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Viertes Kapitel. Die erste Tanzstunde.

Frau von Rohr lud zur ersten Tanzstunde ein und alle Kränzlerinnen hatten Herzklopfen. Sogar Klementine war nicht ganz frei davon, besonders seit der Vater gesagt hatte: »So, mein Mädel, nun zeig einmal, daß du gut erzogen bist – die liebenswürdige Wirtin machen ist immer ein Kunststück – und besonders vergiß das eine nicht, sie muß gleichmäßig liebenswürdig gegen alle sein.« Das deuchte Klementinen schwer, denn das tat sie nicht gern.

Nur Gitta Schmieding putzte sich mit Gemütsruhe. Sie wußte ja ganz genau, daß sie die Hübscheste und die Eleganteste und die Geschickteste sein würde; weshalb also hätte sie sich sorgen sollen?

Mike Hennings hatte flehentlich gebeten, Mama möge doch nur dies eine, allereinzigste erste Mal mitgehen, damit sie nicht immer Anhängsel bei den guten Freunden sei, wie ein Blatt, das eigentlich gar nirgends dazu gehöre, sondern herumgeblasen werde; und diesmal hatte Klara bitten helfen.

Mama holte also das Schwarzseidene aus dem Schrank, das seit Freds Taufe kaum zweimal an die Luft gekommen war, und das von der geschickten Klara mit ein paar Stichen »zeitgemäß« gemacht wurde. Nun ging Mike, immer verstohlen die hilfreiche Mutterhand drückend, »ungeheuer mutig, beinahe keck!« nach der Villa Rohr.

»Ach, wie wunderhübsch,« rief Emmy, die am Tor mit ihrem Sympathievogel zusammentraf. »Nun kommt unsre liebe Mikemama am Sonnabend endlich wieder einmal zu uns.«

Das wurde aber gleich gründlich verneint: »Einmal für allemal! liebe Emmy, mache Mike nicht sauer, was nicht zu ändern ist: ich kann zu Hause nicht abkommen. Um mich heute bei Papa und den Kleinen zu vertreten, muß Klara ihre Arbeit beiseite legen, und du weißt, daß diese Arbeit die notwendige Badereise ermöglicht. Ich möchte jetzt, wo uns die schönen Tage schon an den Sommer glauben lassen, gern feste Pläne machen, aber der Vater wehrt sich noch immer, als könne er die Reise völlig umgehen. Willst du mir deinen Papa recht bald schicken, liebes Kind? Er muß uns wieder einmal zur Vernunft helfen.«

»Papa kommt nachher auf ein Stündchen, da können Sie sich mit ihm verschwören.«

Emmy wurde hier durch ein tiefes »Guten Abend« unterbrochen: stolz schritt Bruder Johannes, gefolgt von seinen vier Getreuen, an der Schwester vorüber.

Nichts hatte den langbeinigen Eigensinn dazu vermocht, hübsch manierlich mit seinen Damen zu kommen, er mußte seinen Tugendbund als Schutz und Halt um sich haben.

Der Tugendbund hielt denn auch zusammen, wie die Krieger, die Karree vor dem Feinde bilden.

»Parkett – nett,« flüsterte Mohrchen, mit den Fußspitzen tastend. »Das wird schöne Unfälle geben! Und diese himmelstürmende Großartigkeit überhaupt! Wenn mich Tante Christel, die ehrsame und vielberühmte Waschfrau meiner Vaterstadt, hier sähe, sie würde sagen: ›Otto, mein Ottochen, werde nicht übermütig, mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen.‹« –

Da trat Schwebefein feierlich in die Türe, der kleine Geiger huschte hinter ihm drein nach dem Nebenzimmer, wo schon ein Klavierspieler saß, und plötzlich, sie wußten selbst nicht wie, sahen sich die Tanzlustigen in zwei Reihen geordnet: auf der einen Seite standen die Mägdlein, auf der andern die Jünglinge, der Tanzmeister aber nannte ihre Namen, einen nach dem andern, und der Angerufene mußte nun der ganzen übrigen Gesellschaft seine Verbeugung machen: das war die Vorstellung.

Mikes Herz klopfte, und die Kehle war viel zu eng für die Luft, die zu dem tiefen Seufzer nötig war, der ihr Herz beklemmte.

Denn natürlich guckten alle gerade nach dem unglücklichen Menschenkind, das seinen Knicks machte, und sie stand so eng zwischen Gitta und Lili, die sich an ihr vorbei miteinander unterhielten, daß ihr gar nichts andres übrig blieb, als statt einer ruhmvollen Verbeugung ein bißchen Arm- und Beinzappelei aufzutischen.

Die letzte war Anna Krause; sie hatte Mikes Hühnerknickschen wohl gesehen und sich gesagt: so etwas gibst du auch an! Als aber die Gefahr näher und näher kam, wurde sie ärgerlich und richtete die zornige Frage an sich: »Anna Krause, ist dir denn all diese Aeußerlichkeit nicht völlig schnuppe?« In diesem schönen Schnuppegefühl brachte sie wirklich eine ganz anständige Verbeugung zu stande.

»Wer ist denn das drollige, kleine Ding da drüben?« fragte Hauptmann von Rohr nach der ersten Polka, während der »die Paare durcheinander gefahren waren, wie tollgewordene Sternbilder«.

(Also äußerte sich Schwebefein, der honoratiorenmäßigen Umgebung gemäß, fein und zart.)

Neben dem Hauptmann stand zur Zeit dieser Frage das dicke Kurtchen, das sofort mit einem gewissen Feuer Rede stand. »Herr Hauptmann meinen die mit den Himmelschlüsseln? Das ist Mike Hennings, die Tochter unsres Amtsrats, ein famoser Kerl, ich meine das Fräulein, nicht den Rat,« setzte er erschrocken hinzu, seine Wendung nicht gerade verbessernd, fuhr aber, dessen unbewußt, eifrig fort: »Sie müßte eigentlich die Lebensrettungsmedaille haben, denn vorigen Sommer hat sie Olfers Jüngsten aus dem Wasser gezogen.«

Herr von Rohr sah sich die Mike mit dem Hühnerknicks und der verdienten Medaille noch einmal genauer an.

»Schwimmt?« fragte er.

»Wie 'ne Padde,« versicherte Kurt feurig.

»Nun, dann wird sie auch noch tanzen lernen,« sagte der Hausherr wohlwollend, nickte dem eifrigen Kurt zu und ging zu Mike Hennings, die sich eben in diesem Augenblick zwischen Gitta und Klementine, trotz der Höflichkeit der Haustochter, unbehaglich fühlte.

Ja, wenn sie nicht hätte so sehr auf sich achtgeben müssen! »Nicht schneppern, nicht umhersausen, nichts umreißen!« klang es ihr allzeit mahnend ins Ohr und raubte ihr jegliche Unbefangenheit.

Ihre Augen hatten sich in dieser Not schon längst den kleinen Geiger als Ziel und Ruhepunkt ausersehen, nur daß ihr bei seinem Anblick nicht gerade behaglicher zu Mute wurde.

Als jetzt Herr von Rohr herantrat und scherzend fragte, was denn hinter der krausen Stirn vorgehe, wurde sie rot und fand in der Ueberraschung keine Antwort.

»Ei, ich denke, Sie sind allzeit schlagfertig?«

»Ich soll mich ja manierlich betragen,« stammelte Mike, aber des Hauptmanns herzliches Lachen brach endlich auch bei ihr das Eis und treuherzig fragte sie: »Nicht wahr, das lernt man nicht gleich auf einmal?«

»Nein, nach und nach, nicht gleich beim allerersten Strauß; aber galten dieser schweren Aufgabe allein die vielen kleinen Sorgenfältchen?«

Mikes Augen gingen wieder nach dem Nebenzimmer, wo der kleine Geiger neben dem Klavier stand, eine Saite anziehend.

»Nein, dem Jungen dort,« sagte sie halblaut. »Sehen Sie, wie blaß er ist. Er sieht ganz hungrig aus; gewiß ist er kaum zehn Jahre alt und muß schon sein Brot verdienen.«

Herr von Rohr sah nun auch, was Mike gesehen hatte, und empfand eine leise Beschämung darüber, daß er erst auf einen in seinem Hause Hungernden hingewiesen werden mußte.

»Nun glätten Sie nur die Stirn,« sagte er freundlich. »Heute wenigstens wollen wir ihn satt machen.«

Nach einem »geradezu schrecklichen Walzer«, während dem Mike niemals den Fußboden, sondern immer irgend einen Stiefel des deutschen Dichters Ferry Wiese zur Grundlage ihrer Taten gehabt hatte, ließ sie den Blick wieder nach den Musikanten schweifen und fand den kleinen Geiger bei einer sehr erfreulichen Arbeit vor der Teetasse, belegten Broten und einem vollbeladenen Kuchenteller.

Nach dieser Herzensstärkung hieß es: auf zum Menuett, und Johannes Olfers machte Mike eine seiner wunderbaren, rechtwinkligen Verbeugungen.

»Können Sie Menuett tanzen?« fragte er.

»Nein,« gestand Mike seufzend.

»Dafür können Sie andre Sachen,« tröstete er. »Ich führe auch lieber Zweirad, aber was will man machen? Als Bruder, Freund und Sohn muß man sich manchmal opfern. Das Leben stellt die verschiedenartigsten Forderungen an den Menschen. Wissen Sie was? Nun amüsieren wir uns trotzdem!«

»Das dächte ich auch,« meinte Mike, »ich habe die allergrößte Lust dazu, wenn ich mich nur nicht so genierte.«

Mit der Frage: »Vor wem denn eigentlich?« suchte der lange Hans sie aufzurichten. »Gewissermaßen sind das alles auch nur Menschen, und der Hauptmann, der mir noch am ersten imponieren könnte, der ist riesig nett.«

»Ja, das ist er!« rief Mike so laut, daß man es trotz der Musik zwei Paare weit hörte. »Und dort ist ja auf einmal Ihr Papa! O nun wird mir's ganz, ganz behaglich.«

Im Hinblick auf Doktor Olfers wurde es Mike nun wirklich leicht, »das alles ringsum« für »auch nur Menschen« zu halten. Der kleine Geiger war satt; es stand dem Vergnügen nichts weiter im Wege.

 


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