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Zwölftes Kapitel. Die Rache des Tugendbundes.

»Famos, daß es nicht regnet!« rief Hans, als der erste in seinem »Bücherschrank« getauften Zimmer erschien.

Ferry Wiese warf den Strohhut in die Ecke, fuhr sich mit der Linken durch die Dichtermähne, die sich leider gar nicht locken wollte, und fragte: »Was hat der Sonnenschein mit unsrer Vergeltung zu tun?«

Mohrchen, der nächste, wußte als praktischer Mann gleich, weshalb die Sonne angenehm war. Unten im Garten, so daß er von Hansens halbstockhohem Fenster bequem beobachtet werden konnte, ordnete Emmy den Kaffeetisch. Da der Hauptreiz des »Bücherschranks« in einem weinumlaubten Fenster bestand, konnten die Tugendbündler ungesehen hinabspähen, ja, lauter geäußerte Ergüsse sogar hören.

»Das ist vielversprechend, Hans,« sagte Max Schönbach, »aber du warst uns auch eine Genugtuung schuldig, nachdem du das vorige Kränzchen elend verbummelt hattest. Ich dachte schon, du hieltest es heimlich mit den Langzöpfen und wolltest uns die Rache versalzen. Man sollte es nicht merken, wenn Kranz ist?! – Da tobt Mela bei uns drei Tage vorher mit Verschönerungswut im Hause herum.«

Hans gab durch Widerspruchslosigkeit zu, daß er sich eines Bockes bewußt war, und suchte die Freunde auf etwas andres zu bringen. Die Kanne erhebend, begann er: »Hier, Kampfgenossen, ist Kaffee, den ich auf Spiritus selbst gekocht habe, was ich anzuerkennen bitte. Die Bohnen sind mit einem Stein zerklopft und die Brühe hab' ich durch ein Schnupftuch gegossen.«

»Ist eure Magd krank?«

»Bereitest du dich für eine Kriegslaufbahn vor?«

»Oder fürs Hinterland von Kamerun?«

»Oed! Emmy soll doch nicht wissen, daß ihr da seid; denkt ihr, sie nehmen sich sonst da unten nicht in acht? Ich habe sogar vor einer Stunde feierlich von unsrer Klügsten Abschied genommen, und sie denkt, ich sei mit dem ganzen Tugendbunde nach Dausenau. Sowie ich aber den Kuchen gekauft hatte, schlich ich mich heimlich wieder ins Haus.«

»Hans übertrifft sich selber,« bemerkte Edu, mit Liebesblicken den Kuchen betrachtend. »Rache scheint wirklich süß.«

Kurtchen aber rief: »Ungeheuer ist mein Feuer,« und vertilgte feurig das größte Stück, das er erwischen konnte.

Inzwischen trat unten Mike in den Garten, sie ging sehr langsam, blieb endlich gar stehen und schmiegte die Wange zärtlich an eine volle Rose, die sich über den Weg bog. Emmy beobachtete sie einen Augenblick staunend, dann sprang sie auf und eilte ihr entgegen.

»Miks, lieber Miks, ist dir etwas geschehen?«

Erstaunt sah Mike von der Rose auf.

»Geschehen? Behüte – wie kommst du darauf? Ich dachte nur an Papa und wie viel länger er wegbleibt, als wir anfangs meinten. Ich hoffe, Karlsbad bekommt ihm recht gut, und er bleibt, bis er ganz gesund ist. Hast du Nachricht von deinem Papa?«

Emmy war nun auch ernsthaft geworden, sie teilte Mikes Hoffnung nicht ganz. Sie wußte, daß ihre Väter Briefe wechselten, von deren Inhalt niemand etwas erfuhr, die den Arzt aber jedesmal trübe stimmten. Vor zwei Tagen war wieder so ein Brief gekommen, und am Abend darauf reiste Doktor Olfers ab. Er sagte allerdings, er sei zu einem Kranken gerufen, und das kam ja vor; nur hatte der Vater sonst in Sommerszeiten solchen Rufen keine Folge geleistet, zumal, wenn sie aus so weiter Ferne kamen – er nannte ein böhmisches Dorf und setzte hinzu: »Wenn ich nicht zu lange aufgehalten werde, gehe ich über Karlsbad zurück, vielleicht können wir zusammen heimreisen, der Papa Hennings und ich.«

Emmy wußte nicht, ob er das auch bei Hennings gesagt hatte, als er auf dem Wege zum Bahnhof noch einmal dort hinaufgegangen war. Vielleicht fragte Mike deshalb. Aber ein Brief war nicht da und würde kaum kommen. Doktor Olfers schrieb selten auf kurzen Berufsreisen.

Mike nickte zu Emmys Antwort schwermütig mit dem Kopf, als wolle sie sagen: »Ja, ja,« dann seufzte sie leise, ganz leise; Emmy brauchte das nicht zu hören und ebenfalls betrübt zu werden, und als die beiden schon in der Laube standen, sagte sie als Schluß ihrer unausgesprochenen Gedanken: »Ich wollte, unser Papa käme mit deinem nach Hause!« »

Und wäre ganz wohl auf und gesund und ginge mit uns in die Berge wie sonst,« fiel Emmy lebhaft ein; »aber du hast keinen Anlaß zum Kopfhängen bei diesem herrlichen Sonnenschein, du mußt mein lustiger Miks sein.«

Mike hängte den Hut an einen Ast und packte die Arbeit aus, die Klara ihr reichlich zugemessen hatte. Dabei sagte sie: »Du hast recht, ich bin auch vergnügt, manchmal ist einem bloß ein bißchen nachdenklich zu Mute, das kommt von den Jahren.«

Da wurden sie von Lili und Mela unterbrochen, denen Anna und Hilde mit Schnellschritten folgten. Man reihte sich um den Tisch, genoß Kaffee und Kuchen und plauderte. Die Tugendbündler schauten hinter den Weinranken durchs Fenster des »Bücherschranks« und warteten großer Dinge.

Da trat plötzlich ein Dienstmann in die Gartentür, auf dessen Schulter ein mächtiger Weinkorb schaukelte.

»He!« schrie er nach der Laube hinüber, »bin ich hier recht bei 's Montagskränzche?«

Emmy wandte sich um und betrachtete staunend und schweigend Mann und Korb, Anna aber rief: »Jawohl, wir sind das Montagskränzchen.«

Der Mann kam näher, legte die Rechte militärisch an die Dienstmütze, hob dann mit einem geradezu verblüffenden Ruck den Korb von der linken Schulter und stellte ihn vor der Laube auf den Kiesplatz.

»Abzugebe an das Montagskränzche zu Hände des Fräulei Emiche Olfers. Is recht so?«

»Ja, das ist recht so, ich bin das Emiche –«

»Bonng,« versetzte der Dienstmann und machte kehrt; ehe er aber zum Garten hinaus war, hatten Emmy, Lili und Anna ihn eingeholt.

»Halt, halt, sagen Sie, wo kommen Sie denn eigentlich her?«

»Von mei'm Stand am Kursaal.«

»Nicht doch! Wer hat Ihnen den Korb gegeben?«

Er lachte verschmitzt: »Ae klei hübsch Mädche mit rote Bäckche und gelbe Härche hat mir das Körbche gegebe und mir 'n Gruß aufgetrage an alle Blümche.«

Weg war er, und sinnend umstanden die Blümche den Riesenkorb.

Droben hinter den Weinranken aber lagen sechs Jünglinge übereinander. Die untersten knurrten von Zeit zu Zeit »Au!«, die obersten rutschten von Zeit zu Zeit bedenklich, aber vom Platze wich keiner.

Kopfschüttelnd umstanden draußen die Kränzlerinnen den Korb, bis Anna ein kleines Pappschild entdeckte, auf dem stand:

»Dem weit und breit bekannten,
Zumeist mit Ruhm genannten,
Nun Bösem zugewandten
Montagskränzchen.«

Einen Augenblick verharrten die Blumen, als sie dies hörten, in Schweigen, dann aber machte sich die Empörung in lauten Ausrufen Luft.

»Wir wären dem Bösen zugewandt?«

»Hilde, süße Hilde, was sagst du zu solcher Beleidigung?«

»Ich würde aufmachen und sehen, ob es so schlimm gemeint ist. Wer weiß, ob das, was drinnen steckt, nicht reden kann.«

»Richtig –!«

Emmy holte das Stickscherchen aus der Laube und machte sich ans Zerschneiden der Stricke.

Mike schwang das Kuchenmesser zur Unterstützung des Stickscherchens und klappte unter allgemeinem »Ah!« den Deckel auf.

Der Korb war offen, die Kränzlerinnen standen vor ihm in erwartungsvollem Staunen, als müsse der Inhalt selber heraussteigen, und die Bündler lagen oben hinterm Weinlaub mit aufs äußerste gespannten Sinnen. Mike hatte am wenigsten Scheu vor dem Unbekannten. »Was ist denn das für Krimskrams?« fragte sie, die Lage Heu durchwühlend, die den Kranzblumen nicht gerade vielversprechend entgegenstarrte.

Emmy und Anna griffen zu und warfen eine Ladung Heu nach der andern auf den Kies; Mike durchwühlte jedes herausgeworfene Bündelchen noch einmal gründlich, Lili, Mela und Hilde sahen neugierig zu.

»Nichts wie Heu,« rief sie empört, als es sich schon mächtig auf dem Kiesplatz blähte. »Wir sind doch keine Wiederkäuer!«

»Schmachvoll, wirklich höchst schmachvoll!« stimmte Emmy lachend bei und patschte dabei mutwillig auf das Heu.

»Halt, ich hab's! Da ist etwas!« ließ sich Mike vernehmen. »Der erste Erfolg. Ich nehme an, es liegt für jede von uns eine Brillantbrosche im Grunde, denn sonst lohnte die Aufregung nicht. Zunächst aber wollen wir uns an dieser schriftlichen Mitteilung unsres unbekannten Gönners erfreuen.«

Kurtchen Baltzer hätte um ein Haar einen verräterischen Wonneschrei ausgestoßen, stopfte sich aber noch rechtzeitig ein Schnupftuch in den Mund und drückte nur den unter ihm liegenden Ferry »schmählich zu Mus«.

Inzwischen hatte sich Mela im Schutz der Laube auf einen Stuhl geschwungen, zeigte den Versammelten von allen Seiten ein säuberlich beklebtes Stück Pappe und las dann vor:

»Früher glaubt' ich an die Sage,
Daß das Herz der Frauen mild
Mitleid fühlt mit jeder Plage,
Jedes Leid und Sehnen stillt,
Sanft sei Mädchenblumensinn,
Ihre Freundschaft ein Gewinn –
Doch in dieses Sommers Tagen
Schwand uns solche Illusion –
Lindern nicht, nein selber plagen,
Zischen, träufeln Gift und Hohn,
Necken, bringt es gleich Verdruß,
Solches ist ihr Hochgenuß.«

»Hört mal, das ist stark. Wenn ich den Poeten erwische, weiß ich, wo ich ihn anfasse, und wäre er noch so lang. Der tugendlose Tugendbund schickt uns das Heu.«

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»Was ist denn das für Krimskrams?« fragte Mike, die Lage Heu durchwühlend.

Diesmal mußte Ferry Wiese sich den Mund zuhalten, denn ein halbes Dutzend Hände langte nach seinen Ohren. Hans, der lange Ritter, suchte den Eingekeilten zu schützen, aber einige Zwicker trug er doch davon.

»Geht das noch weiter?« fragte Anna unten.

Mela nickte, wandte den Pappdeckel um und fuhr fort:

»Da wir also euch erkannten,
Schwuren wir der Rache Schwur,
Was wir hier euch übersandten,
Zeigt des Strafgerichts Natur.
Wehe, wehe, wehe spricht
Jetzt das hohe Femgericht.«

»Ich bin starr,« rief Mela und sprang vom Stuhl. »Solche Keckheit!«

»Wem hätten wir je etwas getan?« fragte Emmy, überzeugt von ihrer Unschuld. Anna besah die Pappe von allen Seiten, zog die Stirn in Falten und verkündete dann: »Geschrieben hat's der kleine Edu – ich kenne alle ihre Handschriften, wozu liegen die Hefte in Papas Stube herum.«

»Ich bin erschossen,« seufzte Edu oben hinterm Weinlaub, »und sie nennen mich auch noch den Kleinen.«

»Aber es ist doch nicht etwa nur Heu in dem Korbe, um dies ruppige Poem weich zu betten?« fragte draußen eine Stimme.

»Ruppig,« seufzte Ferry drinnen. »Kinder, auf diese Kritik trinke ich noch eine Tasse Kaffee; das Horchen hat manchmal seine niederdrückenden Augenblicke.«

Alle Blumen knieten oder standen jetzt um den Riesenkorb herum und beförderten Heu aus seiner Tiefe, sogar Hilde half eifrig mit. Mehr und mehr türmte es sich vor der Laube auf.

»Ach, wenn ich doch ein Böckchen wär'!« sang Mike in die Lüfte und lockte die Lauscher oben vom Kaffeetisch ans Fenster zurück.

Da rief Mike plötzlich: »Halt!«

Alle Hände außer Mikens waren aus dem Heu aufgetaucht. Mike aber sprach: »Ich fühle etwas Hartes – wer weiß, aufs neue narrt es – doch mutig greif' ich in den Grund – nicht morden wird der Tugendbund.«

»Mike, du greifst in Annas Amt!«

»Wenn Anna die weihevollsten, großartigsten, aufregendsten Augenblicke unsres Kränzchendaseins unbesungen vorübergehenläßt, dann regt sich in mir das Saitenspiel und es dichtet von selber; es ist dann gerade wie bei dem netten alten Herrn, dem die Steine Amen sagten, weil keine Menschen den Mund auftun wollten.«

»Mike, dein Bild paßt vortrefflich, du bist wirklich ein unbarmherziger Stein; warum läßt du uns zappeln wie Fische an der Angel? Heraus aus der Tiefe mit dem harten Geheimnis!«

Mike versenkte beide Hände in den Grund, stellte sich an, als gälte es, einen Zentner emporzuheben, und brachte schließlich unter Aechzen und Stöhnen eine große, aber federleichte Pappschachtel ans Tageslicht.

»Aha, die Diamantbroschen!«

»Ich denke mir, es ist ein einziges, herrliches Schmuckstück darin, geradeswegs bezogen aus dem Neste des Vogels Greif –«

»Da möchte ich wissen, welcher den Todesmut zur Entwendung gehabt hat.«

»Natürlich das dicke Kurtchen – ungeheuer ist sein Feuer.«

Das dicke Kurtchen mußte sich hinterm Weinlaub auslachen lassen und knurrte noch, als Mike, die Schachtel ans Herz drückend, sagte: »Nein, es war der lange Hans, der konnte am besten hinaufreichen. Uebrigens wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß ich der glückliche Finder bin – also der Fortunatussäckel oder das Wunschhütchen, oder der Zauberring, oder die einträgliche Wunderlampe, die da drinnen steckt, kommt ans Haus Hennings.«

Und Mike nahm zum zweitenmal das Kuchenmesser. Damit sich alle rundum drängen konnten, schob Emmy einen kleinen Aushilfstisch vor die Laube – der Faden riß, der Deckel wurde gehoben. »Watte!« erscholl es sechsstimmig.

»O Hüon, mein Gatte,
Hier gibt es nur Watte,«

sang Mela nach Oberonmelodien.

»Still, ich fühle was – da! Noch ein Päckchen! Aber ach, die Diamantbroschen werden immer leichter. – Noch einen Faden laßt mich lösen – sei es zum Guten oder Bösen –«

»Anna, warum sagst du kein Wort? Warum läßt du dir von Mike alles wegdichten?« fragte Emmy.

»Ich ärgere mich; wie kommen die Schulfüchse dazu, uns zum besten zu haben?«

»O Anna, das ist doch nur Ulk, es macht mir einzigen Spaß, noch dazu, wo zwei Kränzchenbrüder dabei sind.«

»Da ist noch was Geschriebenes,« rief Mike. »Sehr lang, auf hoffnungsgrünem Papier, hört zu.«

Mike stieg nicht auf den Stuhl, sie blieb hinter ihrer Schachtel stehen, begleitete aber das Vorgelesene mit großartigen Handbewegungen, die unten lautes und oben ersticktes Beifallsgelächter erregten.

»Jetzo, o Blumenkranz, vernimm die Lösung des Rätsels:
Da du besungen uns hast in spöttisch neckendem Tone,
Leide das Gegengeschenk vom feurigen Kurt und dem langen
Tänzerin hebenden Hans, auch von Edu, dem sparsamen Braven,
Der sich den Ersten lobt vor andern Tagen des Monats.
Mäxchen war auch dabei, doch können wir andern versichern,
Keinerlei Bart schmückt den Mund, ihr übt Schokoladenverleumdung,
Mohrchen, der Waschhausentsproßne (Kartoffelfeld zeigt sich als Irrtum),
Saß als Weiser am Tisch und leitet der Femrichter Rechtspruch;
Sämtlicher Urteil gebot: auch sie treffe jede ein Verslein.
Denn wie du mir, so ich dir, ist ein biederes, altdeutsches Wahrwort.
Kaum war das Urteil gefällt, so begann ein geschäftiges Wirken,
Ferry, der dichtende Held, hat so wachend wie träumend geversfußt;
Und nachdem also den Zorn wir in liebliche Reime gegossen,
War er im Herzen verraucht – Freundschaft entbietet der Bund.«

»Ja, Freundschaft!« rief Mela, als Mikes Vortrag zu Ende war, »aber dazu müssen wir auch ja sagen!«

Emmy aber sprach: »Kinder, ich glaube gar, die kennen unsre Briefverse. Wie ist denn das möglich? Was soll denn das heißen?«

Ueber dieser Erkenntnis und den daraus keimenden Erwägungen ging zunächst alles unter. Sie steckten die Köpfe zusammen, sie sprachen alle zugleich, sie fragten ins Blaue hinein, schüttelten Locken und Zöpfe und verschworen ihre Unschuld.

Anna stürzte zu Hilde.

»Hilde, wo ist der Brief?«

»Wohlverschlossen daheim in meinem Pult.«

»Dann ist es unfaßlich, undenkbar! Emmy, konnte eins bei euch lauschen?«

Nein, alle Olfers waren an dem denkwürdigen Nachmittag über Land gewesen.

»Dann ist Hexerei im Spiel!«

Lili hatte sich bisher sehr ruhig verhalten; auch jetzt stand sie schweigend inmitten der Aufgeregten. Als Anna sie, Teilnahme heischend, anschaute, zuckte sie die Achseln und setzte sich an den Kaffeetisch, während die andern sich um Mike drängten, die im Begriff war, das letzte Päckchen zu öffnen.

»Nimm dich in acht, Mike!« rief Mela, »es steckt gewiß ein Laubfrosch drin und springt dir an die Nase, wenn du aufmachst.«

»Oder für jede ein Maikäfer.«

Mike aber sprach feierlich: »Nein, das trau' ich ihnen nicht zu, da drin ist gewiß etwas Nettes.«

»Menschenkennerin,« sagte Mohrchen droben.

Und unten zerschnitt Mike zum letztenmal mit dem gewaltigen Kuchenmesser ein Bindfädchen, dem auch die Stickschere hätte beikommen können.

»Ein Apfel!« rief sie erstaunt – »natürlich Frühsorte – und wieder ein Vers!«

»Einst entzweite Göttinnen selber ein Aepflein,
Ohne Sorge, nicht soll ein Erisapfel euch der sein,
Nicht der Schönsten von euch – das könnte selbst Kränzlein zerreißen –
Sei dieser Apfel geweiht, man kann ihn auch gar nicht verspeisen.
Und damit keine der andern mißgönne die rundliche Spende,
Legen wir spendefroh sechs gleiche in euere Hände.«

Mike, den einen mit der Linken festhaltend, riß die letzte Papierhülle ab, und fünf weitere, ganz gleiche Aepfelchen rollten ihr entgegen. Nun sah sie auch, daß es Pappäpfel waren; von oben gesehen, ganz täuschend nachgeahmt, unten aber zeigten sie eine kleine Klappe, und auf diesen Klappen fand sich je der Name einer Kränzlerin.

»Hurra! Ein Körbchen her – daraus ziehen wir dann, um die Reihenfolge des Oeffnens zu bestimmen.«

Emmy reichte das Körbchen, Mike kollerte die Aepfel hinein, Mela mußte ziehen.

Anna Krauses war der erste. Als Mike öffnete, kam ein Papierstreifchen zu Tage und ein ganz winziges Seidenpapierkügelchen.

Auf dem Streifen stand:

»Du auch, o Anna, dichtest liebliche Lieder,
Aber bedenkst du dereinst den biedern Tugendbund wieder,
Laß, darum bitten wir dich, mitsamt deinen helfenden Schönen,
Sanftere Weisen ertönen.«

In dem Seidenpapierknäuel aber lag ein kleiner Anhängeapfel, gelb, mit rotemaillierten Backen, einem feinen grünen Blättchen und einem kleinen, vom Stiel gebildeten Henkel.

Allgemein war das Entzücken, die Lauscher konnten zufrieden sein, nur Anna und Lili waren auffallend still.

Der zweite Apfel trug Emmys Namen.

»Man sagt dir Sanftmut nach
In Haus und Städtchen,
Doch kenn' ich sanfter noch
Gar manches Mädchen.
Wer spitze Verse macht, liebt auch das Streiten,
Der arme, lange Hans, was mag der leiden?«

Emmy lachte und drohte mit dem Finger nach dem Haus: »Wart nur, du verleumderischer Hans, du sollst mich kennen lernen.«

Da sich außerdem abermals ein Aepfelchen im Apfel fand, regte sich die Hoffnung, daß alle das Gleiche erhalten würden, und Mike machte sich mit Gemütsruhe über Melas Vers:

»Die etwa hie und da im Leben
Sich 'mal verfährt ist übel dran,
Gut, wenn ein Bruder ihr gegeben,
Der renkt dann ein, soviel er kann.
Doch solchem Bruder Spott zu dichten,
So etwas loben wir mit nichten.«

»Und er hat doch manchmal einen Schokoladebart,« sprach Mela, nahm ihr Geschenk und setzte sich neben Lili.

Inzwischen hatte Mike ihr eigenes Aepfelchen geöffnet.

»Zwar tanzt die Mike nicht sehr fein,
Doch könnt' es auch noch schlimmer sein,
Das Lebensretten füllt die Zeit,
Drum fehlt es ihr an Drehbarkeit.«

»Sie sind wirklich ein bißchen boshaft,« sagte Mike kopfschüttelnd, »aber für das niedliche Bammeläpfelchen könnten sie noch viel schlechtere Verse machen.«

Dem Urteil folgte der Ruf: »An Lili, unser Vergißmeinnicht – Lili erscheine!«

»Zwar ist dein Wänglein sanft und rund,
Doch spitz und plauderhaft dein Mund,
Man denkt erst nach, eh' man was spricht,
Und Freundeswort verrät man nicht.«

»Beinah grob,« sagte Melanie nachdenklich. Lili selbst nahm mit erneutem Achselzucken ihre Gabe in Empfang. »Ich finde das Ganze sehr anmaßend.«

»Verschlagenes Püppchen,« brummte droben Max, unten aber gingen diese Verse und der Empfängerin Benehmen verloren, da Mike, den letzten Pappapfel hochhaltend, ausrief: »O Hilde, das bist du! wenn sie dir etwas angetan haben, dann werf' ich ihnen den Fehdehandschuh hin, gestopft mit meinem Zorn, meiner Verachtung und meinem Racheschwur, trotz der entzückenden Aepfelchen.«

Aber das war nicht nötig. Ferry hatte hier, wo es nichts zu rächen gab, seinem Frauenlob die Zügel schießen lassen.

»Schönste im Blumenkranz, ehrfurchtsvoll
Spenden wir dir der Bewundrung Zoll;
Männer wie Mägdlein entzückest du,
Alte und Junge berückest du!
Nimm mit dem gütigen Labesinn
Unsre bescheidne Gabe hin.«

Mit diesem Tone waren die Kränzlerinnen durchaus zufrieden; Anna erklärte den Vers für vollendet, dann versank sie wieder in Schweigen.

Die Mädchen umstanden das geleerte Mammut und die aufgetürmten Futterhaufen. Was nun?

Vor allen Dingen wurde das Heu wieder in den Korb gestopft, damit Olfers Garten nicht aussähe wie »der Tummelplatz schlemmender Wiederkäuer«; dann hielt man Rat, wie dieser Heureichtum wohl am besten verbraucht werden könne.

»Stopfen wir davon jedem Bündler ein Ruhekissen.«

»Aber Igelhaare dazwischen.«

»Nein; geschenkt ist geschenkt, es wird nichts zurückgegeben. Ich schlage eine Anzeige vor: ›Schlechtgenährte Karnickel werden eingeladen. Frankenweg im Bücherschrank. Fütterung frei.‹«

»Oder: ›Eine Ziege kann fett werden – nur armer Leute Kind mag sich melden.‹«

»Oder: ›Ein Heuhaufen zu vermieten; Sommerfrischler, die Uebung im Purzelbaumschießen haben, bevorzugt.‹«

»Nein, ich weiß,« entschied Mike. »Heute abend geh' ich bei Kirsts vor – Ernst kann Korb und Heu holen, – brauchen sie's nicht selber, so kauft's ihnen einer ab.«

»Einverstanden. Nun wollen wir noch eine Tasse trinken und uns dabei überlegen, welche Gegenäußerung angemessen ist.«

Eben wollte Anna als erste in der Laube verschwinden, als diese Bemerkung gemacht wurde; mit einem Ruck wandte sie sich um und sprach laut und deutlich, das ernsthafte Gesicht dem Bücherschrankfenster gerade gegenüber: »Keine – ich wenigstens bin zu keiner zu haben.«

»O Anna!«

»Du hast das doch nicht etwa übelgenommen? Das ist doch ein lustiger Ulk.«

»Nein, ich habe das nicht übel genommen, das gewiß nicht, und wenn ich an eurer Stelle wäre, würde mir eine Gegenäußerung auch Spaß machen. – Mir ist aber etwas sehr Häßliches geschehen, und ich habe schon lange bedauert, daß ich die lustigen Verse gemacht habe, obgleich sie nur für uns bestimmt waren. Wenn ich die Schulfüchse vorher so gekannt hätte wie jetzt, wären sie nie angedichtet worden, wäre ich gar nicht in die Tanzstunde gekommen. Ja, ich bin überhaupt nur wieder hingegangen, weil ich Papa die Ungezogenheit nicht erzählen wollte.«

»O Anna,« rief Emmy, »was haben denn die schrecklichen Jungen angerichtet?«

»Ich glaube, es war nur einer, aber ich weiß nicht welcher, und das ist das Allerschlimmste – einzig bei Wiese bin ich sicher, daß er's nicht war.«

»Ferry, der Reine,« sprach das dicke Kurtchen oben, nu möcht' ich bloß wissen, wer unsres Alten brave Anna aufs Füßchen getreten hat.«

Unten aber fuhr Anna fort: »Ich will es euch sagen, obwohl ihr nichts davon wissen solltet. Es hat einer gesagt, ich tanze wie ein Bär – was noch angehen könnte – aber er hat hinzugefügt: um des Alten willen – das ist mein goldener Papa – müsse man mich dennoch herumschwenken, oder schleifen oder würgen.«

»Donnerwetter,« rief oben Mohrchen, »wer ist der Esel gewesen?«

»I, das war gar keiner von uns«, meinte Baltzer. »Was wäre denn das für 'ne Arbeit, so' n bissel Mädel umzuschwenken – ungeheure Kleinigkeit.«

Edu aber kratzte sich hinter den Ohren, und Hans pfiff Hans leise den Dessauermarsch.

»Nun, waret ihr etwa so leichtsinnig?«

»Nee, aber ich glaube, da hat sich einer selber 'nen Esel genannt.«

»Was?« fuhr Mohrchen herum. »Ich doch nicht etwa?«

Aber es blieb an Mohrchen hängen. Hans und Edu wußten's genau, Maxen und Kurtchen fiel es wieder ein, und Ferry gab den Ausschlag, da er auf die Gegenäußerung Hansens hin, daß eine nicht alles können könne, den Mut gefunden hatte, mit der dichtenden Tochter des erhabenen Alten zu tanzen.

Auch Mohrchen entsann sich nun der »faulen Geschichte« wieder und erklärte sich für »geknickt«.

Daß Kurtchen ihm eine kohlpechschwarze Seele zuschrieb, tat ihm nicht weh, daß aber Anna Krause, die auch noch so furchtbar anständig gewesen war, es dem Alten nicht zu klatschen, sich über seine lose Rede gekränkt hatte, das ging ihm nahe. Und ihm hatte man solch einen schönen Vers angehängt – den allerschönsten; Kurt deklamierte eben zur Verschärfung der Reuepein mit vielem Eifer:

»Mohrchen, der Kluge zubenannt
Ist jedem Amsler wohlbekannt,
Nie litt er an Gendankenschwund,«

bei welcher Gelegenheit sämtliche Tugendbündler in ein bedeutsames »Na, na, na!« ausbrachen.

Mohrchen saß geknickt auf dem Sofa und trank den Kaffeerest – er schüttelte wehmütig den dicken, Kopf und sagte endlich: »Liebe Mitmänner, nun tut mir den einzigen Gefallen und verratet mich nicht, denn ach, es graut mir vor der Anna Zorn!«

»Natürlich,« riefen sie, »wir sind doch nicht lumpig – nichts wird verraten!«

Jeder schüttelte ihm die Hand; es war feierlich, wie auf dem Rütli.

Dann verfügten sie sich wieder ans Fenster; aber der Beobachtungsplatz war nicht mehr lohnend, die Mädchen saßen jetzt in der Laube, kein noch so feines Schulfuchsohr konnte etwas erlauschen.

Punkt sieben Uhr schieden sie in höchst bewegter Stimmung; Emmy und Mela schüttelten sich zum Abschied bedeutungsvoll die Hand.

»Jetzt gilt es zu zeigen, daß wir schlauer sind als unsre Herren Brüder – den Bärenhäuter müssen wir herausbekommen!«

 


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