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Der Abend verging den Liebenden wie ein Augenblick. Sie hatten sich so viel zu sagen, so viel zu besprechen, daß sie den Flug der Stunden nicht bemerkten. Der gute alte Mann stand lächelnd dabei. Auch in ihm stiegen in der Erinnerung liebe, alte, vergangene Bilder auf und führten seine Gedanken zurück zur Jugendzeit. Aber auch die Gegenwart erforderte seine Umsicht, und manchmal dachte er an den in ziemlicher Aufregung fortgegangenen Kollegen und die Schritte, die dieser unternehmen wollte, um das junge Glück zu zerstören. Er hielt es auch für seine Pflicht, dies dem jungen Mann mitzuteilen und ihn wenigstens darauf vorzubereiten, daß er noch immer mit Schwierigkeiten rechnen mußte. Hätte er dem Glücklichen eine greifbare Gefahr genannt, so wäre er ihr mit leichtem Herzen entgegengetreten. Viel leichter tat er dagegen den Zorn des anderen Geistlichen ab. Den König glaubte er sicher auf seiner Seite, noch dazu, da die geistlichen Herren selten oder nie Geschenke verteilten und nur den Willen Gottes als Gebot aufstellen.
Um seinem feindlichen Wirken aber zu begegnen, wurde noch am selben Abend ein junger Mann mit einer Privatbotschaft an den König geschickt. Man teilte ihm mit, daß der alte Mr. Osborne, den alle auf der Insel wie ihren Vater liebten, seine Pflegetochter dem jungen Fremden als Frau versprochen habe und daß dieser künftig auf der Insel wohnen möchte. Dazu erbäte man die Erlaubnis des Königs.
Am nächsten Tag kehrte Bruder Rowe in sehr mürrischer Stimmung zurück. Sie wurde durch die Nachrichten hier kaum verbessert. Der König hatte Ausflüchte gemacht und nicht entschieden gegen den Fremden auftreten wollen. Wo Bruder Rowe bislang geglaubt hatte zu herrschen, fand er plötzlich, selbst bei Bruder Osborne, Widerstand.
»Ich habe dem Mädchen die Erziehung eines weißen Kindes gegeben und vielleicht damit Unrecht getan, wie ich erst jetzt einsehe. Ich habe sie unfähig gemacht sich in den normalen Verhältnissen ihrer Landsleute glücklich zu fühlen. Sie können ihrem Herz und ihrem Geist nicht mehr genügen. Bei der Verbindung mit jedem Weißen ist sie aber der Gefahr ausgesetzt, der sie jetzt entgegengeht. Wir können nur vermuten und hoffen, daß es gut geht. Aber ich kann ihr deshalb nicht jetzt das Herz brechen, nur weil die Möglichkeit besteht, daß es ihr später einmal von ihrem Mann gebrochen wird«, erklärte Mr. Osborne.
»Aber fürchten Sie nicht die Sünde, Bruder Osborne?« rief der Missionar, nachdem alle anderen Beweisgründe fehlgeschlagen waren. »Wollen Sie es vor der Gesellschaft in England verantworten, daß Ihr im rechten Glauben erzogenes Kind von Ihnen selbst in die, Hände eines Anhängers des Papstes gegeben wurde? Ich bin gezwungen, so leid es mir auch tut, diesen Fall nach London zu berichten. Die Folgen sind nicht abzusehen und können verderblich auf unsere ganze Gemeinde wirken. Wie stehen Sie denn da vor jenen ehrwürdigen Männern? Sie selbst, der auserwählt wurde, den Samen unserer Religion in die Herzen der Unwissenden zu pflanzen? Sie säen jetzt Unkraut zwischen den Weizen mit eigenen Händen und handeln gegen den Willen der Missionsgesellschaft!«
Der alte Mann blieb aber selbst gegen diese Beschuldigung fest, wenn ihn auch diese Anspielung tief traf und kränkte.
»Ich habe mehr als zwanzig Jahre mein Leben der Sache geweiht, die ich für eine gute hielt und halte. Ich habe mir in der ganzen Zeit keinen Vorwurf wegen meiner Handlungsweise zu machen. Wir sind alle Sünder und ich bin nicht reiner als der Geringste von uns. Aber ich kann das Auge frei zu Gott emporheben und sagen: ›Herr, richte über mich!‹ Ich bin mir nichts Bösem bewußt. Auch in diesem Fall, Bruder Rowe, handle ich nach bestem Wissen und Willen, ich glaube nicht anders handeln zu können, und was ich da tue, werde ich auch verantworten. Ihre Berichte werde ich Ihnen freilich selbst überlassen müssen.«
Mr. Rowe ging mit raschen, ungeduldigen Schritten im Zimmer auf und ab. Am wenigstens wollte dem fanatischen Priester in den Kopf, daß der Fremde mehr sei als ein gewöhnlicher, weggelaufener Matrose. Bruder Osborne war seiner Meinung nach zu lange allein in der Weltabgeschiedenheit und hatte sich von den Reden des leichtsinnigen Mannes überzeugen lassen. Er wollte deshalb selber einmal mit ihm reden und dann herausfinden, um was für einen Charakter es sich wirklich handelte. Es war seine letzte Hoffnung. Mr. Osborne unterstützte sein Vorhaben, weil er sicher war, daß der Geistliche dadurch ein besseres Bild von dem Fremden gewinnen mußte. Er ließ René jetzt zu sich bitten.
Mr. Rowe hatte den Lehnstuhl des alten Mannes eingenommen. Er saß mit untergeschlagenen Beinen, den Kopf auf den linken Arm gestützt, ernst und schweigend wie zu Gericht, als der Fremde fröhlich das Zimmer betrat. Schon dessen schnelles, unkonventionelles Eintreten rief die finsteren Falten auf seiner Stirn zusammen. Die beiden Ellbogen auf die Lehnen des Stuhles gestützt, die Finger der beiden Hände vorn gefaltet, sah er ihn mit etwas vorgebeugtem Oberkörper unter den dunklen, buschigen Brauen finster an. Den Gruß des Franzosen hatte er mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken erwidert. Einen Platz bot er ihm nicht an.
»Mit welchem Schiff sind Sie hier gelandet, Sir?«
René sah erst ihn, dann Sadies Vater erstaunt an, als wolle er fragen: Was soll das? Mr. Osborne, der die Situation überspielen wollte, bot ihm Platz an und bemerkte dann mit einem entschuldigenden Blick auf seinen Kollegen:
»Mein würdiger Freund hier, lieber René, möchte sich kurze Zeit mit Ihnen unterhalten. Er ist, wie ich, schon lange Jahre auf den Inseln und eine unserer Hauptstützen des Christentums selbst in den schlechtesten Zeiten gewesen.«
René verbeugte sich noch einmal, wie anerkennend. Der Geistliche verzog keine Miene. Er richtete seinen Blick fest und forschend auf René, der jetzt die Frage beantwortete:
»Mit dem ›Delaware‹, einem amerikanischen Walfänger.«
»Weshalb verließen Sie Ihr Schiff? Hatten Sie nicht einen festen Vertrag für die ganze Reise gemacht?« lautete die nächste, schärfere Frage.
»Verehrter Herr«, erwiderte jetzt René vollkommen ruhig und freundlich, »wollen Sie die Freundlichkeit haben und mir vorher sagen, ob diese Fragen im Verlauf der Unterhaltung an mich gestellt werden, oder ob es gewissermaßen ein Examen ist, zu dem ich berufen wurde?«
Bruder Rowe wollte wohl gerade keine sehr freundliche Antwort geben, als Mr. Osborne, der jedes böse Wort zwischen den beiden vermeiden wollte, einfiel und zu René sagte:
»Bruder Rowe nimmt innigen Anteil an Prudentias Schicksal, da das Mädchen zwischen uns groß geworden ist. Besonders deshalb fühlt er näheres Interesse für Ihr früheres Leben.«
»Ich habe Ihnen, lieber Herr Osborne, jeden Aufschluß bereits gegeben und will dies auch gern gegenüber diesem Herrn tun, wenn ihn das über Sadies künftiges Glück beruhigt.«
»Sadie?« unterbrach ihn der Missionar streng. »Soviel ich weiß, heißt das Mädchen Prudentia. Ich wünschte, sie würde ihrem Namen etwas mehr Ehre machen. Ich will doch nicht hoffen, daß man sogar in dem Haus eines Dieners der Kirche beabsichtigt, die alten heidnischen Namen wieder aufleben zu lassen!«
»Es ist nicht des Heidentums, sondern nur des Wohlklangs wegen, lieber Herr!« sagte lächelnd René. »Prudentia mag hübsch für eine würdige, alte Matrone klingen, aber zu einem fröhlichen Mädchen paßt der Name gerade so, als wenn Sie ihn der Gazelle der Wüste geben würden.«
»Sind das die Ansichten, die man hier mit in diese fromme, christliche Gemeinde bringt?« rief der Geistliche aus, der nur noch mit Mühe seinen Zorn über den leichten, fröhlichen Ton des jungen Franzosen bezwang. »Soll das der Same werden, der als Baum des Unglaubens seine Zweige ausbreiten und mit seinem Schatten die Frucht vergiften wird?«
René sah ihn staunend an. Der kleine Mitonare kauerte aber mit vor Schreck und Entsetzen offenem Mund in der Ecke auf seinem kleinen Stühlchen. Er schien zu erwarten, daß der schwarze Mann mit dem finsteren Gesicht sich jetzt aus dem Himmel einen Blitz holen würde, um damit den kecken Wi-wi zu Pulver zu brennen.
»Ehrwürdiger Herr«, sagte René, aber vollkommen ruhig, denn er wollte den Mann nicht böser machen, zumal er sah wie unangenehm das für seinen alten Freund sein mußte. »Ich hoffe nicht, daß Sie etwas Sündhaftes in einem wohlklingenden Namen finden.«
Bruder Rowe schien darauf aber nicht eingehen zu wollen und fuhr fort:
»Sie gedenken sich hier auf dieser Insel niederzulassen?«
»Mit der Einwilligung des Häuptlings und meines väterlichen Freundes hier, ja!«
»Aber Sie gehören der katholischen Religion an.«
»Ich bin ein Christ, was verlangen Sie mehr?« sagte René ernst.
»Und Ihre Kinder? Sollen das auch Christen werden?« frug der Geistliche mit einem fast höhnischen Ton. René streckte den Arm nach seinem alten Freund aus, ergriff dessen Hand und sagte herzlich:
»Die soll dieser würdige Mann hier in der Lehre erziehen, die er für die richtige hält. Ich weiß, er wird gute Menschen aus ihnen machen, der Glaube ist mir gleich.«
»Der Glaube ist Ihnen gleich?« rief jetzt der Fanatiker, froh, endlich einen Anhaltspunkt gefunden zu haben. »Wissen Sie, daß Sie mit solchen Grundsätzen hier nur Unheil und Elend säen werden? Einen Christen nennen Sie sich, und dem Antichrist dienen Sie, Ihrer Pflicht, Ihren Verbindlichkeiten im gesellschaftlichen Leben sind Sie entlaufen, und jetzt wollen Sie sich einem Volke aufdrängen, das Sie nur zwischen sich duldet, weil es seinem Geistlichen glaubt gefällig zu sein, tatsächlich aber ihm nur einen schlimmen Dienst damit leistet?«
René war schon nach den ersten heftigen Worten des Mannes von seinem Stuhl aufgesprungen.
»Mein Herr!« unterbrach er ihn jetzt fest, aber ruhig. »Ihr Stand wie der Ort, an dem wir uns befinden, schützt Sie vor jeder Antwort vor dieser Unverschämtheit. Guten Abend!«
Mit einem stolzen Gruß gegen den Priester, mit einem freundlichen Kopfnicken gegen den Greis verließ er rasch das Zimmer.
Der »ehrwürdige« Mr. Rowe hatte sich in einen höchst unehrwürdigen Zorn hineingearbeitet, und er war ebenfalls aufgesprungen. Mit schnellen Schritten, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf den Boden gerichtet, ging er im Zimmer auf und ab. Der alte Mr. Osborne war über sein rücksichtsloses und ungeschicktes Betragen ebenso erstaunt wie empört. Es hatte ihn nur bestärkt, dem Mann, der sich mehr Autorität anmaßte, als ihm zustand, seine Grenzen zu zeigen. Bruder Rowe mußte aber wohl fühlen, daß er zu weit gegangen war und daß mit zornigen Worten an der Sache nichts mehr zu ändern war. Er erklärte seinem Kollegen, daß er diesmal hier nicht predigen werde, sondern morgen früh zurück nach Tahiti wolle. Mr. Osborne dachte nicht daran, ihn zurückzuhalten.
Am nächsten Morgen bereitete er sich zum Aufbruch vor, ohne viel mit den anderen zu reden. René bat Mr. Osborne, die Trauung auf den nächsten Tag, den Sonntag, festzusetzen. Keiner hielt es für nötig, Bruder Rowe davon in Kenntnis zu setzen. Man erwartete mit Sehnsucht den Augenblick, wo der kleine Kutter wieder seinen Anker lichten würde.
Es mochte etwa zehn Uhr geworden sein, als plötzlich ein Junge über die Hügel gelaufen kam. Er brachte die Nachricht, daß sich ein großes Schiff von Südosten der Insel näherte. René war an diesem Tag viel zu sehr mit seinem Glück beschäftigt gewesen, um auch nur einen Blick auf den Horizont zu werfen. Jetzt aber, als er sofort zu Sadies Lieblingsplätzchen eilte, genügte ein Blick. Es handelte sich um ein tiefgehendes, voll beladenes Schiff ohne Oberbramstengen, also um einen Walfänger. Er lag dicht vor dem Wind und kreuzte gegen die gerade erst gestern aufgekommene Westbrise an. Mehr ließ sich jetzt nicht erkennen, aber es war auch ausreichend genug, um René zu beunruhigen. Er hörte nicht, wie sich ein leiser Schritt ihm näherte. Erst als Sadie ihre Hand auf seine Schulter legte und seinen Namen flüsterte, sah er rasch auf. Dann legte er seinen Arm um sie und zog sie fest an sich.
Sadie war aber selbst zu sehr von Furcht erfüllt, um gleich reden zu können. Sie sah nur das bleiche Gesicht Renés und glaubte schon, ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich.
»Ist es dein Schiff?« frug sie endlich mit kaum hörbarer Stimme und wagte nicht, ihn dabei anzusehen.
»Das kann ich noch nicht genau bestimmen. Ich kann das Holz des Schiffes noch nicht richtig erkennen, hier schwimmen zu viele Walfänger aller Nationen herum. Allerdings dachte ich, daß sie um diese Jahreszeit alle viel weiter südlicher wären«, setzte er dann leise hinzu.
Keiner sprach jetzt mehr. Ihre Blicke hingen an den hellen Segeln des Fahrzeuges, das rasch näher und näher kam. Jetzt gab es für René keinen Zweifel mehr, daß die Insel sein nächstes Ziel war. Nur zu bald erhielt er auch völlige Gewißheit, daß es der »Delaware« war. Ein Teerfleck, den er selbst ungeschickt auf das Segel gebracht hatte, als es zum Trocknen an Deck lag, war der letzte Beweis. Gerade in dem Augenblick, wo er sich glücklich und sicher geglaubt hatte, mußte dieses Fahrzeug wieder in seine Bahn geraten und alles wieder mit einem Schlag zu vernichten drohen.
Als er damals von Bord geflohen war und sich von seinen Feinden bedrängt sah, war er der Gefahr mit ruhigem Herzen. entgegengetreten. Er hatte nichts weiter zu verlieren gehabt als sein Leben, und das achtete er damals nicht besonders. Jetzt aber war er nicht mehr allein. Sollte alles sinnlos gewesen sein?
Sadie erkannte an seinem Gesicht die Wahrheit. Aber in diesem Moment wuchs wieder ihr alter Mut, mit dem sie ihn schon damals seinen Feinden entzogen hatte. Sie griff nach seiner Hand und sagte rasch:
»Sie sollen dich nicht wieder fortnehmen, René, fürchte sie nicht. Ich kenne alle Schlupfwinkel der Wälder und weiß genug Stellen, wo die weißen Fremden wochenlang suchen und doch aufgeben müßten, ehe sie je hindurchdringen könnten. Wir beide flüchten in den Wald, bis das Schiff die Insel wieder verlassen hat, und wenn es sein muß, bringt uns mein Kanu auf eine andere Insel, viele Meilen von hier entfernt. Lieber gehe ich mit dir auf dem offenen Meer unter, als daß ich hier allein weiterlebe.«
»Sieh nur, wie hoch die Wellen vor dem Riff gehen. Eine Flucht im Kanu ist ganz ausgeschlossen. Wir könnten auch nicht vor Einbruch der Nacht entfliehen. Bis dahin wird die hohe Fangprämie genug Verräter verführt haben. Nein, ich kann meinem Schicksal nicht mehr entgehen, und der einzige Trost ist, daß sie mich nicht lebendig bekommen werden. O Sadie, ich glaubte so glücklich zu sein und muß dich jetzt allein hier zurücklassen!«
»Nein, René, glaube doch nicht, daß die Bewohner dieser Insel falsch und treulos sind! Damals, als sie dich noch nicht kannten, war es eine andere Sache. Von fremden Seeleuten haben sie bis jetzt fast nur Ärger gehabt. Es hätte vielleicht kaum einer besonderen Prämie bedurft, um dich wieder auszuliefern. Jetzt aber gehörst du zu uns. Die Männer wissen, daß mein Pflegevater dich gern hat, und sie lieben ihn wie ihren eigenen Vater. Es gibt auch schlechte unter ihnen, aber sie können es doch nicht wagen, dich zu verraten. Selbst wenn sie es heimlich täten, würden sie später für immer ausgestoßen sein. Komm zurück zum Haus. Sieh nur, das Schiff umsegelt die Insel und wird in der gleichen Bucht wieder ankern. Wir wollen jetzt mit dem Vater besprechen, was wir tun werden.«
René preßte die Geliebte fester an sich und hielt sie mit einem langen Kuß fest, aber sie wand sich endlich aus seinen Armen und wollte ihn gerade zum Pfad ziehen, als der alte Missionar mit einem schweren Korbe ihnen entgegenkam.
»Ich habe mir gedacht, daß ihr hier seid. Jetzt müssen wir handeln und nicht lamentieren, Zeit dürfen wir nicht mehr verlieren. Ich habe einige Erfahrung mit Walfängern, denen auf den Inseln Matrosen entlaufen waren. Die Kapitäne sparen nicht mit der Belohnung, denn die Leute müssen das ja später wieder von ihrem Geld abarbeiten. Sie haben aber auch nicht viel Zeit, sich aufzuhalten, denn um diese Jahreszeit müssen sie auch noch zu den Sandwichinseln, um Erfrischungen aufzunehmen, und dann den Sommerzug in das Eismeer vorbereiten. Es ist also wichtig, Sie erst einmal zu verstecken, damit Sie später niemand verraten kann. Ich habe bereits einen passenden Platz.«
»Ich führe ihn in die Berge«, sagte Sadie. »Oben in den niedrigen Hügeln stehen einzelne Palmenhaine. In der breiten Krone einer Palme kann er sich tagelang verstecken. Ich kenne eine, die mein Bruder und ich uns besonders eingerichtet und ausgeschlagen haben. Da mein Bruder tot ist, kennt außer mir niemand diesen Platz.«
»Zu jeder anderen Jahreszeit wäre das ein gutes Versteck. Aber jetzt, wo es in jeder Nacht viel regnet, wäre das wohl ein schlimmer Aufenthaltsort. Nein, du kennst doch das Ihiamoea, Prudentia. Dieses alte, letzte Überbleibsel aus der Heidenzeit. Es ist ein kleines Gebäude, das früher dem Gott Oro geweiht war. Man hätte es mit allen anderen alten Heiligtümern vernichtet, wenn nicht in der Familie des Häuptlings die Sage existieren würde, daß der König sterben müsse, wenn dieses Haus zusammenfällt. Sämtliche Einwände der Missionare waren deshalb erfolglos. Einer unserer Brüder hätte beinahe einmal sein Leben eingebüßt, als er in vielleicht etwas übertriebenem Diensteifer selbst Hand anlegen wollte. Nur zwei Personen auf der ganzen Insel besuchen es jährlich einmal, der Fua oder König, Jeremias Aitaua, der Rächer, und dessen Sohn. Allerdings nur, um ein neues Dach anzubringen oder das alte auszubessern. Das ist ihre Entschuldigung, aber ich fürchte, daß sie dort noch, trotz des angenommenen Christentums, heimlich ihre heidnischen Zeremonien feiern. Da sie es aber allein tun, können wir nichts dagegen machen. Deshalb wird die kleine Steinhütte die Regenzeit gut überstehen. Keiner der anderen Eingeborenen traut sich, den Platz zu betreten, deshalb ist er für René geeignet. Dieser Korb mit Proviant wird ausreichen. Falls nicht, findet sich bald eine Gelegenheit, ihm etwas zu bringen. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich das Schiff keine vierundzwanzig Stunden hier aufhält.«
»Gut, ich will jetzt nur schnell meine Waffen holen«, sagte René.
»Sie sind in diesem Korb. Es ist auch besser, wenn Sie sich nicht mehr beim Haus sehen lassen. Neugierige Augen folgen Ihnen doch überall. Wenn ich auch nicht glaube, daß einer der hiesigen Leute zum Verräter werden würde, so ist es doch besser, diese Möglichkeit gleich auszuklammern. Gehen Sie gleich von hier los, Prudentia kennt die Richtung. Sie muß aber auch selbst schnell zurückkommen.«
René bedankte sich gerührt, aber Mr. Osborne wies ihn ab. Er wollte sich selbst nicht anmerken lassen, wie ängstlich ihm eigentlich auch war. »Keinen Abschied, René, das Ihiamoea liegt nicht am anderen Ende der Welt, daß wir...«
»Muß ich Sie hier aufsuchen, um mich zu verabschieden, Bruder Osborne?« erklang in diesem Augenblick dicht hinter ihnen die Stimme des Bruders Rowe. »Sie scheinen ganz vergessen zu haben, daß ich im Begriff bin, aufzubrechen!«
Die drei Menschen schauten sich an, als ob sie bei einem Verbrechen ertappt worden waren. Das kalte, teilnahmslose Gesicht des Priesters war nicht geeignet, den unangenehmen Überraschungseffekt zu mildern. Mr. Rowe schien das aber nicht zu bemerken. Er gab Sadie die Hand und legte die Linke wie segnend auf ihre Stirn. Dann neigte er kurz seinen Kopf gegen René und ging, den Arm Mr. Osbornes nehmend, zur Landestelle hinunter.
»Komm jetzt, René, und gebe Gott, daß ich dir bald die frohe Botschaft deiner Erlösung bringen kann!«
Sekunden später schloß sich der dichte Wald hinter ihnen. Der Missionskutter war zur Abfahrt gerüstet. Bruder Rowe traf noch einige Anordnungen und verließ dann mit einem frommen »Der Herr segne und behüte Euch« die Insel.
Mr. Osborne hatte ihm gegenüber nicht erwähnt, daß es sich um das gleiche Schiff handelte, von dem René geflohen war. Er hielt es für besser, die Sache mit keiner Silbe weiter zu erwähnen. Auch Bruder Rowe kam nicht wieder auf die Verheiratung der beiden jungen Leute zurück. Er hatte wohl eingesehen, daß eine Einsprache vergeblich war.
Der Kutter sollte nach Mitiaro gehen, aber der ehrwürdige Mann hatte die Mannschaft angewiesen, zunächst in dem Binnenwasser der Insel am Ufer hinauf zu fahren. Er wollte noch einmal den König besuchen und Rücksprache mit ihm über eine Versammlung halten.