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Am andern Morgen, bevor die Litteraturstunde begann, war es besonders bewegt in der Selekta; nicht laut, aber es wurde getuschelt, geflüstert und geraunt, und bald hier, bald dort stand eine Gruppe beisammen. Das war Melanie Schönbachs Werk; sie hatte sich zunächst Anna Krause beiseite genommen, die teils durch ihre Geradheit, teils als Aelteste alle beeinflußte. Und dann hatte sie Emmy Olfers herangewinkt, die, ohne es zu ahnen, schon durch die Stellung ihres Vaters eine Art Uebergewicht hatte. Diesen beiden machte sie den Vorschlag, man wolle nach dem Schluß der Schulzeit zusammenhalten, und zu diesem Zwecke ein Kränzchen gründen. Ihre Eltern fänden das sehr passend, und sie selber denke sich die Zusammenkünfte entzückend.
Emmy fand den Gedanken sehr hübsch, sie winkte und lächelte Mike zu, die, beide Hände über den Ohren, sich für die Lieblingsstunde vorbereitete. Mike, versunken in ihre Iphigenie, sah das nicht, und Melanie hielt Emmy zurück. »Laß doch, erst wollen wir allein reden; Mike muß doch nicht dabei sein.«
Emmy lächelte nur: natürlich mußte Mike dabei sein. Anna lachte hell auf und sagte: »Ohne Mike ist gar kein Spaß,« und beide riefen laut, ohne Melanies Zustimmung abzuwarten: »Mike! Mike Hennings! Komm – mal – her!«
Mike sah auf. Dieser Ruf war durch die Wildnis Tauriens bis mitten in Iphigeniens heil'gen Hain gedrungen, sie kam und hörte, nahm die Sache mit Leidenschaft auf, fand den Einfall wundervoll, nannte den Plan großartig, warf vor Begeisterung ihren Federkasten auf die Erde, raffte schleunigst alles wieder auf, ergriff einen Bleistift, weil ihr sofort die Statuten einfielen: Statuten, die bei jeder Vereinigung die Hauptsache seien, gerade wie im Staat die Gesetze, und wurde erst still, als Anna meinte: »Nun, deine Mutter ist ja soweit auch nicht mißgünstig.«
Da Mike sich die Niedergeschlagenheit, die sie beim Gedanken an eine etwa verweigerte Erlaubnis ergriff, nicht merken lassen mochte, fuhr sie etwas unwirsch auf die große Anna los und sagte: »So sollst du nicht von meinem Mütterchen reden, das schickt sich nicht.«
Anna lachte, zupfte Mike ein wenig an dem losgegangenen »Aergerlöckchen« hinterm linken Ohr und begütigte sie: »Sei nur gut, weißt du, ich bin schon so alt, Mike, da redet man mitunter etwas gerade zu.«
Mike sah zwar nicht ein, was das Alter damit zu tun habe, da es doch Verstand und Besonnenheit geben sollte (weshalb ihr täglich zu Hause empfohlen wurde, älter zu werden), aber besänftigt war sie doch und Emmys Zublinzeln machte sie wieder mutig; ihr fiel ein, wie oft die gute Mutter den Plaudergang zu Olfers gestattete, da waren ja auch die Kränzchenaussichten gar nicht schlecht.
Anna dachte inzwischen schon längst nicht mehr an die verteidigte Mama Hennings, sondern schwang sich auf den nächsten Stuhl, klopfte mit dem schnell ergriffenen Lineal auf den Tisch und rief: »Silentium!«
Melanie zupfte sie ärgerlich am Rock und flüsterte: »Schweig doch! Laß uns erst allein reden, erst auswählen; doch nicht alle!«
Aber es half nichts. »Natürlich alle!« sagte Emmy mit ruhiger Bestimmtheit, und löste Melas Arm von Annas Rock; Anna merkte in ihrem Eifer gar nichts von dem Einwurf, klopfte noch einmal und rief noch lauter: »Silentium!«
Jetzt horchten auch die fünf noch Uneingeweihten auf. Einige lachten, wurden aber durch das »bst! bst!« der andern schnell zur Ruhe gebracht.
Anna, die für ihr Leben gern Verse machte, wo es irgend anging, und infolgedessen im Dichten eines holperigen Knüttelverses eine ganz leidliche Gewandtheit erlangt hatte, rief:
»Jetzt sperrt die Ohren huldreich auf
Und schweigt, sonst gibt es etwas drauf.
Zu Ostern ist die Schule aus,
Dann sitzen alle wir zu Haus;
's gibt dann zwar kein gelehrtes Schwitzen,
Doch auch kein froh Beisammensitzen,
Der Himmel weiß, wann wir uns sehn –
Vor Sehnsucht werden wir vergehn.«
Im Gedanken an die wenigen Straßen des Städtchens und der dadurch bedingten Notwendigkeit, sich recht oft zu treffen, lachten wieder einige, aber Anna war das lieb, denn die Verse gingen ihr gerade aus und während des Gelächters konnte sie sich besinnen.
Halt! – so würde es gehen. Klapp, klapp, stieß sie das Lineal wieder auf die Tafel und sprach weiter:
»Deshalb vernehmt, was ich ersann« –
»Oho!« klang es aus der Ecke, wo Melanie saß.
»Aus Melas Rat herausgewann,«
fügte Anna schnell entschuldigend hinzu.
»Wir alle, die wir hier vereint,
Es stets mit'nander gut gemeint,
Wir wollen uns nicht schnöd' verlassen,
Vergessen nicht und auch nicht hassen.«
»Nie,« versicherten Mike und Lili Roßbach wie aus einem Munde.
»Wir wollen stets zusammenhalten,
Freundschaftstalente kühn entfalten.«
Anna Krause räusperte sich, denn sie wußte nicht weiter; es hätte sich noch sehr vieles sagen lassen, was sie alles wollten, aber da sie nicht gleich wußte was, ging sie schnell aufs Ende los.
»Drum, denk' ich, gründen wir ein Kränzchen,
Ihr lieblichen Selektapflänzchen,
Und freuen uns allmontaglich
An unsrer Anmut inniglich.
Vielleicht – aufs Taschengeld kommt's an –
Begründet man 'ne Kasse dann,
Zahlt einen Fünfer jedesmal
Und bringt es zur Millionenzahl.
Dann reisen wir vom Kränzchengeld,
Juchheidi, in die weite Welt.«
Ein Begeisterungsruf unterbrach sie; in den Lärm hinein flüsterte Lili, das Köpfchen schief gelegt: »Anna, du bist ein Genie.«
Melanie Schönbach setzte sich schmollend auf ihren Platz; sie fühlte sich zurückgedrängt vom Platz der Schöpferin, geärgert durch die Veränderung, die ihre Idee durch die Allgemeinheit und Oeffentlichkeit erlitt; Anna aber fuhr nach dieser Pause mit frischem Versemut fort:
»Bei schlichtem Zwieback und Kaffee
Tut keinem wohl der Beutel weh,
Und sind wir dabei auch noch fleißig.
So mit der Hand, wie mit dein Mund,
Als wären wir schon lange dreißig,
Spricht Mama: ›Kränzchen sind gesund!
Gleich ist's um drei! mach schnell dich auf,
Nimm zu der Freundin deinen Lauf!‹ –
So werden alle denken,
Und keinen soll das kränken;
Wir sind ja keine Gänschen,
Nein, junge frische Pflänzchen –«
»Au!« sagte Melanie spöttisch.
»Heut' gründen wir das Kränzchen,
Dann machen wir ein Tänzchen«
»Bravo!« klang's aus dem Hintergrund.
»Und schnüren 's Reiseränzchen,
Drum: Vivat hoch das Kränzchen!«
»Hoch, hoch, hoch!« riefen alle, und Anna schwang das Lineal triumphierend über den Häuptern der Selekta – da ging die Tür auf – Direktor Frederichs trat ein, um die Litteraturstunde zu beginnen.
Anna, die kühne Stegreifdichterin, wurde dunkelrot, sprang blitzschnell vom Stuhl und tauchte auf ihren Sitz.
Ebenso gewandt fanden die andern ihre Plätze; nach Verlauf einer halben Minute herrschte tiefe Ruhe in der Selekta, nur die schnelleren Atemzüge und die wärmere Farbe der Wangen verriet noch, daß sich etwas Außerordentliches ereignet hatte.
Direktor Frederichs sah sich die erregten Mädchen einen Augenblick lang prüfend an, dann öffnete er sein Buch und sagte, ohne Anspielung auf den vorausgegangenen Lärm und das Durcheinander: »Was haben wir letztesmal gelesen, Emilie?«
Emmy Olfers, die auch im heißesten Sturm nur wenig von ihrer Ruhe einbüßte, konnte antworten, ohne daß ihre Stimme Erregung verriet. Sie nahm ihr Buch auf und las die Stelle der Goetheschen Iphigenie, die sie zuletzt besprochen hatten.
Bald war sie auch ganz bei der Sache. Mikes Gedanken dagegen schweiften vom Reiseränzchen zum Tänzchen, wanden Blumen- und Mädchenkränzchen, nicht einmal zu dem altgewohnten Vergleich Goethes mit dem Liebling Schiller konnten die losgelassenen Gedanken sich heimfinden. Buntfarbige Pläne spann sie aus dem leise rhythmischen Vortrag Emmys, Statuten, mit sehr ernsten Paragraphen von Liebe, Treue und Einigkeit, hübsche Arbeiten, die in den schönen Kränzchenstunden zu unternehmen waren, Spaziergänge, als Vorübungen zu gemeinsamer Reise – ihre Wangen glühten immer mehr und als der Direktor plötzlich sagte: »Weiter, Marie Hennings,« fuhr sie zusammen, als werde sie aus tiefem Schlafe erweckt und Grete Sonderstädt mußte ihr erst zeigen, wo sie waren, ehe sie dem Rufe Folge zu leisten vermochte. –
»Ich weiß nicht, was die Mädchen heute haben, Fräulein Werder,« sagte der Direktor in der Frühstückspause, »sie waren alle ungemein erregt.«
Fräulein Werder gesellte sich infolge dieser Bemerkung zu den Selektanerinnen, von denen später ein Teil in dem bescheidenen Schulgärtchen beisammen stand.
»Nein,« sagte Melanie eben ziemlich erregt, »nein, es geht nicht so, so nicht; es war sehr unrecht von dir, Anna, gleich damit herauszuplatzen, ehe du mich bis zu Ende gehört hattest. Wir mußten doch alles erst gründlich besprechen, denn davon kann doch nicht die Rede sein, daß wir alle zusammenpassen; wir hätten sehr sorgfältig auswählen müssen.«
»Was willst du denn so sorgfältig auswählen, Melanie?« fragte Fräulein Werder, und ließ sich, da die andern schwiegen, von der allzeit redebereiten Mike in den herrlichen Plan einweihen. Sie gab den Mädchen den Rat, die geplanten Zusammenkünfte zur Pflege recht hübscher Arbeiten zu benutzen, und Melanie ergriff die Gelegenheit, lebhaft zu versichern, daß doch alle unmöglich teilnehmen könnten, sondern eine Auswahl nötig sei.
Fräulein Werder verstand nun die eifrige Unterhaltung, die bei ihrem Erscheinen verstummt war, Melanie fand aber keine Unterstützung! das einzig Richtige sei, alle aufzufordern, Neigung und Erlaubnis der Eltern müsse dann entscheiden, ob auch alle Aufgeforderten Teilnehmer würden; wenn vielleicht auch eine oder die andre nicht jeder gefalle, so wären diese Bedenken doch durch Entgegenkommen, Liebe und Freundlichkeit zu überwinden.
Melanie zog hinter Fräulein Werders Rücken ein verdrießliches Gesicht.
Eugenie Plätten, ebenfalls etwas zu Unarten geneigt, schlug ein Schnippchen, Lili Roßbach aber, die niedliche, gefühlvolle Lili, rief eifrig: »Sie hat recht, Melanie, Liebe und Freundschaft, das ist die Hauptsache!«
Und Anna fügte schnell hinzu: »Es ist jedenfalls am besten, wenn du jetzt nicht mehr brummst und knurrst, sondern abwartest, was morgen jede für einen Bescheid mitbringt, denn weglassen können wir keine, das gibt einen Krach, ehe es nur anfängt, und Krach von Anfang an, das wär' doch recht dumm.«