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Elftes Kapitel. Annas Krauses langer Brief.

Anna Krause hatte das Herz bis zum Ueberlaufen voll und wußte nicht, wem sie es ausschütten sollte, denn einem lebendigen Augenpaar gegenüber wollte das Vielerlei, das sie bewegte, nicht über die Lippen. Da nahm sie einen großen Bogen weißes Papier, setzte sich in ihr Stübchen und schrieb.

»Vielgeliebte Auswärtige!

Unser langer Brief hat Euch gefallen? Ihr wäret bereit, wieder einen weiterzuschicken, wenn nur einer käme? Ich nehme Euch beim Wort, denn ich muß mich einmal aussprechen, man erlebt zu viel. – Morgen ist Kranz bei Emmy, da könnte es auch gemeinsam geschehen, aber es gibt doch allerlei, was man in einem Gesamtbriefe nicht so ausdrücken kann; zum Beispiel mein intimstes Tanzstundenerlebnis, und es tut doch dem wundesten Herzen gut, wenn es sich einmal ausschütten darf. Es hatte mich nämlich einer Tanzbär und eine Elefantenküken genannt – das ginge noch. Daß aber der mit dem Tanzbär hinzusetzte: meines Papas wegen müsse man mich trotzdem schleifen, das empörte mich, und ich muß auch noch herauskriegen, welcher es war; dann mache ich ihm einen Knicks und sage: ›Bitte, mein Herr, bemühen Sie sich nicht, die Zensuren werden dadurch nicht im geringsten beeinflußt.‹ Ja, das sage ich, und wenn mir das Herz darüber brechen sollte. – Das ist meine schwere Erfahrung, andre haben andre: zum Beispiel Hennings. Jetzt ist der Vater im Bad, aber ich glaube, er ist viel, viel kränker, als sie denken, und manchmal sieht Doktor Olfers die Mike so seltsam an, daß mir himmelangst wird. Denn von was sollen sie leben, wenn der gute Papa stirbt? Kläre schneidert sich schon durch, obgleich das auch kein Spaß ist; aber was wird mit Mike, die das Sitzen nicht verträgt und Quecksilber im Blut hat und lustig sein muß, sonst ist's keine Mike mehr? Und Lise und Line, die noch mit dem Ränzel laufen und Schokoladeessen für den würdigsten Lebenszweck halten, und der kleine Fredi – der ›Mann‹, dem die ganze Welt gehört? Ach, ich sage Euch, manchmal ist doch das Leben schwer, und hat man einen richtigen Kranz und gehört ihm mit ganzem Herzen an, so spürt man alle Sorgen der andern mit, – hie und da spürt man sie schon vorher. Lili macht mir auch welche. Aber davon wollte ich nichts erzählen, denn ich glaube beinah, sie ist es gar nicht mehr wert, daß man sich um sie grämt, so tief steckt sie in Eitelkeit und Aeußerlichkeit drin – da ist der Dichter Wiese ein ganz andrer Umgang für einen gebildeten Backfisch.

»Etwas Feines ist's auch um Mikes Schützling. Das ist ein kleiner Mensch – höchstens zehn Jahre alt, – der die Musik zu unserm Tanzen macht. Erst war er nur immer hungrig, was Mike ganz allein sah. Nachher hatte er Glück und wurde ohnmächtig – jawohl, richtig ins Glück hinein fiel er. Bei Olfers passierte die Geschichte – vorher hatte er eine kranke Mutter, einen greulichen Vormund, der ihn zum Schneider machen wollte, eine zerbrochene Geige und viel Hunger; jetzt läßt ihm Doktor Olfers Musikstunden geben, denn der Kantor sagt, Lippo sei ein Genie; die Tanzstunde hat zu einer neuen Geige zusammengeschossen, und der Bürgermeister hat seiner Mutter eine Stiftung zugewendet. Zu Herrn Schwebefeins Freude spielt er wieder in der Tanzstunde wie vorher, sieht aber satt und vergnügt aus, und als er hörte, daß Mike Hennings ihm die Butterbrote herausgebettelt hatte, verschwor er sich, bei ihrer Hochzeit zu geigen, denn ohne die zwei satten Abende jede Woche würde er schon tot gewesen sein, ehe das Glück kam.

»Denkt nur, wie gräßlich, wenn Mike nicht den Mund und die Augen überall hätte! Jetzt hat sie die zweite Rettungsmedaille verdient. Sie hat aber nur gelacht über ihre Hochzeit und sich von Lippo die Hand darauf geben lassen, daß er's nicht vergäße, denn das würde noch sehr, sehr lange dauern – und wir andern sind unglaublich stolz auf unsern Künstler; die ganze Tanzstunde hegt Patengefühle und nimmt Eintrittskarten zu seinem ersten Konzert.

»Ich bin meinen Schützlingen aber auch treu und habe die Fischerkinder in meine Kleinkinderschule eingeschoben. Dort spielen sie fein, lernen was und kriegen Frühstück und Vesperbrot. Mein Tag ist ihnen der liebste, ich hab' sie mal ausgefragt, aber auch die andern Tage sind nett, nur den bei Fräulein Schmieding mögen sie nicht, die ist heftig – sie schlägt! denkt nur – und verlangt, die Kinder sollen allein spielen, während sie in einem Buch liest! O dieses Mädchen! Dabei nennt Hilde sie einen Menschen, der Ideale hat, und mit Onkel Fritz habe ich mich beinah über sie verfeindet. Was für eine Heuchlerin muß sie sein! Ich glaube, ich habe den brennenden Wunsch, sie zu entlarven. Nicht wahr, Ihr findet das nicht grundschlecht von mir? Zwei so treffliche Menschen wie Onkel und Hilde dürfen nicht betrogen werden. Uebrigens hab' ich einen feinen Plan – Kinder, wie wär's, wenn ich Onkel Fritz mit der süßen Hilde verheiratete? Er ist, abgesehen von ›den Momenten‹, ein einziger Onkel, und das Kränzchen hätte eine Hochzeit! Liebe Mädchen, mir wird ganz festspieldichterisch zu Mute! Letzthin beim Gartenfest zu Papas Geburtstag waren sie immer einer Meinung und immer zusammen; nur leider war die lange Duna ein störendes Element, alles übrige großartig! Bunte Laternen, Bowle, Fäßchen Bier, Rasentanz, Papa olympischer Stimmung, Schulfüchse sich geehrt fühlend, benahmen sich famos. Die alten Herren hielten feine Reden mit sehr viel Latein – die Bildung mischte sich ordentlich mit den Blumendüften – es war ein glorreicher Abend; sogar Frau von Rohr und Klementine blühten auf – er, der Hauptmann, ist immer famos und schon wieder ein ganz besonderer Freund von Hennings Mikepeter. Ich frage Euch, wie fängt sie's an?

»So, das war Vergangenes, nun dämmert aber auch noch eine Zukunftsmorgenröte an unserm Himmel; für Suppenanstalt und Kleinkinderschule soll ein Bazar Reservegelder aufbringen. Er findet bald statt, damit auch Kurfremde Gelegenheit haben, ihr Geld bei uns zu lassen. Dein Vater, Rose, spendet uns den Saal; Frau von Rohr hält eine große Konditorei; Tina, Eugenie und Klara Hennings sind Kellnerinnen – natürlich haben sie Klären nur genommen, damit eine Tee kocht; aber ich denke, Kläre ist klug und kommt auf ihre Rechnung; ich halte als Schweizerin mit Handstickereien feil; alle Blumen sind rührend für meine Tätigkeit eingenommen, Emmy und Mela wollen stark kaufen. Mike hat nur fünfzig Pfennige auszugeben, wofür sie lieber etwas andres erwirbt. Es tut mir leid, aber ich sehe es ein, Mike drückt sich immer mit viel Talent bescheiden durchs Leben, ohne ruppig zu sein – Mama sagt, weil sie wenig für sich beansprucht.

»Lili ist in derselben Lage, hat aber weniger Talent zum Sichdrücken, und ihre Mama sagt, sie solle ganz zu Hause bleiben, beim Bazar komme es lediglich aufs Geldgeben an. Sie ist todunglücklich – ich wollte sie als Helferin mit in meine Bude nehmen, bekam aber von Muttchen auseinandergesetzt, daß ich als Selbstaufgeforderte kein Recht dazu habe. Wenn Lili es nur einsähe – aber von Lili wollte ich ja gar nicht reden. Der Brief ist auch nun schon sehr lang, der schattige Garten winkt zum Gießen, und die Finger werden lahm. Lebt wohl, lebt wohl! Rose und Grete werden bestimmt zum Abtanz erwartet! Vater Flinsch hofft auch!

Eure vielgetreue Anna.«

 


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