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Anna Krause erwachte am Morgen nach dem Abtanz in glückseliger Stimmung. Ballerinnerungen, Onkelverlobung, Zukunftsbilder mit dem Mittelpunkt Hilde kreisten um sie her. Auch war Kurt schon am frühen Morgen bei Hennings gewesen und hatte von Mike den Bescheid erhalten, Papa schlafe noch sehr gut und werde nicht geweckt, bis Onkel Doktor komme. »Fein,« sagte Anna vergnügt, »der Tag läßt sich herrlich zum Festtag an, innen Behagen, und draußen, anstatt des gestrigen Wettergezauses, die ausbündigste Herbstpracht. Nun werde ich noch einen Goldregen für meine Fischersfrau erwirken, dann können wir mitten hineinsegeln in die Glückseligkeit.«
So bald als möglich machte sie sich auf den Weg zu Frau Schmieding, wo allsonntäglich der Ausgabeplan für den Verein gemacht wurde.
Die Damen waren schon versammelt. Man ließ Anna ein, und sie hatte das unbehagliche Gefühl, als sei eben von ihr gesprochen worden. Auf dem Sofa saßen Frau von Rohr und Frau Bürgermeister Lenz, daneben Eugenie mit der Tante Suppenrechnungen; Iduna stand ein wenig seitwärts vor der Mutter Pult und schrieb auf, was ihr bald die, bald jene der Vorstandsdamen zurief.
Bazar, Tanzstunde und der Vereinsverkehr hatten Annas Unbeholfenheit längst gemindert; als sie aber jetzt, von Frau Schmieding begrüßt, zu den Sofadamen schritt, kam plötzlich die alte Befangenheit wieder – die Damen sahen sie gar so wunderlich an –, und sie trug ihre Bitte so ungeschickt vor, daß es beinahe anmaßend klang.
»Ist das nicht die verwitwete Frau Kirst, deren Mann draußen am breiten Wehr Fischer war?« fragte Frau Lenz gemessen.
Anna bejahte eifrig.
»Diese Frau bekommt doch schon Suppenunterstützung?« fragte Frau von Rohr, die sehr ernst und in gerader Haltung auf ihrem Platz saß.
»Ja.«
»Und ihre Kinder haben Freistellen in der Bürger- und Kleinkinderschule!«
»Das ist freilich etwas viel,« bemerkte Frau Schmieding, in ihrer Liste nachschlagend, »indessen –«
Anna wurde warm: »Sie muß künftige Woche die Miete zahlen, die der Wirt ihr bis dahin gestundet hat, dazu fehlen ihr dreißig Mark, und die Sorge um das Geld läßt sie nicht gesund werden, denn bezahlt sie nicht, jagt sie der Hauswirt auf die Straße; er ist ihr nicht gut gesinnt, er gönnt den Kindern die Spielschule nicht, ich habe selbst gehört, daß er sagte, dem armen Volk ginge es zu gut, schon als wir der kleinen Ida einen Weihnachtsbaum hintrugen. Er ist viel zu geizig, sich selber und seinen eigenen Kindern eine Freude zu machen, und die Kirst fürchtet sich vor ihm und weint und grämt sich, trotzdem der Arzt Ruhe verlangt. Da hab' ich ihr gestern versprochen, der Verein werde helfen.«
»Sie haben das versprochen?« fiel hier Frau Bürgermeister Lenz ärgerlich ein. »Mein bestes Fräulein, das war doch mindestens sehr voreilig. Sie werden nun die Schuld einer Enttäuschung zu tragen haben.«
»Ach, Sie können die arme Frau nicht enttäuschen,« bat Anna; »sie hat gar kein Geld im Hause; was soll denn aus ihr werden? Und der Verein ist so reich.«
Aber die Frau Bürgermeister blieb fest, es sei ein Zeichen von schlechter Wirtschaft, sagte sie, daß die Frau nichts für die Miete zurückgelegt habe, derlei dürfe man nicht unterstützen. Man könne der einen auch nicht alles zuwenden – täglich würden von angesehenen Personen dem Verein Schützlinge empfohlen – Frau Kirst sei verwöhnt und dürfe es nicht mehr werden.
Frau von Rohr und Frau Schmieding stimmten der Bürgermeisterin bei, die am besten im Ort Bescheid wissen müsse, und Anna fühlte, daß auch weitere Bitten hier nichts erreichen würden. Der kühle Ton der Damen machte sie ganz bestürzt. Da sie Iduna voller Absicht unbeachtet gelassen hatte, konnte sie deren teilnehmender Blick nicht trösten. Sie sah nur Eugeniens spöttisches Lächeln, und gerade als Iduna ihr etwas zuflüstern wollte, wurde draußen die Flurglocke gezogen, die Dienerin erschien in der Zimmertür und holte die Helferin hinaus.
Anna stand noch einen Augenblick voller Unbehagen inmitten der Stube, dann machte sie den Damen eine stumme Verbeugung, sah über Eugenie weg und ging; niemand hielt sie zurück.
Iduna war nicht im Vorsaal; aus einem Nebenzimmer klang ihre flüsternde Stimme im Wechsel mit einer andern, die Anna bekannt schien, aber sie achtete nicht darauf; zornig und bekümmert eilte sie nach Hause und rief ihrer Mutter entgegen, was geschehen war.
»Mir scheint, mein Töchterchen, Frau Kirst hätte in der Tat etwas sparen sollen, aber ich will selbst einmal zu ihr gehen.«
»O Mama! Wenn die Damen sich nur wenigstens hätten erkundigen wollen und dafür sorgen, daß der Hauswirt nicht häßlich mit der Kranken umgeht, was Frau Lenz mit ein paar ernsten Worten erreicht haben würde. Aber das war ihnen alles gleichgültig; sie sind entsetzlich herzlos. Und Eugenie hat auch noch gelacht; sie hat geradezu einen schlechten Charakter. Ich mußte ihr gestern die Wahrheit sagen, das haben sie und Tina Rohr übelgenommen – ich glaube beinahe, sie haben mich verklatscht und deshalb, nur deshalb bekommt die arme Kirst keine Hilfe; es ist gar zu schlecht.«
Anna hatte in feurigem Zorn gesprochen, den Hut schwang sie in der Hand, und die klaren Augen funkelten.
»Anna, Anna,« sagte die Mutter bekümmert, – »sei nicht so selbstgerecht. Ich finde dich jetzt mit aller Welt in Widerstreit und Gegensatz. Sollte es nie an dir liegen? Wie kommst du denn dazu, Eugenien die Wahrheit zu sagen? Ich sehe auch Lili jetzt so selten bei dir, Lili, die so sehr für dich schwärmte.«
»O Mama!« rief Anna, und das Funkeln in ihren Augen wurde feucht, »das tut mir doch am allermeisten leid. Aber Lili ist zu dumm; der Reichtum Schmiedings läßt ihr keine Ruhe, sie drängt sich dort geradezu ein.«
»Schmiedings sind gar nicht so übertrieben reich; sie sind nach Amsel gezogen, weil sie in Dresden über ihr Vermögen gelebt hatten.«
»So? Aber Lili denkt's, und der Putz- und Geldwahnsinn hat die ganze Lili verdreht.«
»Ei, Anna,« sagte die Mama und stand von ihrer Arbeit auf, »wie ist denn das gekommen? Du hattest doch sonst so viel Einfluß auf Lili, und gerade, daß sie ein wenig oberflächlich war, machte sie dir besonders lieb. Du hattest da solch angenehmes Gefühl, zu geben und zu bilden. Wo ist das alles hingekommen? Du warst die Stärkere in dieser Freundschaft, auf dich kommt also die Schuld, wenn Lili auf falsche Wege geraten ist, auf dich der Vorwurf, daß du deinen Einfluß schlecht genützt hast.«
Anna war betreten. – »Meinst du wirklich?« sagte sie zögernd, »ich –«
»Ueberlege dir das, als mein verständiges Töchterchen, und geh nicht so leichtsinnig mit Freundschaft und Neigung um.«
Von unten drangen in diesem Augenblick Stimmen herauf; des Professors Baß tönte den andern vor: » Beatus ille,« rief er fröhlich, »seid mir gegrüßt, ihr Glücklichen.«
»Da bringt Onkel Fritz seine Braut,« unterbrach sich die Mutter fröhlich, und Anna fiel ihr jubelnd um den Hals. »O, ich bin sehr, sehr glücklich und alles, was du gesagt hast, will ich nicht vergessen.«
Sie gingen zusammen hinaus, die Kommenden zu begrüßen. Anna aber faßte plötzlich heftig der Mutter Hand, denn an des Onkels Seite ging nicht Hilde, sondern Iduna.
»Die! – O Mama, doch nicht die?« rief Anna aufschluchzend. »Ich denke Hilde – Hilde muß es sein.«
»Anna,« flüsterte die Mutter ernst und hielt die Tochter fest, »Anna, denke an deinen Onkel!«
Anna hatte fortstürzen wollen, den Kopf in die Kissen drücken und weinen; es war eine zu entsetzliche Täuschung, – ein Tag zum Verzweifeln. Auf der Mutter Mahnung hin suchte sie sich zu fassen, stand aber blaß und stumm da, als das Brautpaar mit dem Vater herankam.
Frau Krause empfing die Schwägerin, um der Tochter Schweigen zu mildern, mit doppelter Herzlichkeit; Vater und Onkel bemerkten Anna kaum, erst als Iduna sich zu ihr wandte und auf ihre freundlichen Worte nur einen steif verlegenen Glückwunsch erhielt, sah der Onkel sie staunend an.
»Unser blasses Annchen hat wohl Balljammer,« sagte er freundlich. »Warte nur, nach Tisch ist alles gut, wir vertreiben ihn dir mit Verlobungschampagner.«
Anna blieb stumm und entschlüpfte, sobald es anging.
»Sei nicht böse, Mama, goldne Mama; die Enttäuschung ist zu entsetzlich, ich muß das erst fassen – immer dachte ich an Hilde, immer! Ich will einmal zu Lili gehen – ja?«
»Geh,« sagte die Mutter bekümmert, »und komme anders wieder.«
Zunächst lief Anna durch den herbstlichen Garten und begrub ihren »himmlischen Traum« unter lauten Seufzern – dann ging sie doch noch zu Lili. Sie hatte es einmal gesagt – und es war auch das beste. Mit irgend jemand reden, der an andre Sachen dachte, das konnte ihr nur gut tun.
Lili saß in ihrem Puppenstübchen, obwohl es für ungeheizte Räume schon ein wenig zu kalt war, und kramte ihre Ballerrungenschaften ein: Orden, Sträuße und Schleifen.
Sie sprang errötend auf bei Annas Eintreten. »O, Anna, wie hübsch, daß du zu mir kommst!«
Anna wurde auch rot, denn der freudige Willkomm wurde ihr zum Vorwurf.
Sie war sanft, ging geduldig auf Lilis Abtanzwonne ein und wurde nur scharf, als das Vergißmeinnicht im Laufe des Gesprächs vom allgemeinen auf ihre besondere Schmiedingschwärmerei überging.
»Nein, Lili,« sagte sie streng, »sie taugen nichts. Die Mutter ist hart, Gitta ist ein eitles Närrchen und Iduna ist häßlich gegen die Spielkinder und falsch obendrein. Sie hat heimlich unsern Kränzchenbrief mit den Versen bei Hilde gelesen und sie an Gitta verschwatzt. So etwas tut nur ein gewöhnlicher Charakter.«
Anna erschrak; sowie sie zu Ende war, fiel ihr ein, daß die Geschmähte des Onkels Braut war und damit alle Rücksicht forderte; ohne dies Mißbehagen über ihr schroffes Urteil würde ihr Lilis Verlegenheit nicht entgangen sein.
Das eben noch so abtanzfrohe Vergißmeinnicht wurde dunkelrot, wurde wieder blaß, bekam einen Verlegenheitshusten und kämpfte um einen sehr schweren Entschluß.
Verlegenheit und Schrecken machte Tante Betty ein Ende, die zur Tür herein fragte: »Habt ihr schon gehört, daß es Rat Hennings sehr schlecht geht?«
Anna fuhr erschrocken von ihrem Sitz auf.
»Ich denke, es geht besser,« stotterte sie.
Tante Betty trat näher. »Ja, Hennings dachten so; Doktor Olfers fand aber heute früh gleich das Gegenteil. Die Schmerzlosigkeit und der Schlaf sind die Zeichen von übergroßer Mattigkeit gewesen; es wird wohl bald zu Ende gehen.«
Lili schluchzte auf, Anna stand blaß und still da. O Mike, die arme Mike! – Vom Platz vor dem Hause drang Gittas Lachen in Lilis Schluchzen hinein – Frau Schmieding ging mit ihrer Jüngsten vor dem Fenster vorüber.
Da kamen auch Anna ein paar Tränen in die Augen; die da unten, die gingen ja ins Gymnasium; dort sollte Verlobung gefeiert werden, da sollte sie freundlich und vergnügt sein – es war zum Herzbrechen. – Und was würde Mama über ihr langes Wegbleiben denken?
Hastig sagte sie Roßbachs lebewohl, überholte Schmiedings auf einem Heckenweg, eilte durch den Garten nach ihrem Zimmer und fand noch Zeit, der Mutter zuzuflüstern: »Sei nicht böse, Mami, bei Hennings ist's ganz schlimm und ich bin todunglücklich.« Dann mußten Frau Schmieding und Gitta begrüßt werden.
Ohne die Sorge um die Freundin und den Haß gegen Iduna hätte das Verlobungsmahl sehr hübsch sein können. Papa war, wie immer, bezaubernd als Redner und ritterlicher alter Herr, Frau Schmieding nicht halb so großartig wie gewöhnlich; Gitta übermütig und liebenswürdig. Sie neckte das Brautpaar, das kaum etwas davon merkte, und ließ sich von Kurt, der dem väterlichen Vorbild nachzustreben versuchte, Artigkeiten erweisen.
Anna aber saß still und blaß da; wenn irgend eines der Gesellschaft das Glas hob, um mit ihr anzuklingen, kämpfte sie gegen Tränen, und Idunas mitleidiger Blick erbitterte sie fast.
Man saß noch beim Nachtisch, als ein Bote etwas Verhangenes für den Bräutigam brachte; neugierig hasteten aller Blicke auf diesem ersten Hochzeitsgeschenk, und siehe, aus den Falten von Hildes Sommertuch wickelte sich Idunas Bild: das sanfte, lügnerische Bild, das die Braut mit zärtlich um die Rosen gefalteten Händen und dem lieblichen Ausdruck zeigte, diese Braut, die arme Kinder schlug, heimlich fremde Briefe las und statt ihre Pflichten zu erfüllen, in dummen Büchern schmökerte.
Da stand nun das Brautpaar Arm in Arm und betrachtete das Bild, und Iduna gab sich augenscheinlich Mühe, ebenso liebreich auszusehen, wie ihr Oeldoppelgänger – o die Falsche! – o der arme Onkel!
Und da fing gar Kurt, der anmaßende Junge, noch an, beim letzten Glase eine Rede zu halten:
»Hoch leb die schöne Tante,
Die neue Anverwandte,
Und alle Schmiedings drum und dran,
Die sollen auch ein vivant han,
Stimmt alle ein und schreit recht laut:
Es lebe die Familienbraut.«
Anklingen, austrinken, allgemeines Bruderschaftküssen war die Folge dieser Tat; Anna konnte es gar nicht mehr ertragen, das schreckliche Getue mit dieser Braut.
Im allgemeinen Aufstand schlüpfte sie hinaus, den Kaffee zu besorgen.
Man müßte Onkel warnen – dachte sie; wenn's zu spät ist, gehen ihm die Augen auf – ich nenne sie natürlich niemals Du – ich habe die Lippen fest geschlossen, als sie mich küßte.
Drinnen sagten Schmiedings: »Die arme Anna – natürlich bewegt sie Rat Hennings Krankheit aufs äußerste.«
Anna dachte auch an Mike, aber der Onkel und die schlimme Braut drängten das Mitgefühl für die Freundin immer wieder beiseite.
Als sie den Kaffee ins Zimmer gebracht und eingeschenkt hatte, sagte ihre Mutter leise und traurig: »Willst du einmal sehen, wie es bei Hennings steht, so gehe, wir geben dir Urlaub.«
Anna errötete, nickte aber nur stumm und heftig mit dem Kopf und eilte hinaus.
Die Sonne hatte sich schon am Nachmittag wieder hinter Wolken verkrochen, es dämmerte leise, und als Anna an den Eingang der Gartenstraße kam, fuhr ein heftiger Windstoß durch die Bäume der Anlagen.
»Ich muß sie entlarven, es ist zu seinem Glück – er muß wissen, wie sie wirklich ist – ich kann nicht erst mit Mama darüber reden, so schnell als möglich muß es geschehen.«
Sie war stehen geblieben und sah die Gartenstraße entlang, ohne an Mike zu denken. Da öffnete sich Hennings Haustür und zwei Mägde kamen eilends heraus. Die eine lief hinüber nach dem Frankenweg, die andre kam die Straße herab nach dem Kurgarten.
Anna erkannte Schönbachs Köchin und eilte auf sie zu. »Mine!« rief sie atemlos, »Sie waren bei Hennings? Wie geht es?«
»Aus!« sagte Mine. »Eben jetzt – sie laufen noch nach dem Doktor, aber es ist aus, er ist eingeschlafen.«
Anna nickte dem Mädchen stumm zu und kehrte um, nicht nach Hause, unter die Bäume zurück, deren fahles Laub unter den Windstößen fiel.
Nun dachte sie an Mike, an die arme Mike, die Unersetzliches verloren hatte, während sie um etwas jammerte, was andre ein großes Glück nannten.
Und wenn es kein Glück für sie war, wenn eine andre Tante sie mehr erfreut hätte, nichtssagend blieb dies Mißgeschick gegen Mikes Kummer.
Nun fiel ihr auch plötzlich die kranke Frau Kirst wieder ein, die sie über ihren eigenen Angelegenheiten völlig vergessen hatte, und ein heftiges Schamgefühl bedrückte sie.
Langsam schritt sie die Gartenstraße entlang, unverwandt den Blick auf Hennings Fenster gerichtet. Oben glitten eilende Schatten hinter den Vorhängen hin und her; um die Ecke des Frankenwegs bog Doktor Olfers, von seiner Schwester begleitet, beide verschwanden hinter Hennings großem Torweg.
Anna blieb stehen und starrte hinauf. Ein paar Minuten lang währte noch das Schattenhuschen, dann wurde es ruhig oben und nichts war mehr zu hören oder zu sehen.
Mit einem tiefen Seufzer riß Anna sich los. Da hinaus konnte sie jetzt nicht, aber Frau Kirst ein freundliches Wort sagen, das ging.
Als sie den Hofraum betrat, an dem die armselige Wohnung lag, sah sie Licht aus dem Zimmer der Kranken scheinen, und da sie an den unverhangenen, niedrigen Fenstern vorbei mußte, schaute sie an eben der Stelle hinein, wo einst zur Weihnachtszeit Frau Hennings ihre Mike im Spiel mit den Kindern beobachtet hatte.
Kirsts waren nicht allein; an dem Bette der Frau saß eine Dame und lauschte aufmerksam den Worten der Kranken. Ein grauer Abendmantel verhüllte die Gestalt, das Gesicht konnte Anna nicht sehen, trotzdem meinte sie den Besuch zu erkennen und ihr Herz klopfte schneller.
Jetzt bewegte sich der Mantel, eine seine Hand zeigte sich und legte etwas Blinkendes auf das Bett, und dann neigte sich die Fremde sanft und vorsichtig über die Kranke, so daß man draußen nichts mehr sehen konnte. Als sie sich aber wieder aufrichtete, glänzte es feucht in der Waschfrau Augen, und Anna meinte ihr die Worte: »Gott segne sie!« von den Lippen lesen zu können.
Da wandte die Dame sich um, die Kinder liefen auf sie zu – es war wirklich Iduna.
Sie hat Frau Kirst das Mietgeld gegeben; sie gönnt es dir nicht, dachte Anna mit bitterem Gefühl und wandte keinen Blick von denen in der Stube.
Ida hing jetzt in den Armen Idunas, deren Mantel zurückgefallen war; die Jungen zupften auch an ihr herum, und die gehaßte Braut sah mit einem Ausdruck auf die Kinder hinab, der sie Hildens Bild zum Verwundern ähnlich machte.
Anna fühlte sich verwirrt – sollte heut alles auf den Kopf gestellt, alles Unmögliche Wirklichkeit werden? Die jungen Augen, die nach den glücklichen Menschen im Zimmer drin starrten, füllten sich langsam mit Tränen.
Sie rührte sich erst wieder, als Iduna Abschied nahm. Im Schattenwinkel verborgen, wartete sie ihr Gehen ab, dann eilte sie zu der Kranken.
Sie hatte recht vermutet; das Mietgeld war da. Jubelnd kamen die Kinder ihr entgegen und erstatteten ihr einen überstürzten Bericht; dankbar drückte die Frau ihre Hand: »Sie, gutes Fräulein, haben uns das verschafft, die Dame hat mir's wohl gesagt – und wissen wollte sie, warum ich so gar nichts für die Miete gespart habe, trotz allem Verdienst und der Hilfe bei den Kindern; sie hat so gut gefragt und alles verstanden. – Ganz gewiß, Fräulein Krause, mein Seliger hat nichts dafür gekonnt, daß er mir Schulden da ließ – 's war nur seine Krankheit, die uns so 'runter brachte – aber nun ist das Letzte bezahlt.«
Anna drehte sich alles Erlebte wirbelnd durch den Kopf, sie fühlte sich immer elender und unsicherer; all ihre wohlgeordneten, festbegründeten Urteile wollten nicht mehr stimmen und drohten in nichts zusammenzufallen.
»Aber Ida,« sagte sie endlich, »das alles begreife ich nicht – ich denke, Fräulein Schmieding schlägt euch und ist gar nicht gut?«
Ida sah erstaunt zu Anna auf, dann lachte sie plötzlich und klatschte lustig in die Hände. »Ach, das ist doch gar nicht Fräulein Schmieding, die andre, die Kleine heißt so! Das ist Tante Duna, die gute Tante Duna.«
Anna wurde blaß und rot in jähem Wechsel – die andre – Brigitte! – Um eines falschen Verdachts willen hatte sie gescholten, gehaßt und widerstrebt? Sie deckte die Augen mit der Hand und atmete, als wolle sie schluchzen.
»Tante Anna, bist du bös?« fragte Ida, an ihrem Mantel zupfend. »Bist du traurig?« stimmte Wilhelm ein.
»Nein, nein – ich bin froh; es ist gut so!« – Sie ließ die Arme sinken und sah die Kinder freundlich an. »Jetzt wollen wir Mutter ein Süppchen kochen.«
Als sie eine Viertelstunde später draußen in dem dunkeln Hof stand, seufzte sie tief auf.
Froh war sie eigentlich nicht, eine unbequeme Last drückte sie schwer; vergeblich bemühte sie sich, den Verrat der Verse vor sich zu vergrößern, und dadurch ihr Schuldgefühl gegen Iduna zu mildern, es gelang ihr nur schlecht.
Und sie kam auch auf dem Heimweg nicht ins Gleichgewicht, während sie langsam, unschlüssig, Verzögerung suchend, nach Hause ging.
Es war sehr dunkel draußen; wie sie aber in der Gartenstraße stillstand, um nach Hennings Fenster zu sehen, löste sich drüben aus dem Mauerschatten eine Gestalt und kam eilig auf sie zu.
»Bist du's, Anna? Ich dachte, du wärest oben.«
Nun erkannte sie auch Lili, die fröstelnd, nur ein Tuch über Schultern und Kopf gezogen, vor ihr stand.
»Nicht heute,« antwortete sie, »das würde sie nur quälen.«
Lili nickte stumm mit dem Kopf, wovon Anna nichts merkte, weil sie die Augen oben bei den Fenstern hatte.
Endlich sagte Lili: »Nur Emmy ist hinauf, ich stehe schon lange; ich wartete hier auf dich – ich – o Anna – du darfst nicht böse sein, es ist zu schrecklich, und seit ich weiß, daß dein Onkel sich mit ihr verlobt hat, läßt mir's gar keine Ruhe mehr. Iduna hat die Verse gewiß nicht gelesen oder verschwatzt – ich bin's ja gewesen! Ich habe vor Gitta damit groß getan, weil sie euch langweilig nannte, und die hat es den Schülern wieder gesagt, und wenn du mir nie wieder gut wirst, bin ich todunglücklich.«
Lili schluchzte, und Anna fand keine Antwort; ihre Gedanken ließen sich nach der neuen, verwirrenden Entdeckung weder fassen, noch in Ordnung bringen – das einzige begriff sie: Du hast ihr auch dabei unrecht getan.
Vor Roßbachs Hause standen sie still; Lili weinte nur noch leise, Anna schwieg noch immer.
»Anna, es tut mir gräßlich leid, ach, alles tut mir leid, ich will gar nichts mehr von Gitta wissen, bist du nur gar so böse?«
»Nein, nein!« rief Anna. »Ich war ja noch viel dümmer als du. Geh nur jetzt hinein, du frierst ja – komm morgen!«
Lili atmete tief auf; das klang gerade, als spräche da wieder die alte Anna. »Gute Nacht,« rief sie: »Gute Nacht – auf morgen, – ach, die armen Hennings!«
Als Roßbachs Flurtür sich hinter Lili schloß, kam Anna ein plötzlicher Entschluß. Schnell, um einem Sichandersbesinnen vorzubeugen, eilte sie die Treppe hinauf und zog die Klingel an Schmiedings Tür.
»Ist Fräulein Iduna zu Hause?«
Ehe die Dienerin antworten konnte, kam Gitta aus dem Zimmer; lachend, winkend begrüßte sie Anna.
»Nein, natürlich nicht. Bräute sind niemals an dem Platze der Vernunft. Nach dem Kaffee ist das Paar zu Hilde, der Vertrauten, gegangen – Bildbedankungsvisite; dann wollte der gelehrte Herr seine Vorbereitungen für morgen treffen; Dunchen aber, anstatt hübsch nach Hause zu kommen, plagt deine Mama – sie soll ihr Kindergeschichten des berühmten Onkel Fritz erzählen. Und denke nur, ich bin meinem neuen Schwager schon ganz gut, denn daß er mir mein gutes, moralpredigendes Dunchen abnimmt, das ist schon allein einiger Liebe wert.«
»So ist Iduna bei uns?« fragte Anna mit leiser Ungeduld.
Gitta lachte wieder.
»Ja, ja, ja! – daß du nicht zu mir kommst, weiß ich schon – renne nach Hause und stürze ihr in die Arme, denn ihr seid einander wert.«
»Nach Hause will ich allerdings – gute Nacht – ich kann heute nicht gut Späße machen.«
Hinab war sie, ehe Gitta zum Antworten kam, und Frau Schmieding, die eben aus dem Zimmer trat, sagte vorwurfsvoll: »Wie kannst du! Sie wird sehr betrübt sein.«
»Ja so, Herr Hennings« – Gitta sah einen Augenblick lang wirklich schuldbewußt aus. – »Ich hatte das ganz vergessen; wie ich Anna sah, dachte ich nur an unser Brautpaar, und Mama, es ist doch gewiß drollig, da unsre Nonne heiraten wird.«
Anna eilte nach Hause; als sie über den Schulhof kam, sah sie oben in des Onkels Zimmer Licht, das beschleunigte ihre Schritte noch, atemlos kam sie die Treppe hinauf.
»Wo ist Fräulein Schmieding?« fragte sie die Köchin, die mit einem Tellerbrett nach dem Eßzimmer ging.
»Im Wohnzimmer; Frau Professor ist in der Küche.«
Anna lief ins Wohnzimmer; ihr Herz klopfte heftig, als sie die Tür öffnete und suchend den Raum überblickte.
Nur eine Lampe brannte am Mitteltisch; das große Zimmer blieb in seinen Ecken und Winkeln in Dämmerung; im hellen Licht aber stand Iduna, zärtlich über ein Knabenbild des Onkels geneigt, ohne die Eintretende zu bemerken.
Nur einen Augenblick zögerte Anna, dann eilte sie auf die Ueberraschte zu und streckte ihr bittend die Hände entgegen: »Kannst du mir gut sein? Mir verzeihen? – O, ich habe dich in so schlechtem Verdacht gehabt, dir so Böses zugetraut, ich bin so unbegreiflich dumm gewesen.«
Iduna ergriff die bittenden Hände und zog Anna an sich: »Ich bin dir schon lange gut,« sagte sie leise, »und wenn du mir nur jetzt zutraust, daß ich euch alle lieb habe und euch alles zuliebe tun will, dann kümmert mich nichts Vergangenes.«
Dann lagen sie sich in den Armen, Anna weinend, Iduna lächelnd, und mitten in ihrer Umarmung überraschten sie Onkel und Mutter.
»Da ist ja unser altes Mädel wieder,« sagte Onkel Fritz freundlich und nickte Anna zu, die sich errötend frei machte und zur Mutter lief, mit der verspäteten Frage: »Kann ich dir unten etwas helfen?«
Sie wußte aber ganz genau, daß das freundliche »Endlich!« der Mutter nicht ihrer häuslichen Hilfe galt.