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Als am nächsten Tage Doktor Olfers zur Sprechstunde heimkehrte, war Emmys erste Frage nach Rat Hennings' Befinden. Die bittere Antwort lautete: »Die Nacht war unruhig, Mutter und Klara sind erschöpft, ich kann Mike nur beistimmen: sie gehört nach Hause. Da der Vater gar nicht erfahren hat, daß heute euer Abtanz ist, braucht er sich auch nicht um Mikes Opfer zu betrüben, also ist alles in Ordnung.«
Alles in Ordnung! – Weder Emmy noch Hans dachten so; über »den schönsten Tag« legte sich ihnen ein dichter Flor.
Auch Anna Krause verlebte einen Morgen, der wenig vom Festtag hatte. Früh beizeiten kam atemlos Ernst Kirst, der Fischerjunge, gelaufen. Mit ängstlicher Eile berichtete er, Mutter sei krank, sei in der Stube umgefallen, ganz langsam wieder zu Besinnung gekommen und wolle nun doch durchaus »auf Wasch«.
»Ach bitte, bitte! kommen Sie mit! Sie sollen's nich leiden, un auf mich hört sie nich.«
Anna lief sofort voller Tatkraft zur Mutter und bat um Urlaub.
Natürlich durfte sie und eilte mit Ernst nach der Wohnung der Kranken.
Das Zimmer der verwitweten Fischersfrau war noch ebenso düster und zugig wie im vorigen Winter, als Anna und Mike zum erstenmal seine Bekanntschaft gemacht hatten, aber ganz so leer war's nicht mehr; die Freundschaft der Kränzerinnen hatte es füllen helfen. Annas kleiner Stuhl, der früher ein beschauliches Dasein auf dem Schulboden geführt hatte, stand jetzt als Prunkstück für klein Ida vor einer großen Bank, die allerlei Spielsächelchen beherbergte. Auch nützliche Dinge verrieten die freundliche Sorge: das Bett hatte eine warme Decke, eine Ecke des Fußbodens war durch einen fadenscheinigen Teppich belegt, und Topf und Tiegel auf dem Bort über dem Herd zeigten sich nicht mehr ganz so spärlich wie ehedem.
Was aber wollten diese Verbesserungen bedeuten angesichts der kranken Frau? Sie hatte sich aufgerichtet und versuchte eben aus dem Bett zu kommen, als Anna eintrat.
»Nein, Frau Kirst, das dürfen Sie keinesfalls; nicht eher, als bis wir die Erlaubnis des Doktors dazu haben! Bleiben Sie ganz still liegen. Ei, wer wird sich vor dem Doktor fürchten – Emmys Papa kommt gleich zu Ihnen, verlangt nur ein freundliches Gesicht zum Dank und verschreibt Ihnen auch nichts Teures. Lauf nur gleich mal zu ihm, Ernst, ich ließe recht sehr bitten, daß er bald käme.«
Ernst trabte davon, Wilhelm und Ida trollten nach der Kleinkinderschule, wo von morgens sechs an diejenigen aufgenommen wurden, deren Eltern so früh schon auf die Arbeit gingen, und Anna setzte sich an Frau Kirsts Bett. »So, nun erzählen Sie mir, was Ihnen weh tut.«
Als Doktor Olfers kam, wußte sie, was die arme Frau bedrückte; nicht nur von ihren körperlichen Leiden, auch von ihren Sorgen hatte Anna sie reden gemacht. Nun freute sie sich der Versicherung des Arztes, daß die Krankheit in ein paar Tagen verjagt sein werde, und redete der niedergedrückten Frau eifrig zu, während sie am Herd schaffte und Ernst Verhaltungsmaßregeln gab. – Darauf bestellte sie im Verein, daß Frau Kirst Krankensuppen zu schicken seien, und kam knapp zum Mittagessen mit roten Backen nach Hause. Hier empfing sie die Nachricht, daß Rose Flinsch und Grete Sonderstädt dagewesen seien. »Freut mich!« rief Anna noch in vollem Eifer, und setzte gleich feierlich hinzu: »Warum lachst du, spottsüchtiger Onkel? Ich freue mich natürlich nicht darüber, daß ich sie versäumt habe, sondern darüber, daß sie da sind, denn unser Gänseblümchen kann in seinem arbeitsvollen Leben diese Abtanzfreude brauchen, und Rosen tut es gut, mal wieder unter nüchternen Menschen zu leben.«
»Schön,« stimmte der Onkel ein, der jetzt geneigt schien, den ernsthaften Gegenstand ernsthaft zu behandeln. »Dann sorge nur auch dafür, daß sie wirklich Freude empfinden und sich nicht vereinsamt fühlen unter einer Gesellschaft, die sich seit Monaten durch allerlei gemeinsame Scherze und Abenteuer ineinander eingelebt hat.«
Anna dachte nach; der Gedanke, daß sich jemand in ihrem Kreise nicht auf der Höhe aller Lebensfreuden fühlen könne, war ihr noch nie gekommen. Endlich sagte sie: »Du hast mir da wirklich einen Stubs in die Erkenntnis gegeben, Onkel Fritz; ich werde für die beiden sorgen. Hoffentlich tanzest du auch mal mit ihnen.«
Onkel Fritz hatte eben Zeit gehabt, Anna das zu versprechen, da machte der Ruf zu Tisch der Unterhaltung ein Ende.
Anna berichtete dort lebhaft von dem Mißgeschick der Wäscherin, und daß sie von den Vereinsdamen eine Mietgeldunterstützung für Kirsts verlangen wolle. »Als Vereinszugehörige kann ich das doch, Mama?«
»Gewiß kannst du für deinen Schützling bitten, Anna, aber nicht etwa heute abend –«
»Nicht?«
»Es wird besser sein, wenn du den Damen einen Besuch machst und den Wunsch nicht so nebenbei zwischen Walzer und Kotillon vorträgst.«
Anna fühlte wiederum »einen Stubs in die Erkenntnis«. Natürlich hatte Mama recht; aber sehr, sehr schwer ließ sich das menschliche Leben an, sobald man eine junge Dame werden sollte. Die scheidende Backfischzeit zeigte sich in immer leuchtenderem Glanze, und unwillkürlich sprach sie wehmütig über ihren Suppenteller hin: »O selig, o selig, ein Backfisch zu sein!«
Trotzdem kam Anna fröhlich zum Abtanz; sie hatte Frau Kirst nachmittags kräftiger gefunden.
Da sie nun auch mit Otto Mohr in Frieden stand und das angenehme Bewußtsein hegte, daß sie zwar nicht zur Musterfee geeignet sei, doch auch nicht mehr bärenplump tanze, so fühlte sie sich eben bereit, »das Leben zu genießen«, als Emmy ihr entgegenrief: »Mike kommt nicht!«
Nein, Mike kam nicht; alle Kranzblumen standen traurig beisammen: »Mike kommt nicht!«
Da trat Doktor Olfers in ihren Kreis. »Liebe Mädchen, ich war eben bei Hennings und bringe euch Mikens Grüße. Der Kranz soll ihr zuliebe recht froh sein; erst wenn etwa eine von euch den Kopf um ihretwillen hängen ließe, würde es ihr schwer werden, zu Hause zu bleiben.«
»Die gute Mike.« – »Ja, so war sie.« – »Man mußte wirklich verständig sein und sich Mühe geben.« – »Ihr zuliebe!« –
So gab man sich denn Mühe und zumeist mit gutem Erfolg; auch von Edus Hungerabsichten bemerkte niemand etwas während der Tafel. Er führte Greten zu Tisch, die Anna fleißig bei Freundinnen und Bekannten vorgestellt hatte, und fand »die kleine Leipzigerin« ebenso »fein« wie das ganze »gebildete Essen«.
»Fein« war der Trinkspruch Ferrys, der, zwischen Grete und Anna sitzend, die Damen in Distichen leben ließ; er begann:
»Schön ist des Gartens Flor, sind die lieblichen Kinder des Lenzes,
Schöner die rosige Maid, die uns zur Seite erblüht;«
und endete nach längerer Zeit:
»Deshalb erhebet das Glas, ihr Aeltern sowohl wie ihr Jüngern,
Leert es der lieblichen Maid, leert es mit donnerndem Hoch.«
Er hatte Löwenmut bewiesen, als er den Toast übernahm, und übertraf die Kühnheit des Wüstenkönigs um ein gut Teil, als er auch noch mit dem olympischen Alten anstieß.
»Schwung des Weines, Schwung des Rhythmus – hat des Edeln Mut begeistert – seht, was unser Ferry wagt!« so sprach Mohrchen und war froh, daß er selber keinen Toast sprechen und nicht mit dem Alten anstoßen mußte.
»Fein« war auch Schwebefeins Rede auf Schüler und Schülerinnen, unter denen es vielleicht anfänglich einige Böckchen und Lineale gegeben habe, die aber jetzt mit Feen und Leutnants gewissermaßen wetttanzen könnten.
»Pikfein« war Vater Flinsch, der sein Lebtag berühmt gewesen durch launige Knüttelverse und der auch heute glänzte zu Roses Freude – sogar Frau von Rohr spendete ihm Beifall.
»Glorreich« war Professor Krauses Schlußwort, das die alten Griechen erwähnte, die auch neben der Geistesbildung des Körpers Gewandtheit nicht versäumt hätten, weshalb er nun erst seine jungen Leute als echte Schüler klassischer Zeiten begrüßen könne.
Und als der treudeutsche Ferry dabei murmelte: »Ich bin kein oller Grieche, sondern –« da nahm ihm dieser verblüffende Alte auch noch das unterirdische Raisonnement weg und fuhr fort: »Denn erst, wenn wir ein anderes Volk gründlich nach allen Seiten kennen, geht uns ein rechtes Verständnis auf für unsre eigene Art und unser eignes Wesen. Durch Prüfung am Fremden lernen wir deutsche Art kennen, würdigen und lieben –« und das Ende war ein Hoch auf das deutsche Vaterland.
Ferry schrie hoch, bis er kupferrot wurde, und Melanie sagte: »Es ist wirklich pikfein, daß wir auf unserm Abtanz ein Hoch auf das Deutsche Reich haben, das gibt uns Würde und einen Zug ins Große.«
In dieser Wonnestimmung sagte der deutsche Dichter zu seiner Nachbarin Grete: »Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich sehr gerne einmal mit Ihnen tanzte.«
Grete lachte. »Ich habe nichts dagegen, Sie brauchen mich nur aufzufordern – mein dritter Tanz nach der Pause ist noch frei.«
»Fein! – Aber es hat einen Haken – ich habe, außer Fräulein Krause für die Haupttänze, niemand vorher aufgefordert, denn ich bin kurzsichtig und finde allemal eine Falsche, wenn's losgeht. Fräulein Krause kenne ich schon heraus, aber Sie fände ich gar nicht. Das wäre nur möglich, wenn Sie sich ein wenig bemerklich machten.«
»Ja, das will ich schon, ich will in Ihre Nähe kommen und ›Piep! piep!‹ rufen.«
Sie lachten wie zwei Spielkinder über ihren Einfall, und er schrieb seinen Namen auf ihre Tanzkarte; dahinter: »Piep! piep!«
Als dann der Rheinländer beginnen sollte, sah Grete wohl, daß Wiese Ursache hatte, zaghaft zu sein; mit vorgerecktem Kinn lief er zwischen den Tänzerinnen umher, ohne seine Dame zu entdecken. Zweimal schon war er so nahe an ihr vorübergekommen, daß Grete sicher auf sein Erkennen rechnete, da endlich, beim drittenmal, sagte sie leise wie ein Vögelchen: »Piep! piep!« Mit einem Ruck stand Ferry, wandte sich ihr zu, kam siegessicher heran und bot ihr den Arm.
»Aber das war unfaßlich keck,« sagte Klementine. »Wer ist denn dies neue Mädchen eigentlich?«
Eugenie lächelte nur auf diese Frage und sah Anna spöttisch an, die eben mit Edu Birkhahn vorbeikam, um anzutreten. Anna blieb stehen und fragte: »Was gibt's?«
»Wer Grete Sonderstädt eigentlich ist!« erklärte Eugenie lachend.
»Grete? Ein liebes, fleißiges, herzensgutes Mädchen.«
»Die Herren durch Zeichen heranlockt und sich ausfällig benimmt, Fräulein Krause; wenn Sie näher mit ihr bekannt sind, sollten Sie ihr begreiflich machen, wie man sich in guter Gesellschaft beträgt,« bemerkte Klementine eifrig.
Anna zog die Augenbrauen hoch und sah Eugenien streng an. »Du hast uns gegenüber gesessen und weißt, wie das zusammenhängt; ich habe genau gesehen, daß du acht gabst! Du hättest also Fräulein von Rohr aufklären sollen. Statt dessen vermehrst du den Irrtum durch Achselzucken, gerade wie du dich am Bazartag über Mike Hennings aufhieltest – ich wundere mich über dich.«
Nach diesem Trumpf ging Anna mit ihrem Tänzer weiter; Eugenie aber sagte: »Ich weiß gar nicht, was diese Anna Krause sich herausnimmt. Gerade als sei sie die Höchstkommandierende. Das muß man ihr abgewöhnen, Tante darf sie im Verein nicht so obenaufkommen lassen: heute hat sie, ohne irgend jemand zu fragen, Krankensuppen bestellt!«
Klementine stimmte lebhaft bei.
Anna hatte indessen während des Kotillons noch eine Herzensfreude: Onkel Fritz tanzte mit Hilde und sah sehr glücklich aus, obgleich er als höflicher Mann die mit einem Kollegen zu seiner Linken sitzende Iduna nicht vernachlässigte.
Da Hilde in Schmiedings Wagen heimfuhr, konnte er sie natürlich nicht geleiten, er stand aber am Schlag und sprach ins Dunkel hinein etwas, was der lauschenden Anna ganz genau wie: »Auf morgen!« klang, und ihr Herz klopfte einen Hochzeitsmarsch.
Sie ließ sich auch nicht dadurch irre machen, daß er mit Papa in gelehrtem Gespräch ruhig hinter ihnen drein ging; beim Gutenachtsagen flüsterte sie: »Ich glaube, Onkel, du hast heute was Feines erlebt.«
Erstaunt wandte er sich noch einmal nach ihr um; als er ihr strahlendes Gesicht sah, lächelte er und sagte: »Du Schlaukopf – geh schlafen – auf morgen!«
Es war richtig: »Auf morgen!« so hatte der Zuruf an Hilde ja gelautet.
Anna schlief beglückt und zufrieden ein.