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Fünftes Kapitel. Die Kritik der Parade.

»Also schön war's?« fragte Rat Hennings am nächsten Morgen aus seinem Krankenstuhl heraus, in dem er blaß und frierend zusammenschauerte, trotz der wärmenden Maiensonne.

»Ja, Papa, es war schön: man genierte sich ein bißchen und kam sich beinahe vor wie eine Dame, aber schließlich wurde man doch lustig, was ich Damen nicht so recht zutraue. Und der ganze Männer-Tugendbund hat mit mir getanzt.«

»Wer?«

»Ei, Papa, Hans Olfers sein Kränzchen – sie spuken zwar –«

»Was?«

»Ich meine, sie schelten, wenn man Kränzchen sagt, weil das weibisch sein soll; aber es ist wirklich ein richtiges Braunbierkränzchen, nur daß sie sechsmal in der Woche zusammenkommen, statt einmal, und dabei gelehrt tun. Trotzdem sind sie nett und haben mich kein einzigmal zappeln lassen. Weißt du, Papa, ich meine so bis zuletzt dastehen und rot werden und Angst haben, es möge nicht rechtzeitig einer kommen, einen zu holen! Und Melas Bruder hat auch das Kränzchen hochgehalten und mich einen ganzen Walzer lang herumgewürgt, obwohl er schon vorher gesehen hatte, wie schlecht ich's konnte. Weißt du, Papa, ich bin immer auf und nieder gezappelt, als bliese ein Wind an mir herum; er aber hat stramm gehalten, wie der Fels im Meer, sonst wären wir auch auf den Vorsaal gekommen. Die beiden fremden Primaner haben da gleich den Schrecken vor deiner Mike gekriegt, und keiner hat sich an sie gewagt; ich glaube, ich bin die Tanzstundenscheuche.«

»Arme Mike,« sagte der Vater, halb lachend, halb mitleidig.

»Na weißt du,« tröstete sie, »es tut nichts. Amüsiert wird sich doch, sagt der lange Hans, und der Männerbund läßt mich nicht sitzen, der kleine Edu hat mir's anvertraut – «

»Aber Mike!«

»Ich kann nichts dafür, Papa, sie heißen so: das dicke Kurtchen, der kleine Edu, der lange Hans, Ferry der Dichter, das kluge Mohrchen. Und der kleine Edu hat es verraten, sie haben Hochachtung vor mir. Nein, Papa, du darfst nicht lachen! Richtige Hochachtung, alle fünf zusammen, und Schönbachs Max auch manchmal mit – besonders wenn sie Lagerbier trinken. All die vielen Stützen des Vaterlandes haben Hochachtung vor deinem dummen Miks, weil ich doch voriges Jahr das Glück hatte, weißt du, und den kleinen Franz lebendig aus dem Wasser kriegte, und da hätten sie sich's geschworen, sagte der kleine Edu, mich niemals beim Tanzen sitzen zu lassen. – So wunderbar ist das Menschenleben: weil ich Schwimmstunde gehabt habe, brauch' ich nun nicht zu schimmeln.«

Mitten in Mikes Lebensbetrachtung hinein klang Doktor Olfers freundliches »Guten Morgen«.

»Nun, wie steht's mit unsrer Tänzerin? Treibt sie's auch wie unsre beiden, die heute im vollsten Erzähleifer um ein Haar die ›Acht‹ überhört hätten?«

Mike antwortete feurig auf die freundliche Ansprache, während der kranke Hausvater dem Doktor die Hand drückte. Dann schaute er wieder lächelnd seinem Springinsfeld zu, der Arzt aber sah mit nachdenklich prüfendem Blick auf den Freund und Patienten.

Plötzlich bemerkte Mike diesen Blick und erschrak. »Soll ich Mama schicken?« stammelte sie.

»Nein, wenn wir Mama brauchen, werde ich klingeln, früher störe sie nicht,« fiel Doktor Olfers ein. »Aber allein könntest du uns jetzt einmal lassen, du angehendes Feenkind.«

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»Gut bekommen, Mike Hennings? Fein gewesen, nicht wahr?« fragte Anna.

Mike schlüpfte hinaus. Es gab vielerlei für sie zu tun: das Jakonettkleid frisch aufzubügeln, Mama in der Küche zu helfen, für Klara eine Reihe Nähte zu verputzen. Klaras Aufgabe mochte das Eiligste sein, Mama half sich schon selbst, bis das Corps der Rache – so nannten die beiden Großen das kleine Kleeblatt – aus der Schule kam. Sie nahm Nadel und Faden, aber die Arbeit förderte nicht, die Hand zitterte ihr, und sie mußte erst noch ein bißchen nachdenken. Mama sollte nicht kommen, Onkel Doktor wollte mit Papa allein sein! Ob Papa sich sehr elend fühlte? Sie schlug sich noch mit schweren Gedanken herum, als es an die Tür klopfte und Anna Krause, vergnügt das Sonnenschirmchen schwenkend, hereintrat.

»Gut bekommen, Mike Hennings? Fein gewesen, nicht wahr? Papas erste Frage war, wie lange wir getanzt hätten. Ich machte meinen Knicks und sagte ihm: bis zum erlaubten Glockenschlag neun. Die nachfolgende Stunde ging hin bei Tee, Butterbrot und gebildeten Gesprächen, was auch gelernt sein will: nämlich das Benehmen dabei.«

»Ja, und der vorbildliche Meister Schwebefein balancierte die Tasse wie ein Jongleur und stand vor Frau von Rohr mit zusammengewirbelten Beinen, wie ein Gesandtschaftsattaché, der für seinen Staat eine Vergünstigung erobern will.«

»Wer hat denn das gesagt?« fragte Anna mit emporgezogenen Augenbrauen.

»Natürlich Gitta.«

»Diese Gitta gefällt mir nicht,« sagte Anna mißbilligend, »aber ich komme nicht wegen eines Tanzstundenplauschs, ich habe Wichtigeres auf dem Herzen.«

»Wichtigeres?« fragte Mike gedankenlos, weil sie nach des Vaters Türe horchte; was aber Anna dann erzählte, fesselte ihre Aufmerksamkeit doch.

»Ich bin nämlich unglücklich, Mike, und du sollst mir beistehen.«

»Ich?«

»Es ist wegen der Wohltätigkeit, zu der sie mich gepreßt haben. Die Sitzung war so weit ganz fein: ich saß ehrenvoll, als stimmberechtigtes Wesen, in einem Kreise ehrfurchtgebietender Würdenträger, aber das böse Ende kommt nach. Fräulein Iduna richtet eine Kleinkinderschule ein, und da habe ich mich verpflichten müssen, für einen Tag in der Woche Helferin zu sein, das heißt mir ganz allein zu helfen: ich muß die Kinder unterhalten und beaufsichtigen; Kurt nennt mich Volksgouvernante! Es ist zwar eine Frau da, die ›Muhme‹ genannt, die für reine Hände, glatte Haare, Frühstücksbrote und Gröberes zu stehen hat, aber lange darf man sie nicht regieren lassen, und bei Licht besehen geht der ganze Tag drauf. Also denk dir, Montag Kranz, Mittwoch Hüpfen, Freitag Kleinkinderschule, Sonnabend Schweben, alle Morgen- und Abendstunden Gartenkunst, was bleibt da für mein Studium?«

»Das schiebst du für den Winter auf, wo es keine Gartenarbeit gibt.«

»Nun ja – aber – es graut mir vor diesem Freitag; Mike – morgen ist der Erste!«

Mike dachte an den Vater und Annas Kummer schien ihr sehr klein, aber sie versuchte doch zu trösten. »Es macht dir gewiß noch Freude, Spielkindgouvernante zu sein. Denk an unsre Pfleglinge! mit denen verstandest du doch so gut umzugehen.«

»Ja – aber das tat ich, weil ich Lust hatte, und hier muß ich. Mike!« Anna wurde plötzlich sehr feierlich. »Weißt du, weshalb ich hier bin? Du mußt mit dabei sein! Zu zweit geht es besser, und die meisten Tage haben zwei Damen wegen der Abwechselung und Aushilfe. Ich habe ganz freie Hand in der Wahl, und wir würden uns fein vertragen.«

Mike hätte gern ja gejubelt, die Beratung im Nebenzimmer aber ließ sie diesmal auch nicht für einen Augenblick ihre häuslichen Pflichten vergessen, und sie schüttelte den Kopf: »Ich möchte schon, aber wenn ich Kläres Nähmaschine so vor mir sehe –« Sie machte schnell ein paar Stiche an ihrer Taille, ohne zu reden, dann fuhr sie fort: »Da vergeht einem alles Plänemachen. Es wäre geradezu schlecht von mir, wenn ich noch einen Nachmittag auskneifen wollte.«

»Dumm!« sagte Anna, was so viel heißen sollte, wie: »Ich sehe es ein, und es tut mir herzlich leid.«

Mike verstand diese Sprache auch ganz genau, sie nickte Anna dankbar zu und stichelte weiter.

»Warst du diese Woche bei unserer Ida?« fragte Anna endlich.

»Gestern früh mal, aber nur zwei Minuten; sie denkt gewiß, ich habe sie nicht mehr lieb, weißt du, aber dort bleiben und hübsch spielen oder so was, das geht nicht, es langt nur noch zum Was-hinbringen. Wilhelm hat mich gestern sehr mitleidig gefragt: ›Du gehst wohl auch auf Wasch, wie die Mutter?‹ Die Kinder tun mir zu leid, aber ich kann nicht mehr wie im vergangenen Winter.«

Mike hing den Kopf und Anna hing den Kopf; Mike stichelte mit großem Eifer an ihren Nähten, Anna leierte die Quaste um den neuen Sonnenschirm. Plötzlich hielt sie inne und rief: »Hurra! ich weiß etwas! Ich nehme die Kirsts-Kinder umsonst auf. Unsre Pfleglinge spielen nicht nur, sie bekommen auch zu essen. Ida und Wilhelm werden nett schnabulieren, und mir ist zugleich geholfen; denn wenn ich die Kinder dabei habe, mit denen ich schon so lustig spielen konnte, geht die Sache ganz von selber.«

Die Mädchen spannen noch vergnügt an diesem neuen Plan, als es an der Türe klopfte und auf das zweistimmige Herein Melanie im Zimmer erschien.

Sie stutzte bei Annas Anblick, Mike allein wäre ihr lieber gewesen, aber sie nahm sich zusammen und fragte eifrig: »Tanzstundenunterhaltung im Gang? – Nein, du mußt dich nicht stören lassen, Mike, nähe nur weiter, ich sitze dabei und bewundere dich.«

Mike ließ sich auch gar nicht stören. Denn, sagte sie, Kläre sei nun einmal ein Kleidergenie und das Haus werde nicht leer von Sommergeweben, Band- und Spitzenkram, Modenwelten und Bazaren.

»Hat Fräulein Kläre so viel zu tun?« rief Mela erschrocken. »Ach, mir muß sie das Kleid machen für die letzte Tanzstunde; so gut wie ihre Kleider sitzen keine andern, und die letzte Stunde wird großartig: beinahe wie ein Ball. Es werden auch noch andre dazu geladen, wie dein Onkel, zum Beispiel, Anna, und unsre Hilde und die wunderliche Iduna, die allen Ernstes betrübt über ihren Reichtum sein soll, und auf die ich eifersüchtig bin, weil sie alle Tage zu unsrer Hilde geht. Ja! – aber dies Festkleid kann mir nur Fräulein Kläre machen, kein Mensch in Amsel hat so guten Geschmack.«

»Sie wird schon Zeit finden,« tröstete Mike freundlich, »bis dahin ist's noch so lange.«

Mitten in diesen Trost hinein klopfte es abermals an die Tür, und diesmal war es Emmy, die ein dreifaches Willkommenlachen begrüßte.

Das wurde so laut, daß Mike erschrocken den Finger auf den Mund legte und nach der Nebentür deutete.

»Ist dein Papa unwohl heute?« fragte Anna erschrocken.

»Nicht sehr; er war ganz lustig vorhin, als ich von der Tanzstunde erzählte. Jetzt aber ist Onkel Doktor drin, und sie machen Reisepläne.«

Die Mädchen wisperten nun; sie hatten sich viel von ihren gestrigen Erlebnissen mitzuteilen, und Anna mußte auch von ihrem »großartigen Freitags-Daseinszweck« melden.

Melanie seufzte: »Siehst du, Anna, diese Kleinkinderschule und das ganze Unternehmen von Frau Schmieding, das wäre so etwas für mich, dafür würde ich mich nun gern anstrengen. Abgesehen von dem guten Zweck, der natürlich die Hauptsache wäre, ist's doch einzig hübsch, so mit dabei zu sein, wo die beste Gesellschaft von Amsel wirkt, und die Sitzungen und die Zusammenkünfte und das Ansehen, was daraus entspringt, ist einzig angenehm.«

Mike sah gespannt auf Anna, in der Erwartung, sie werde nun Melanie an ihrer Statt zur Helferin auffordern.

Aber Anna schwieg; ihre Lippen lagen fest auseinander, damit ihnen ja kein Wort entschlüpfe, und ihr sonst so freundlich offenes Gesicht hatte den Ausdruck nachdrücklicher Abwehr bekommen.

»Ich glaube, Anna ist ihr immer noch böse vom vorigen Jahr,« dachte Mike und war froh, daß Doktor Olfers aus dem Wohnzimmer trat und das Schweigen mit dem Neckwort unterbrach: »Da wird wohl ein Kränzchensenkerchen gepflanzt, oder ist das die Kritik der gestrigen Parade?«

»Parade, Herr Doktor? Wir haben doch nicht paradiert! und Kritik üben wir sanften Zünglein nie.«

»Na na! ich möchte bloß wissen, was ihr über meinen Hans Krakelbein für lose Reden geführt habt!«

»Lieber Onkel Doktor, wir haben bloß von ihm gesagt, er mache Schritte wie ein Flamingo, und das war eine Schmeichelei, denn der Flamingo ist ein stattliches, farbenprächtiges Tier; nicht nur Flug-, sondern auch Gehkünstler, also vielseitig, und er wird seiner Kostbarkeit wegen von Naturkennern und Liebhabern sowohl in ausgestopftem wie in futterbedürftigem Zustand gehegt und gepflegt.«

»Solch lose Plappermäulchen habt ihr? Wenn ich das dem Hans nun wiedererzähle?«

»Nein, das tust du nicht, Onkel Doktor,« sprach Mike zuversichtlich, »denn du weißt, daß wir es gar nicht böse gemeint haben, sondern nur so sind, wie wir sind. Die Tugendbündler nehmen uns gewiß auch ein bißchen mit.«

»Man soll gutes Zutrauen nicht täuschen; ich will ihm also lieber nichts sagen. Für die Zukunft nehmt euere Züngelchen aber ein wenig in acht. Man mag's gar nicht bös meinen, aber solche Kritiken können leicht zu unliebsamen Mißverständnissen führen.«

»Glaubst du wirklich, Emmy, daß dein kluger Hans den Flamingo übelnehmen könnte?« fragte Mike Hennings kopfschüttelnd, als Doktor Olfers gegangen war.

»Wenn es ihm jemand häßlich erzählt,« rief Melanie eifrig, und Emmy setzte nachdenklich hinzu: »Vielleicht nicht übelnehmen, aber es könnte ihm unbehaglich sein und seine Glieder noch ungeschickter machen.«

Drauf versprachen sie sich, daß kein Mensch etwas von dem Flamingo erfahren solle.

 


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