Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Etwa vier Wochen nach der großen Versöhnung war Kranz bei Anna Krause. Anna war schon halb drei mit ihren Vorbereitungen fertig und erwartete jetzt, ein Körbchen mit frisch gepflückten Blumen in der Hand, die Ankunft der Freundinnen. So wichtig wie heute war ihr die Zusammenkunft noch nie erschienen: sie hatte zwei Neuigkeiten auf dem Herzen. »Schwerwiegende Neuigkeiten,« sagte sie zu Onkel Fritz, dem Bruder ihrer Mutter, der Ostern an dem Amseler Gymnasium angestellt worden war, gerade als ihr höchsteigener Papa Direktor wurde. Der allzeit necklustige Onkel, der sich in seines Schwagers Haushalt behaglich eingefügt hatte, antwortete zwar: »Vermutlich bringt jede deiner redefrohen Mitspätzinnen ebenso schwerwiegende Neuigkeiten mit«, aber das hielt Anna für unmöglich.
Und doch hatte Onkel Fritz beinahe recht. Schlag drei traten die Backfische mit vollen Herzen und »brennenden« Geschichten ein.
Melanie, die sich sehr viel Mühe gab, »nett« zu sein, aber doch den Grund unter den Füßen noch nicht ganz sicher fühlte, brachte ihre gleich in der Tür an. »Fräulein Rohden läßt grüßen und sie bäte für heute um Urlaub. Denkt euch, sie porträtiert die neue Badekommissarin, Frau von Rohr, und das Bild muß zu einem Geburtstag fertig sein. Jeden Nachmittag ist Sitzung und Hilde trug mir's heute in der Malstunde mit vielen Grüßen auf.«
»Ich habe auch von der neuen Badekommissarin zu erzählen,« sagte Anna feierlich.
Aber die Dame war den ahnungslosen Kranzblumen einstweilen noch ziemlich unwichtig, sie schwatzten fröhlich alle zugleich von Hildens Ruhm – Spatzenvolk im Kirschenbaum, dachte Onkel Fritz, der draußen vorbeiging –, und als sie sich setzten, brachte gerade Lili ihre Neuigkeit vor: »Liebe Mädchen, denkt euch nur, sie sind eingezogen! Ich fand es doch erst so gräßlich, daß Mama vermietete, nun aber bin ich selig –«
»Aha,« brummte Anna, »deshalb hast du dich vier Tage lang nicht bei mir sehen lassen.«
Lili errötete schuldbewußt, erzählte aber eifrig weiter: »Frau Kommerzienrat Schmieding ist der Inbegriff einer Dame, sie hat eine Wirtschafterin, eine Stütze, einen Diener, eine Jungfer und eine Köchin.«
»Und tut selber nichts,« schnepperte Mike fröhlich los.
»O bitte! sie war schon am ersten Tag bei Bürgermeisters von wegen der Wohltätigkeit; der ganze Frauenverein muß umgeschaffen werden, sagt sie, es fehlt eine Suppenanstalt, Konfirmandenpflege, Spielschule für kleine Kinder und – «
»Ja,« ließ sich Anna vernehmen, »davon habe ich euch auch etwas zu erzählen.« Das klang aber so kleinlaut, daß Lili mehr Gehör fand.
»Und diese Einrichtung! Seidenplüsch, Gobelins, himmelblauer Rokokodamast, Ebenholz, Elfenbein – ich bin hin vor Wonne! – Und zwei Töchter, eine schlanke Zwanzigerin Iduna, die ist furchtbar apart, trägt nur Weiß, Grau oder Schwarz, sucht einen Lebenszweck und verachtet Menschen, die bloß so leben, um vergnügt zu sein.«
»Ach Lili, das ist doch Unsinn!«
»Nein, es ist großartig; aber Brigitte, die Sechzehnjährige, ist mir auch lieber – süß, und so elegant, und alle Farben, und wird Gitta genannt.«
»Na, nun trink mal,« sagte Anna trocken, »kalt ist dein Kaffee schon, er wird die Glut löschen.«
Lili wurde noch röter und gehorchte.
»Hast du etwa auch so eine erschütternde Neuigkeit auf dem Herzen, Mike, dann heraus damit! meine ist die beste, meine kommt zuletzt.«
»Ich?« sagte Mike. »O ich!« Dann lächelte sie, kramte eine Falbel aus der Tasche und begann sie einzuriweln. »Aber eigentlich doch, wenn sie auch nüchterner Natur ist: Kläre hat so viel Bestellungen auf Kleider, daß sie nicht alle annehmen kann. Es ist unbegreiflich, wie sich das so herumgesprochen hat. Erst machte sie unsre Sachen, dann kam die Hauswirtin, der konnte sie es nicht abschlagen, dann eine Schulbekannte, und so ging's weiter; und sie ist gar nicht billig, denn sie will doch Papa von dem Erschneiderten nach Karlsbad schicken – und es fehlt gar nicht viel mehr – ich habe jetzt furchtbare Hochachtung vor Klären.«
»Hätte ich auch,« fielen Emmy und Anna ein; Lili sah verlegen in ihre Tasse. Was würde Gitta Schmieding zu einer Freundin sagen, deren Schwester Schneiderin war?
Jetzt saß Anna da wie eine regenschwere Wolke. Vorsicht, nächstens praßle ich los! Nur Sorge um das gestickte Kaffeetuch ließ sie warten, bis die Tassen leer getrunken seien, denn was der Sturm anrichten konnte, den ihre Neuigkeit entfesseln mußte, das war ja gar nicht abzusehen.
Aber ebenso erzähllustig saß Emmy Olfers ihr gegenüber, und Emmy dachte nicht an die Kaffeedecke, sondern klopfte mit dem Löffel an die Tasse und sprach: »Liebe Blumen! Mitstrebende auf dem schönen Wege des Immer-besser-, klüger- und anmutiger-werdens – hört zu! Ich habe eine große Sache auf dem Herzen. Gestern war Papas Geburtstag – wie oft uns schon durch Rat erbittende Patienten diese Feier gestört worden ist, wißt ihr; wir hatten deshalb von Anfang an den Abend zum Höhepunkt bestimmt, und dazu braute ich ein großartiges Festessen zusammen. Mein Tagewerk war heiß, aber der Erfolg belohnte mich: es gab Leibgerichte und ich schwelgte in Anerkennung. Außerdem bescherte ich Papa ein selbstgenähtes Hemd – ohne Maschine genäht, altmodisch, Stich für Stich – kurz, er erklärte gerührt, Sticheln und Kochen verstünde ich offenbar, jetzt könne das Tanzenlernen an die Reihe kommen.«
»Was?« rief Anna Krause und sprang vom Stuhle auf.
»Das Tanzen. Ja! – und denkt nur, Papa hatte gleich einen ganz ausführlichen Plan zur Hand. Die Tanzstunde soll der brave Meister Schwebefein leiten, aber nicht in seinem öden, aschgrauen Sälchen, sondern in unsern behaglichen Wohnungen; die Kränzlerinnen müssen alle dabei sein – Familientanzstunde nennt man so ein Ideal, und morgen schon will mein Papa bei deinem Papa, Anna, die Erlaubnis für Bruder Hans und eine Handvoll andrer Primaner erobern, damit die Sache ganz regelrecht vor sich gehe.«
»Verblüffend,« sagte Anna, während die andern durcheinander jubelten, »nun hast du mir meine ganze Neuigkeit weggeschnappt!«
»Ich dir? Wie ist das möglich?«
»Aus demselben Grunde waren doch heute die Frau Bürgermeisterin Lenz und die Badekommissarin Frau von Rohr bei Mama. Primaner und Montagskränzchen sollen auch von dieser Seite zum gleichen Zweck erobert werden.«
»So müssen wir uns eben vereinigen,« meinte Emmy nachdenklich.
»Mit dem wildfremden Mädchen?« seufzte Mike. »Da muß man so gräßlich anständig reden.«
Lili aber rief eifrig mit geröteten Wangen: »Dann könnten wir auch unsre Schmiedings mit dazu nehmen, Brigitte kommt sicher gern.«
»Ach, eure hochnobeln Hausgenossen,« wehrte Mela ab, und Mike seufzte ergeben: »Meinetwegen kann ja gleich die ganze Stadt dabei sein.«
Anna aber rief kräftig dazwischen: »Seid nicht töricht! Die fremden Mädchen können uns den Spaß gar nicht verderben, zumal wenn ihrer mehrere sind, da brauchen wir uns nicht für sie aufzuopfern und können mitten im Gedränge ganz unter uns bleiben. Laßt sehen: wir sind fünf, dazu Eugenie, unsre alte Schulbekannte, die doch wieder zur Tante Bürgermeister gekommen ist, Klementine von Rohr und Lilis neuester Schwarm, gibt acht. Gerade zwei Karrees zum Lancier. Ach, ihr holden Blumen, wenn nun bloß mein Papa nicht etwa das Tanzen bei seinen Schulfüchsen unter die Allotria rechnet, sonst sind wir auf jeden Fall unten durch.«
»Und tanzen allein, das ist ebenso fein,« reimte Mike Hennings.
Das fanden die andern nicht. Lili besonders war aufgeregt vor Entzücken, und das Wenn, Wann und Ob wurde immer wieder verhandelt, bis Mike rief: »Still, still! Gar nicht mehr davon reden! Wenn es dann nichts würde, wäre es zu furchtbar – und meine Falbeln kommen auch ins Hintertreffen. Anna, du hast so getan, als ob du noch etwas auf dem Herzen hättest. Hoffentlich etwas Beruhigendes. Schieß los!«
Anna seufzte. »Euch wird es freilich nicht beunruhigen, mich aber desto mehr. Die Frau Bürgermeisterin hatte nicht nur die Tanzstunde auf dem Herzen; Schmiedings Wohltätigkeit bringt die ganze Stadt in Trab, und ich soll jede Woche einen Tag die Spielaufsicht bei den kleinen Kindern bekommen, weil ich das ja schon bei den Fischersleuten so schön begonnen hätte.«
»Ich beneide dich!« rief Mike; Melanie dachte dasselbe, Lili und Emmy aber meinten, ihnen würde dabei auch bange werden.
Jedenfalls hatte die Wohltätigkeit den Sturm etwas gedämpft; Mike war leidenschaftlich fleißig, alle Fünf bemühten sich, »vernünftig« zu sein, und erst als sie um sieben nach ihren Hüten griffen, kam die Tanzfrage wieder ins Wirbeln. Eben da erklang draußen Professor Krauses gewichtiger Schritt.
»Jetzt kommt Papa heim,« flüsterte Anna, »nun fragt ihn Mama – nun tritt an unsre Schicksalswage – des Montagskranzes Tanzesfrage –«
Gelächter und Seufzer der Aufgeregten unterbrachen den Reimversuch und gipfelten in dem Bittruf: »Anna, du mußt es uns gleich morgen früh melden!«
Das wurde versprochen, aber es war unnötig; Professor Krause hörte das Gezwitscher, öffnete Annas Tür und schaute heiter hinter seinen buschigen Brauen hervor auf die blonden und braunen Köpfe, die sich zusammenbogen wie die Verschwörer über ihrem Geheimnis.
»Aha,« sagte er, »da sind ja die tanzlustigen Mädel, die meiner Ruhe Fallstricke legen und meine jungen Herren den Wissenschaften abspenstig machen wollen.«
»Weißt du es schon, Papa?« rief Anna.
»Ja, ich weiß es; ein gewisser Doktor, der im allgemeinen für einen Menschenfreund gilt, hat mich auf dem Spaziergang überfallen und mir die Zustimmung für seine Pläne straßenräuberisch entrissen.«
Mike Hennings konnte ihr Hurra nicht länger unterdrücken.
»Halt, halt! ich mache Bedingungen. Vor allen Dingen muß die Sache gleich anfangen, denn um die Zeit der Examennöte und des winterlichen Hausfleißes müssen meine Gelehrten ihre sämtlichen verfügbaren Gedanken auf die ebenso ehrwürdigen wie nahrhaften Wissenschaften richten; im Sommer treiben ihnen Badeleben und Sportgelüste doch allerlei Zerstreuung und Allotria durch den Sinn, da kann denn auch mal diese Tanzen genannte Salonturnerei mit unterlaufen. Also, ihr Mädel, treibt euer Gehüpfe hübsch im Sommer, vom Oktober an binde ich meine Primaner wieder fest.«
Damit verschwand der lachende Professor aus dem Türrahmen, gefolgt von den Jubelrufen der Kränzlerinnen.