Motive einer gewaltigen Symphonie in rollenden Akkorden sammelt, so wirkt diese Schrift, die wie ein Jubel der freien Kirche im freien Staate klingt, in der die Größe des Gegenwartserlebnisses in malerischen Tönen als ein Volksfest voll Einheit, voll Schönheit und Weihe, als ein Tag aller deutschen Stämme und der vielfarbigen deutschen Landschaft uns vor die Seele tritt, in der das Echo von Sage und Geschichte das längst Entschwundene in das immer noch Lebendige hineinruft, in der das Wissen sich im Glauben vollendet, die Seele sich im festlich geschmückten Körper offenbart, in der Fanfarenstößen gleich ein Osterhymnus der siegreichen Kirche über allen Trug und alle Freigeisterei emporsteigt. Durch und durch katholisch ist diese Schrift, von einem Verfasser allerdings, der auch in seiner glaubenseifrigsten Zeit, und gerade in ihr, wunderbar von der Bedeutung und vom Schicksal der Reformation spricht, der dem preußischen Staate seine Anerkennung nicht versagt, der tolerant ist aus Charakter.
Es kann hier nicht weiter ausgeführt werden, welche Rolle Görres in der von Bayern ausgehenden katholischen Restauration gespielt hat, zumal diese Periode der Kultur- und Kirchengeschichte noch wenig erforscht ist. Jedenfalls war er einer der Bahnbrecher der politischen und kulturellen Emanzipation der deutschen Katholiken. An der Schwelle neuer Revolutionen ist er hinübergegangen. Von dem Antlitz, dem des Münchener Professors, der als Greis noch die studentische Jugend bezauberte, sagt Hebbel in einer Aufzeichnung vom 27. September 1846 in seinem dritten Tagebuch: »Sein Gesicht ist eine Walstatt erschlagener Gedanken.« Was Hebbel noch hinzufügt, mag seiner Jugend verziehen sein.
Entwicklung und Struktur, wie sie bei allem Wogengang doch in vollkommener Einheit und Folgerichtigkeit in Joseph von Görres geworden sind und sich endlich im vollmännlichen Charakter geprägt haben, stehen vor uns. Die Briefe, die für sich selbst sprechen, erfüllen diese Formen mit dem Reichtum der Menschlichkeit und des Gemütes. Will man diesem großen Leben ein Symbol geben, das seiner würdig ist und das am besten seinen Gesamtsinn ausspricht, so ist es der deutsche Rhein, an dem niemand vor ihm und nach ihm die Wacht gehalten hat wie Joseph von Görres.