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Mit Tagesanbruch durchzogen mehrere Patrouillen langsamen Schrittes die Stadt. Die dort noch lebenden Eingeborenen waren viel zu sehr daran gewöhnt, um etwas Außergewöhnliches darin zu vermuten. Die verschiedenen Posten wurden durch Patrouillen abgelöst oder kontrolliert, und außerdem schickte der Gouverneur oft kleine Gruppen über die Verschanzung. Sie sollten feststellen, ob sich feindliche Schwärme der Stadt näherten. Diese Überfälle richteten sich übrigens meistens nicht gegen die Feranis selbst, sondern gegen die Einheimischen, die sich freundlich zu den Franzosen verhielten. Wehe denen, die in ihre Hände fielen. Trotz der aufgestellten Posten wurde so manche Hütte niedergebrannt.
Eine der Patrouillen war noch vor Tagesbeginn an den oberen Teil der Stadt marschiert, hatte den kleinen Bach überquert und war auf dem ziemlich breiten Weg eine Weile fortmarschiert. Dann schlug sie sich in das Dickicht und machte Rast. In ihrer Mitte führten sie den Iren Jim O'Flannagan mit. Seine Arme waren auf den Rücken gebunden. Lefevre befehligte den Trupp, der aus dem Bootsmann, zwei Matrosen der »Jeanne d'Arc« und drei weiteren Leuten bestand. Adolphe sollte die zweite Patrouille hier erwarten und ihre Führung übernehmen.
Mürrisch ging Jim zwischen ihnen und schien mit seiner Rolle nicht ganz einverstanden zu sein. Sein Leben hatte man ihm zugesichert, wenn er die Rebellen lebendig in die Hände der Franzosen lieferte.
Erst nach Tagesanbruch folgte die zweite Patrouille der ersten. Es waren Marinesoldaten, von einem jungen Fähnrich angeführt. An einer verabredeten Stelle vereinigten sich die Gruppen und wurden jetzt so aufgeteilt, daß Adolphe den Iren mitnahm, um den umstellten Häuptlingen den Weg in die Berge abzuschneiden. Sechzehn Mann mit dem Fähnrich blieben bei Lefevre und sollten den Hauptangriff ausführen.
Adolphe wurde mit seiner kleinen Gruppe von Jim einen schmalen Pfad bergauf geführt. Der Weg war so steil geworden, daß der Bootsmann das Tau verlängern mußte, das er in der Hand hielt, um den Gefangenen beim Gehen nicht zu sehr aufzuhalten. Der Seemann trug es doppelt und fest um die Hand geschlungen, so, wie man einen Spürhund an langer Leine laufen läßt. Die anderen folgten in langer Linie nicht immer geräuschlos nach. Die Seeleute achteten mehr auf trockenes Gestrüpp und wichen ihm geschickt aus. Die Soldaten aber traten schwerer auf, und manchmal knackten dürre Äste unter ihrem Tritt. Das ließ ihren Führer immer mit einem warnenden Blick zurücksehen. Dabei überzeugte sich Jim jedesmal vom Verhalten der Begleiter.
Der Bootsmann zupfte jetzt an der Leine, um mit dem Iren zu sprechen.
»Der Offizier möchte wissen, wie weit wir noch etwa gehen müssen«, flüsterte er.
»Er soll seinen Leuten sagen, daß sie nicht so einen Lärm machen!«
»Wie weit ist es noch?«
»Weit genug, um den Platz nie zu erreichen, wenn wir jetzt gehört werden, und nahe genug, um vielleicht in zehn Minuten schon in Sicht- oder Rufweite des Feindes zu sein!«
Der Bootsmann nickte zufrieden, und Jim setzte seinen Weg wieder fort. Er war noch nicht zehn Schritte weit geklettert, als er dem Anführer winkte, im Laub noch vorsichtiger zu sein. Er ging jetzt nach links in das Dickicht hinein. Der Bootsmann wollte ihn erst hindern und ihn auf dem freien Pfad lassen, aber es war ihm, als ob er Stimmen gehört hatte. Weil der Ire ganz behutsam weiterging, ließ er ihn gewähren. Endlich erreichten sie eine Stelle im Wald, wo die Sonne voll durch die sonst undurchdringlichen Guiaven fiel. Der Seemann sah, daß sie sich einer steilen Bergwand genähert hatten, von der aus sie einen Überblick über das vor ihnen liegende Tal bekommen mußten. Jim winkte ihn und den Offizier heran und zeigte durch einen kleinen Busch in das Tal. Dort entdeckten sie an einer Stelle, an der sie niemand vermutet hatten, einen Trupp von etwa fünfundzwanzig bewaffneten Eingeborenen. Die Entfernung zu ihnen betrug vielleicht kaum zweihundert Schritte. Das laute Knacken eines dürren Astes hätte man dort schon fast hören können.
»Pest und Tod!« fluchte Adolphe. »Du verdammter Hund hast uns absichtlich falsch geführt. Ist das die Stelle, wo eine kleine Zahl Insulaner den Hohlweg versperren soll? Hier kann eine Armee links und rechts an uns vorbei, ohne daß wir sie bemerken!«
»Pst!« sagte der Ire, dessen Gesicht jetzt totenbleich war. »Pst, nicht so laut, die Burschen könnten uns hören!«
»Wo ist die Stelle, zu der du uns führen wolltest?«
Jim lachte leise vor sich hin, und es lag etwas Teuflisches in seinem Lachen. Adolphe griff unwillkürlich nach seinen Pistolen.
»Wenn ihr nicht schon lange gemerkt habt, daß ich meinen Weg verfehlt habe, ist das nicht meine Schuld!« sagte der Ire leise. »Laß deine Pistolen ruhig im Gürtel, Kamerad. Damit kannst du keinen erschrecken, der den Strick um den Hals trägt. Aber jetzt hör zu und entschließe dich schnell, denn meine Zeit ist genauso kostbar wie eure. Mein gutes Glück hat uns in Rufnähe zu einer Schar von Eingeborenen gebracht...«
»Dein gutes Glück, du Schuft?« knirschte der Bootsmann. »Wag es, einen Laut auszustoßen, und Gott soll mich strafen, wenn ich dir nicht beide Hackensehnen durchschneide, ehe die Schufte da in Schußnähe kommen!«
»Dazu ist dir dein Hals selbst zu lieb!« lachte der Gefangene. »Ich hätte nichts Besseres verdient, wenn ich eine so einmalige Chance ungenutzt verstreichen ließe. Noch bin ich in eurer Gewalt, und ihr könnt mich töten. Soll ich mich deswegen fürchten, wo ich die Wahl habe zwischen einem raschen Tod und dem Galgen? Aber Dienst gegen Dienst!« sagte er dann, als er bemerkte, daß der Bootsmann das Tau noch fester packte. »Wenn ihr hier entdeckt werdet, könnt ihr dem Trupp nicht entgehen. Ein einziger Schuß ruft neue Feinde von jeder Seite heran. Damit ist euch der Weg nach Papeete abgeschnitten, und ihr seid verloren.«
»Und wenn sie mir die Glieder stückweise vom Leibe reißen!« sagte der Bootsmann. »Erst sehe ich dich hängen, Bestie, und dann können sie mit mir machen, was sie wollen.«
»Noch habt ihr einen Ausweg. Laßt mich frei, und ich verspreche euch, daß ich hier still und regungslos liegenbleibe, bis ihr außerhalb der Gefahr bei den Wällen von Papeete seid.«
»Damit sie nachher mit den Fingern auf uns zeigen!« sagte Adolphe. »Tu, was du nicht lassen kannst, Schuft. Aber ich schwöre dir, ehe ich dich lebendig aus meinen Händen lasse, hänge ich dich selbst da in die nächste Guiave! Jetzt zurück von da oben, wir haben genug Zeit versäumt. Bist du ruhig, will ich dir versprechen, alles zu versuchen, um in Papeete deinen Hals freizubekommen. Aber kein Wort jetzt und marsch.«
»Das Anerbieten ist freundlich genug, aber ich weiß etwas Besseres...« Ehe der Bootsmann nur eine Ahnung hatte, warf sich der Gefangene durch einen Busch den steilen Abhang hinunter. Er hätte den Boden auch sicher erreicht, denn der völlig überraschte Seemann stand nicht sicher genug, um sich gegen ihn zu stemmen. Er wurde durch das Gewicht des Flüchtlings zu Boden gerissen. Das Tau aber hakte sich an einer vorragenden Guiavenwurzel fest, und der Ire hing im nächsten Augenblick an seinen Armen schwebend an der Klippe.
»Hilfe!« brüllte er jetzt gellend, und die Eingeborenen sprangen schnell auf.
»Verdammter Teufel!« schrie Adolphe und riß seine Pistole heraus. Der Bootsmann hielt noch immer das Tauende fest in seinen Händen. Als er die Absicht des Offiziers erkannte, rief er:
»Nein, Monsieur, halt, hier, Jean und Petit, faßt mit an, weiter vor, so, haltet fest... Donnerwetter, der Halunke hat mir bald den Arm mit der Wurzel herausgerissen. Jetzt herauf mit ihm, damit ich seinen Hals bekomme!«
»Da stürmen schon die Eingeborenen heran!« rief Adolphe.
»Es ist jetzt einerlei!« rief der Bootsmann. »Ob sie uns hier oder fünfzig Schritt weiter einholen. Hier können wir ihnen noch eine Salve geben. Ich gehe nicht eher vom Fleck, bis ich den Schuft gehängt habe.«
»Hilfe – Hilfe – Hilfe!« gellte der Schrei des Gefangenen. Er versuchte verzweifelt, dem Tau zu entgehen. Unbekümmert um die Eingeborenen zogen die Matrosen an dem Seil. Es war eine neue, fast fingerdicke Hanfleine und hätte zwei solche Burschen getragen.
»Stop jetzt!« rief der Bootsmann, als er den Kragen des Iren erreichen konnte. Kaltblütig machte er aus dem anderen Ende des Taus eine Schlinge. »Haltet einen Augenblick, und einer schnürt ihm die Hände etwas fester auf den Rücken. Hol der Teufel die Kugel, kümmere dich nicht darum, Jean, so...«
Noch einmal schrie der Gefangene in Todesangst, wilde Rufe tönten von rechts und links herüber, und die ersten Insulaner erkannten kaum die Gestalten von Europäern, als sie auch schon ihre Gewehre abfeuerten. Eine der Kugeln schlug an den Felsen, an dem der Gefangene hing, eine andere zischte am Kopf des Bootsmanns vorbei. Vollkommen ruhig legte der Seemann die fertige Schleife um den Kopf des laut schreienden Iren. Dann trennte er einen Teil des Taus durch und schlug das Ende mit einem Seemannsknoten am nächsten Guiavenbaum fest. Ohne sich um das Geschrei des Verbrechers weiter zu kümmern, ließen die Matrosen ihn wieder los. Ein gellender Aufschrei erklang, der durch den Todeskampf des Verbrechers beendet wurde. Die Matrosen nahmen ihre Gewehre auf, Adolphe kommandierte Feuer. Er hatte sich von der Exekution schaudernd abgewandt, aber er wollte sie auch nicht verhindern.
Einige der Eingeborenen hatten sich dicht herangewagt, aber die gut gezielten Kugeln trieben sie rasch zurück. Für die Franzosen wurde es höchste Zeit, sich ebenfalls zurückzuziehen. Sie brachten schnell den Kamm des Abhangs zwischen sich und die Feinde und verschwanden auf dem Pfad. Die Insulaner versuchten, ihnen zu folgen, aber auch der nächste Angriff wurde mutig zurückgeschlagen. In der Nähe der Stadt traf die Gruppe eine Kolonne Marinesoldaten, die ihnen als Hilfe nachgeschickt worden waren, nachdem Spione Schüsse gemeldet hatten. Eine andere Kompanie war der Gruppe Lefevres zur Hilfe geeilt, von der man ebenfalls Schüsse gehört hatte.
Lefevre kannte den Wald und die Schleichwege und hatte deshalb seinen Weg etwas unvorsichtig verfolgt. Er hielt sich auch den Eingeborenen überlegen, denn er hatte sie nie so kennengelernt, wie sie sich jetzt zeigten: gereizt und tapfer. Vielleicht vertraute er auch auf die Macht der Schußwaffen und kümmerte sich wenig um die Geräusche, die sie machten. Sie ließen so schnell wie möglich das Guiavendickicht hinter sich und kamen dann zwischen hochstämmige Mape- und Wibäume, Aitos, Tiairis und Brotfruchtbäume. Sie bildeten hier einen prächtigen Hochwald, nur hier und da standen kleine Dickichte aus Zitronen, Orangen oder Guiaven. Eine Viertelstunde mochten sie in dem schmalen Tal aufgestiegen sein und hatten dabei mehrfach einen Bergbach gekreuzt. Da kam der Seekadett, ein Bursche von vielleicht dreizehn Jahren, plötzlich nach vorn und meldete dem Führer etwas mit ängstlichem Gesicht. Er war hinter der Gruppe etwas zurückgeblieben und war fest überzeugt, die Gestalt eines Eingeborenen zwischen den Bäumen gesehen zu haben.
»Ein Gespenst haben Sie gesehen!« lachte Lefevre. »Sie sehen ja totenbleich aus, junger Herr. Die Gestalt hat Ihnen wohl Beine gemacht?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es ein Insulaner war. Ich konnte allerdings nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, sie sind ja ziemlich ähnlich gekleidet.« Der junge Mann war fast beleidigt. Er war nicht feige, und die Andeutung einer Flucht trieb ihm das Blut ins Gesicht.
»Und was tat er dort?«
»Das weiß ich nicht, aber als ich ihn zuerst sah, stand er aufrecht an einem Baum. Im nächsten Moment schien es mir, als ob er sich auf den Boden drückte. Ich stand etwa fünf Minuten vergeblich, um sein Aufrichten zu erwarten.«
»Er wird Lichtnüsse gesammelt haben, die liegen dort in Masse herum. Oder er hat sich schlafen gelegt. Sind Sie hingegangen, um nachzusehen?« sagte Lefevre lächelnd.
»Nein, Monsieur, ich wollte nicht ohne Ordre den Pfad verlassen und Ihnen erst einmal Meldung machen.«
»Es ist gut. Wir wollen hier einen Augenblick anhalten. Ich werde selbst zurückgehen und nachsehen, was es war. Wir sind gleich wieder da.« Damit gab er dem Kadett einen Wink und ging zu der zweihundert Schritt entfernten Stelle voraus. Dort fanden sie tatsächlich die Spur eines Mannes, ihn selbst aber nicht. Lefevre kehrte zu dem Trupp zurück und dachte nicht daran, sich durch einen solchen Zwischenfall aufhalten zu lassen. Die Entfernung zu der bezeichneten Schlucht war nicht mehr groß, und die drei Palmen konnten sie schon auf dem Felsenkamm sehen.
Sie erreichten nach kurzem Marsch das hübsch gelegene und an Vegetation reiche Tal. Hier ließ Lefevre halten, um sicherzugehen, daß die andere Patrouille die Rückseite erreicht hatte. Nach einer Viertelstunde brachen sie wieder auf und erreichten den Eingang des schmalen mittleren Tales, das ihnen Jim bezeichnet, hatte. Mittendrin stand, durch einen Felsvorsprung und ein kaum durchdringbares Orangendickicht geschützt, eine kleine Hütte. Man sagte, daß sie sich Utami als Wohnsitz ausgesucht hatte, um von hier alle Operationen lenken zu können.
Als sie den Bergstrom wieder überquerten, befahl Lefevre seinen Leuten, noch etwas weiter aufwärts zu rücken, um den Eingang zum Tal vollkommen zu beherrschen. Dort sollten sie abseits vom Pfad verborgen bleiben, bis er zurückkehrte. Sonst wäre ein Pistolenschuß das Zeichen zum Angriff.
Er schlich sich am Berge aufwärts, um oben das Orangendickicht zu erreichen und von dort den umzingelten Feind zu beobachten. Mit schußbereiter Pistole kletterte er den steilen Hang, der die Täler voneinander trennte, hinauf. Nichts ließ sich hören. Der Omaomao flötete hier im Blütenbusch so ruhig und ungestört, als ob noch nie der Fuß eines Fremden den Frieden gestört hätte. Die schnelle, raschelnde Eidechse im Laub und das Summen der Grillen waren die einzigen Laute, die sein Ohr trafen. So erreichte er den ersten Abhang, eine Art Terrasse. Dort schlängelte sich ein hartgetretener, mit Lavamasse gefüllter Pfad entlang, der die Verbindung des Haupttals mit dem Osten der Insel unterhielt.
Rasch folgte er ihm und war vielleicht noch dreihundert Schritte vom Orangenhain entfernt, als ihm ein kaum unterdrückter Schrei entfuhr. Dicht vor ihm, bislang von Felsen verdeckt, stand eine Frau, stand Aumama, seine Frau. Auch sie preßte erschrocken beide Hände auf ihr Herz, als sie den Mann erkannte, der ihr so viel Leid gebracht hatte.
»Aumama!« flüsterte Lefevre bestürzt. »Was zum Teufel treibst du hier, daß du im Wald Verstecken spielst? Wo kommst du her, und was tust du hier allein? Oder ist noch jemand bei dir?« setzte er rasch hinzu.
»Also du bist es!« sagte die Frau wehmütig, ohne auf seine Fragen einzugehen. »Du, der sich mit der Waffe in der Mörderfaust in unsere Berge schleicht, um neues Unheil über dieses Land zu bringen. Was haben wir dir getan, daß du uns ständig verfolgst? Ist es nicht genug, daß du ein Wesen bereits unglücklich gemacht hast?!«
»Unsinn, Aumama, was fehlt dir heute, daß du so etwas daherredest? Du wirst dich ohne mich wohl gut befinden, besser vielleicht, als du es je bei mir gehabt hast. Aber sprich nicht so laut, mein Herz, denn ich bin hier allein im Wald und möchte nicht einem Schwarm deiner Landsleute begegnen!«
»Was suchst du hier? Was willst du bei uns? Was treibt dich mit der Waffe in der Hand hierher, wo ich furchtlos als Frau allein gehe? Ist es das böse Gewissen, das dich aus den sicheren Wällen deiner Freunde treibt? Ha, dem entgehst du nicht, und die Kugel, die tückisch in deiner Waffe steckt, schützt dich nicht davor!«
»Ich habe mich verirrt, Aumama«, sagte Lefevre und entspannte die Waffe. »Ich bin vom Weg abgekommen.«
»Du dich verirrt? Verirrt an einer Stelle, wo wir hundertmal zusammen auf den Berg gestiegen sind und in das wunderbare Tal gesehen haben? Aber es ist möglich, daß du das Tal vergessen hast, wie alles andere auch.«
»Wohnt jetzt wirklich Utami in der alten Hütte oben, Aumama?«
»Was hast du mit dem alten Haus? Was kümmert es dich, ob es bewohnt ist oder leer? Geh zurück in die Stadt. Die Kinder und ich haben dir verziehen, Gott hat es so gewollt, aber jetzt laß uns unseren Frieden. Ich wollte mich früher an dir rächen, die Zeit ist vorbei.«
»Utami wohnt jetzt in dem Haus. Ist er allein? Ich möchte ihn sprechen, wenn es geht.«
»Weshalb willst du ihn sprechen?«
»Vielleicht bringe ich ihm Frieden.«
»Wer dir trauen könnte!« sagte die Frau und seufzte tief. »Willst du allein zu ihm gehen?«
»Ich habe nur einen Jungen mitgenommen, den ich zurückließ und dann erst holen will.«
»Nur einen Jungen? Weshalb hast du ihn zurückgelassen? Hattet ihr nicht beide auf dem Pfad Platz?«
»Ist Utami allein?«
»Nein, Fanue ist bei ihm.«
»Von Tairabu, und hat ihn niemand weiter begleitet?«
»Wen wolltest du noch?« erkundigte sich Aumama lauernd, und die Augen blitzten Haß und Eifersucht auf den Verräter.
»Ich meine nur, ob Nahuihua vielleicht mit herübergekommen ist, um dich zu besuchen?«
»Ja, sie ist da«, hauchte Aumama. Sie biß auf ihre Unterlippe und sah Lefevre fest an.
»Sie ist da?« rief er rasch und voreilig mit freudestrahlendem Blick. Unwillkürlich machte er eine Bewegung vorwärts, besann sich aber und setzte hinzu: »Egal, ich darf meinen Begleiter nicht im Stich lassen und werde ihn holen. Leb wohl, Aumama, doch, vielleicht sehe ich dich nachher noch und... Mädchen, wenn du etwas brauchen solltest... laß es mich wissen in Papeete. Wenn es in meinen Kräften steht, sollst du es haben.«
Aumama erwiderte nichts und sah ihn lange schweigend an. Als er ihr freundlich zunickte und den Pfad zurückgehen wollte, sagte sie leise:
»Bleib hier, Lefevre. Geh nicht wieder hinunter ins Tal. Willst du wirklich Utami sprechen, so komm mit mir allein. Ich gebe dir mein Wort, du sollst sicher seine Hütte betreten und sicher wieder Papeete erreichen. Komm, und ich will dich wie früher führen.«
»Ich danke dir, Aumama, aber ich kann deinen Vorschlag jetzt nicht annehmen. Es freut mich aber, daß du jetzt ruhig und vernünftig geworden bist. Du weißt doch, daß wir auf den Inseln viele Beispiele dafür haben, daß ein Mann seine erste Frau verlassen hat und die jüngere Schwester geheiratet hat. Wenn du nicht mehr dagegen sprichst, wird sie sich auch nicht länger sträuben.«
»Wer?« fragte Aumama so leise, daß Lefevre das Wort mehr erraten mußte.
»Nahuihua natürlich. Wirst du ihr zureden?« lachte er und streichelte ihre Wange. Sie fuhr bei der Berührung zurück und sagte nur leise: »Ja.«
»Es wird nicht dein Schade sein, Aumama, nun keine Angst vor mir, du fürchtest dich doch sonst auch nicht vor mir. Aber ich muß fort und meinen Kameraden holen. Sag ihr aber nicht, daß du mich gesehen hast, ich will sie überraschen.«
Mit raschen Sätzen lief er den Pfad zurück und jubelte innerlich über seinen Doppelsieg, dem er entgegenging. Er wollte die Hüttenbewohner nicht durch einen Schuß alarmieren, sondern seine kleine Schar heraufholen, um damit Widerstand gleich unmöglich zu machen. Es war besser, wenn das alles ohne Blutvergießen abgehen konnte.
Aumama blieb nachdenklich zurück. Sie hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen und weinte bitterlich. Doch dann richtete sie sich auf und blickte zornig um sich. Er war fort, um seine Leute zu holen, die die Boten schon lange gemeldet hatten. Schnell lief sie zur Hütte, von der aus bewaffnete Krieger links und rechts am Hand entlangliefen. Sie verteilten sich überall im Tal.
Jetzt krachten Zweige, als die Franzosen leichtfüßig und rasch den Berghang hinaufliefen. Aumama stand wieder an der gleichen Stelle.
»Uupa – uupa!« klang es leise von allen Seiten.
»Ha, die Turteltauben rufen, das ist ein gutes Zeichen!« lachte Lefevre und riß den Degen aus der Scheide, »Dort steht auch Aumama, ich bringe Besuch, mein Schatz!«
»Er ist willkommen!« entgegnete seine Frau mit eisiger Kälte. Da gellte ein Schrei durch die Schlucht. Das ganze Tal schien in den Ton einzustimmen, und mit tödlichem Krachen prasselte eine unregelmäßige Gewehrsalve.
»Verrat!« schrie Lefevre und sprang mit der Waffe auf Aumama zu. Eine wilde Gestalt flog ihm in den Weg, sein Degen zersplitterte an einem Büchsenlauf, der den Hieb parierte. Im nächsten Augenblick traf ihn das schwere Eisen an der Stirn, und mit dumpfem Todesschrei brach er zusammen. Die Männer flohen den Berg hinab, warfen ihre Waffen weg, und die jubelnden Wilden umringten sie von allen Seiten. Die wenigen Soldaten stoben auseinander wie aufgescheuchte Hühner und versuchten, die steilen Wände zu erklimmen. Aber umsonst, Speere oder Kugeln trafen sie, ehe sie den dichten Busch erreichten. Wild tätowierte Gestalten tauchten dicht vor ihnen auf und warfen sich mit gellendem Schrei auf sie. Nur einer floh nicht. Er stand mit dem Säbel in der schwachen Faust und einer gespannten Pistole mit dem Rücken an einen Felsen. Es war der Kadett, der mit blitzenden Augen sich verteidigte. Drei der Insulaner sprangen gegen ihn, aber sein trotziges »Zurück!« ließ sie stutzen.
»Schont ihn, er ist nur ein Kind!« rief Aumama ihnen zu.
»Aber ein ausgewachsenes!« rief einer der Wilden. »Ergib dich!« Er erhob den Kolben zum Schlag, als der Schuß krachte. Wie vom Blitz getroffen brach der Mann zusammen. Aber es waren zu viele Feinde, und auch wenn die scharfe Waffe tiefe Wunden hieb, so gingen ihm doch bald die Kräfte aus. Als Aumama vorsprang, um den Jungen mit ihrem eigenen Körper zu decken, traf ein Speer die Brust des Unglücklichen. So kehrte keiner von der Gruppe zurück, ein wilder Siegesschrei gellte durch die Berge. Die Schar sammelte sich im Tal, und der Ruf »Nach Papeete!« wurde laut. Sie zogen durch das Tal, und von allen Seiten kamen weitere Krieger zu ihnen. Allein bei den vielen Toten blieb Aumama. Scheu ging sie zu der Stelle, wo der tote Lefevre lag. Mit seinem Tod war auch ihr Haß verschwunden, und bitter klagend saß sie neben ihm. Schließlich grub sie ihm ein Grab, legte ihn hinein und breitete Blumen und Blüten über ihn aus.
Vom Strand her donnerten die Feuerschlünde der Feranis, und der Schall brach sich dröhnend sein Echo aus den steilen Schluchten, aber sie hörte es nicht. Aumama saß am offenen Grab in Schmerz versunken. Sie dachte an die schöne Zeit zurück, die sie mit ihm verlebt hatte, und was er getan hatte. Sein Tod hatte alles gesühnt, sie sah in ihm nur noch den Mann und Vater ihrer Kinder. Mit leiser Stimme sang sie die Totenklage ihres Stammes:
»Die Sonne blitzt auf dich herab, und du bist tot. Sie scheint dir in das offne Grab und du bist tot. Die Vögel singen rings im Laub – du hörst sie nicht – dein Ohr ist taub – Joranna, Lieb, Joranna!« |