Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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29. Alte Abrechnungen

Noch am selben Abend liefen die Schiffe wieder in den Hafen ein. Man kehrte zwar als Sieger zurück, aber die Tapferkeit der Eingeborenen gab keinen Anlaß für übertriebene Siegesfreude. Der Verlust vieler Soldaten und Offiziere warf einen düsteren Schatten auf die Rückkehr und den anschließenden Marsch durch die Stadt.

Selbst die Stadt schien gefährdet zu sein. Ausgesandte Spione meldeten, daß sich in der Nähe kleine Gruppen bewaffneter Insulaner sammelten.

René hatte noch am Abend Adolphe aufgesucht, um Einzelheiten von ihm zu erfahren. Er war jetzt auf Papeete angewiesen, denn die Eingeborenen hatten sein Haus niedergebrannt.

Seine Papiere trug er bei sich, und die wichtigsten Sachen hatte Sadie mitgenommen. Der Verlust der anderen Dinge schmerzte ihn nicht besonders. Er sah auch daraus, wie ihm die Eingeborenen gesonnen waren, und sein baldiger Abschied von Tahiti schmerzte ihn desto weniger. Die Nacht verbrachte er in dem Bambusschuppen, in dem auch Adolphe einquartiert war. Als er hörte, daß der Gouverneur schon früher zurückgekehrt war, als erwartet, wollte er gleich die Erlaubnis zur Abreise einholen.

Unter den jetzigen Umständen hatte der Gouverneur seine Reise zu den Nachbarinseln aufgegeben. Bertrand, der gestern leicht verwundet wurde, meldete ihn selbst an und befürwortete gleich sein Gesuch. Der Gouverneur empfing René sehr freundlich, und seiner Bitte stand nichts mehr im Weg.

»Dann kann ich also Tahiti verlassen, wann ich will, und bin von dem unwürdigen Verdacht freigesprochen?«

»Lieber Delavigne, ich habe Sie keinen Augenblick im Verdacht gehabt«, lachte der Gouverneur. »Ich würde die Sache auch nicht so ausdehnen, wenn wir nicht eine anonyme Anklage gegen Sie erhalten hätten, die wir nicht ignorieren konnten.«

»Eine Anklage gegen mich?« erkundigte sich René erstaunt.

Monsieur Bruat nickte achselzuckend.

»Von einem Landsmann?«

»Wohl kaum. Der Brief war englisch, die Handschrift aber verstellt und wohl auch absichtlich mit orthographischen Fehlern versetzt. Doch egal, die Sache ist vorbei und jeder Form genügt. Außerdem haben wir auch seit einigen Tagen ziemlich begründete Ursache, einen Engländer der Tat zu verdächtigen. Er wird schon wegen einem anderen Verbrechen angeklagt und ist gestern bei den Aufständischen gesehen worden. Vielleicht hat auch er den Brief geschrieben.«

»Das glaube ich nicht. Den Dienst hat mir vielleicht ein guter Freund geleistet. Wissen Sie den Namen des verdächtigen Engländers?«

»Jim O'Flannagan.«

»Ah, den Burschen kenne ich. Es ist ein Ire.«

»So? Möglich. Von Tahiti kann er nicht fort, und ich hoffe bald seine nähere Bekanntschaft zu machen. Aber wie wollen Sie jetzt nach Atiu kommen? Haben Sie eine Gelegenheit?«

»Im Augenblick nicht, doch die wird sich schon finden. Missionskutter kreuzen ja immer dann und wann einmal herüber.«

»Die Missionare entwickeln überhaupt eine besondere Tätigkeit in dieser Zeit und sollten sich doch Mr. Pritchards Beispiel zu Herzen nehmen«, sagte finster der Gouverneur.

»Ich glaube, daß ein freundliches Wort hie und da zwischen den Eingeborenen und der jetzigen Regierung manches Unglück vermeiden könnte«, sagte René nachdenkend. »Den Insulanern sind eine Menge falscher Begriffe beigebracht worden. Sie sind mit unseren Sitten und Gebräuchen nicht so vertraut, und so erscheint ihnen manches schroffer, als es vielleicht gemeint war. Die aufgezogene Flagge vor dem Haus der Königin hatte meiner Meinung nach keineswegs die Bedeutung, die ihr der Admiral gab. Es muß zu Mißverständnissen führen, wenn wir den Maßstab unserer Handlungsweise bei den Eingeborenen anlegen. Ich hin fest überzeugt, daß Pomare in der Krone nichts weiter als ein glänzendes Spielzeug gesehen hat.«

»Pomare vielleicht, aber nicht, die sie ihr gaben!« sagte der Gouverneur. »Gegenüber der Insulanerin hätte es vielleicht kaum einer solchen Demonstration bedurft, das gebe ich zu. Aber die Missionare wissen ganz gut, um was es sich handelte, und deren Auslegung wäre allein nach England und Frankreich berichtet worden.«

»Und die arme Pomare verlor darüber ihr Reich.«

Der Gouverneur zuckte mit den. Achseln.

»Ich stimme Ihnen allerdings zu, daß ein Wort der Verständigung zu seiner Zeit weit mehr wirken würde als die aufgepflanzten Bajonette unserer Soldaten. Mir liegt auch daran, weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Wir sind hier auch nicht stark genug, um viele Siege wie den gestrigen gewinnen zu können. Vier der besten Offiziere und sehr viele gute Soldaten sind gefallen. Deswegen bedaure ich es besonders, daß Sie uns jetzt verlassen wollen. Sie könnten sicherlich in Ihrer Stellung zu den Eingeborenen manches tun, um den Konflikt zu vermeiden.«

»Wie sollte ich das können?«

»Sie wissen, daß sich die Insulaner jetzt an anderen Orten wieder festgesetzt haben und dabei sind, sich zu verschanzen. Die steilen Schluchten des Landes bieten ihnen für die Verteidigung viele Vorteile, die unter Einsatz von vielen Menschenleben genommen werden können. Jetzt ist vielleicht noch eine Aussöhnung möglich, Pomare mag zurückkehren und unter dem französischen Protektorat den Eingeborenen gegenüber regieren. Wir ersparen damit beiden Parteien viel gutes Blut.«

»Glauben Sie, Herr Gouverneur, daß ich bei einem derartigen Versuch etwas erreichen könnte? Darf ich den Insulanern wirklich die Zusage Ihrer friedlichen Gesinnung bringen und ihnen sagen, daß Pomare zurückkehren kann?«

»Das alles auf Ehrenwort, und noch mehr. Es soll alles vergessen und vergeben sein zwischen beiden Teilen, was bislang geschehen ist. Mit Ausnahme von dem Burschen, der noch eine alte Rechnung hat. Es liegt mir ja nicht daran, die Insulaner zu unterwerfen und sie zur Anerkennung unserer Macht zu zwingen. Wir wollen friedlich und freundlich zwischen ihnen leben und nicht ständig der Gefahr neuer Angriffe ausgesetzt sein. Es gibt ja auch keine Ehre bei einem solchen Sieg. Die ganze zivilisierte Welt wird uns vorwerfen, daß wir ein paar nackte, mit Holzspeeren bewaffnete Eingeborene mit unseren Kanonen zusammengeschossen hätten. Daß die Burschen mehr Gewehre und Munition haben, als gedacht, ist eine andere Sache.«

»Gebe Gott, daß ich dann einen günstigen Erfolg bringe«, sagte René rasch. »Ich will mich gern dem Auftrag unterziehen. Wie ich die Eingeborenen kenne, werden sie gern zu ihren Hütten zurückkehren, um dort in Frieden zu leben. Sie sind von Natur aus friedlich und gutmütig. Wären sie nicht so gereizt, hätten sie gar nicht zu den Waffen gegriffen.«

»Die Waffen waren einmal da und mußten gebraucht werden«, sagte der Gouverneur. »Es ist auch möglich, daß das Einführen der Waffen eine kaufmännische Spekulation war. Mir sollte es lieb sein, das zu glauben. Aber ich fürchte fast, daß da auch eine andere Hand im Spiel war. Deswegen glaube ich auch nicht, daß ein freundliches Wort etwas bringen wird. Aber ich will wenigstens einen Versuch machen, um mir später keine Vorwürfe zu machen. Ich weiß auch, daß ich im Sinne meiner Regierung handle, die einen ausgedehnten Kampf vermeiden will. Wenn Sie also einen Vertrag aushandeln können, haben Sie meine volle Unterstützung und meine ganze Dankbarkeit.«

»Wann möchten Sie, daß ich aufbreche?«

»Sobald Sie wollen, am besten gleich morgen früh. Jeder neue Tag gibt dem Feind neue Hilfskräfte in den Bergen und macht ihn nur starrköpfiger. Wollen Sie allein gehen, oder soll ich Ihnen eine Flagge und Begleitung mitgeben?«

»Ich glaube, ich gehe lieber ohne alles. Die französische Flagge ist in diesem Augenblick nicht beliebt genug.«

»Wie Sie meinen. Aber... wer kommt da unten? Kennen Sie den Burschen, Delavigne?«

René war rasch ans Fenster getreten.

»Das ist einer unserer originellsten Leute in Papeete. Aber es ist trotzdem das erstemal, daß ich ihn in der Stadt sehe. Er ist Schuster und wohnt draußen in den Guiaven in einer Bambushütte mit einer alten irischen oder englischen Hexe, die sie Mütterchen Tot nennen. Gerüchten nach sollen die beiden Alkohol an die Insulaner ausschenken!«

»Das hat man bis jetzt geduldet?«

»Noch konnte man ihnen nichts beweisen, denn die Alte ist schlau und läßt sich nicht erwischen«, sagte René und lachte. »Die Sache muß aber einen anderen Zusammenhang haben, denn selbst die Missionare dulden sie da. Aber der Schuster kommt tatsächlich hier ins Haus. Soviel ich weiß, haßt er uns Franzosen wie die Sünde und soll fast den ganzen Tag in der Bibel lesen.«

»Sie empfehlen mir den Mann ja richtig!« lachte der Gouverneur. »Er scheint aber eher eine Karikatur als ein Original zu sein. Vielleicht will er sich bei den französischen Behörden über seine englische Frau beklagen.«

Eine Ordonnanz trat in das Zimmer und meldete ein verdächtig aussehendes Individuum.

»Herr Gouverneur, Sie erlauben, daß ich gehe!«

»Nein, das erlaube ich nicht. Ich brauche Sie vielleicht noch!«

Die Ordonnanz führte Murphy herein, der von den beiden Männern gemustert wurde. Er stand da wie eine Fledermaus am Tage. Als die beiden Männer erst grinsten und dann zu lachen anfingen, nahm sein Gesicht einen drohenden Ausdruck an. Murphy sah auch wieder besonders nett aus. Er trug wieder den erbsgelben Rock bis an den Hals zugeknöpft und hatte die Schöße hinten um die nackten Waden gewickelt. Die Beine steckten in sehr defekten Hosen. Seinem Handwerk zum Trotz hatte er nur einen Schuh an, der andere Fuß war in ein Stück Tapa geschlagen. Sah man dazu das zusammengezogene, halb boshafte, halb komische, narbige Gesicht, den brennend roten Bart und die struppigen Haare, so war die Fröhlichkeit der Männer schon zu entschuldigen. Murphy war aber nicht in der Stimmung, um viel Spaß mit sich machen zu lassen, und fluchte halblaut. Damit wollte er sich wieder umdrehen und den Raum verlassen, als ihn René auf Englisch anrief.

Bei der englischen Anrede stutzte der Ire und sah die beiden mit seinen stechenden Augen forschend an. Dann sagte er im breitesten irischen Dialekt:

»Sind Sie der Mister Gouverneur?«

»Nicht ich, sondern dieser Herr.«

»Kann der nicht selbst sprechen?«

»Ich werde dolmetschen, Murphy. Weshalb sind Sie gekommen?«

»Was, Sie kennen meinen Namen? Aber egal, Ihr Franzosen spioniert ja doch überall rum. Aber egal, ihr habt eine Belohnung für das Einfangen eines Mannes ausgesetzt. Wollt ihr die zahlen?«

»Ha – wer ist das?« rief der Gouverneur, der den ungefähren Sinn der letzten Worte verstanden hatte.

»Sieh an, dabei tut er, als hätte er keine Ohren«, sagte Murphy mit einem breiten Grinsen. »Was sagt er jetzt?«

René wechselte ein paar Worte mit dem Gouverneur und wandte sich wieder an den Iren.

»Wer ist es, von dem du sprichst? Wenn es der richtige ist, kannst du dir einen schönen Geldbetrag verdienen. Wie heißt er?«

»Jim O'Flannagan... damn his eyes... und Jack irgendwas.«

»Alle beide?«

»Sitzen in der Falle.«

»Und wo ist das?«

Wieder verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem breiten, pfiffigen Grinsen.

»Soll ich das Nest nennen, bevor ich das Silber habe?«

»Das Nest wird Mütterchen Tots Hotel sein«, sagte René gleichgültig, während der Mann einen überraschten Blick auf ihn warf. »Aber keine Sorge, wenn du die beiden Burschen dem Gouverneur in die Hände lieferst, wird dir dein Lohn nicht entgehen. Aber, wie ist es eigentlich«, sagte er zu dem Gouverneur, »nur der eine hat doch Verbrechen begangen?«

»Der andere ist ein entsprungener Matrose.«

»Hm, und es liegt Ihnen nur an dem einen?«

»Nein, nein, alle beide! Sind beide in dem Haus? Fragen Sie doch bitte noch einmal nach.«

»Haben Sie beide im Haus? Auf den einen sind fünfhundert, auf den anderen zwei ausgesetzt!«

»Alle beide«, bestätigte Murphy. »Aber Sie müssen sich beeilen, wenn Sie die Vögel noch erwischen wollen. Die Sonne geht bald unter, und jetzt ist die richtige Zeit, sonst garantiere ich für nichts. Sie wollen bald weg.«

»Und wohin?«

»Weiß ich das? Sie haben nur ihre Bündel und die Waffen mit. Ein Kanu findet sich leicht am Strand.«

Der Gouverneur verstand genug Englisch, um den Sinn mitzubekommen. »Dann haben wir keine Zeit mehr zu verlieren, und Sie können den Spaß mit ansehen, Delavigne.«

Er klingelte und gab der Ordonnanz den Auftrag, Leutnant Bertrand zu holen. Kaum zehn Minuten später kehrte er mit dem Offizier zurück. Murphy trat während der Wartezeit nervös von einem Fuß auf den anderen.

 

Die Bambushütte von Mütterchen Tot war durch die bewachte Stadt völlig vom Verkehr mit Europäern abgeschnitten. Murphy konnte deshalb fast den ganzen Tag in seiner Bibel lesen, und Mütterchen Tot saß in schlechter Stimmung in einer Ecke.

Am Nachmittag wurde die Stille erstmalig durch die Schritte von drei Männern unterbrochen. Es waren zwei Weiße und ein Insulaner, drei alte Bekannte: Jim O'Flannagan, Jack und Raiteo, der Dolmetscher von Atiu, der mit dem ehrwürdigen Mr. Rowe herübergekommen war. Er wurde in die Hütte geschickt, um zu sehen, ob keine Gefahr zu befürchten war.

Kaum waren die Männer eingetreten, als Mütterchen Tot hochsprang und Murphy aus seiner Ecke scheuchte. Sie erkannte zunächst den Iren nicht durch dessen Verwundung. Der Mann ging zu ihrem Bett und warf sich darauf nieder. Aber Murphy hatte keine Lust, die Männer zu bedienen, und der daraus entstehende Wortwechsel konnte nur durch ein Machtwort des Iren gestoppt werden. Mütterchen Tot hatte dem Schuster die Bibel entrissen und mußte sie dann bedienen. Murphy verschwand aus der Hütte, ehe sie es verhindern konnte. Mehrere Rufe nach ihm verhallten vergeblich im Wald.

»Donnerwetter, Mütterchen, was du noch für eine helle Stimme hast!« sagte Jim. »Aber laß das Schreien mal sein und beantworte mir eine Frage.«

»Was gibt es? Den Brandy habt ihr auch noch nicht bezahlt!«

»So? Na ja, das machen wir dann zusammen ab.« Um Jims Lippen zuckte ein spöttisches Lächeln. »Ich habe eine Bitte, Mütterchen Tot. Du mußt mir auf ein paar Monate zweihundert Dollar leihen.«

»Zweihundert Dollar? Muß ich?« rief die Alte mehr wütend als erschrocken über die Forderung. »Ist das vielleicht eine Bitte? Mußt zweihundert Dollar borgen, als ob ich die Dollars nur so unter den Matten herumliegen hätte! He, Murphy – Murphy! Den Kerl werde ich an den Beinen aufhängen, wenn er wieder zurückkommt, diese nichtsnutzige Kanaille! Murphy!«

»Mütterchen, du mußt sie mir aber borgen!« sagte der Ire mit unterdrückter Stimme und trat näher an sie heran. »Alles Geld, das ich bei mir hatte, ging bei unserem letzten Kampf verloren. An der Stelle, wo ich früher einmal etwas vergraben hatte, haben die Franzosen ein kleines Fort errichtet. Ich muß später hierher zurück, um das zu heben, und dein Geld ist dir sicher.«

»Ich habe aber kein Geld zum Verborgen!« schrie die Alte vielleicht absichtlich mit lauter Stimme. »Was du für mich gearbeitet hast, habe ich bezahlt, höher bezahlt, als ich eigentlich verantworten konnte!«

»Wenn du nicht aufhörst zu schreien, so sag ich dir, wo du dein Geld hast, verstanden?« Die Augen des Iren blitzten sie mit tödlichem Zorn an.

»Sagst du mir, wo ich mein Geld habe?« rief die Alte totenbleich. »Was willst du von mir, Mensch? Von einer alten, schwachen Frau, die kaum ihr Leben fristen kann bei diesen Zeiten?«

»Ihr trödelt da herum, bis uns die Alte die ganze Nachbarschaft zusammengeschrieen hat!« knurrte Jack und sah aus der Tür raus. »Es wird dunkel, Jim, und wir müssen machen, daß wir wegkommen!«

»Was habt ihr – – was wollt ihr von mir?« rief aber jetzt die Alte, die die Absicht der beiden langsam begriff. »Ich habe nicht einen Franc im Haus, so wahr ich selig werden möchte... Murphy, Murphy!«

»Schreist du jetzt noch einmal nach dem Schuft, so tue ich etwas, was ich vielleicht später bereue!« zischte ihr Jim ins Ohr. »Jetzt ist es genug mit dem Firlefanz, ich muß zweihundert Dollar haben, und wenn du die rasch und willig herausgibst, so schwöre ich dir, daß wir dir nichts tun. Sobald ich das Geld wieder erschwingen kann, sollst du es wiederhaben.«

»Ich habe kein Geld... nicht einen Penny!«

»Ersticke an deinen Lügen, soll ich die Kalebasse unter der Lampe da ausgraben und dir die vier oder fünf anderen Stellen zeigen, wo du noch Geld eingegraben hast?«

»Die Kalebasse unter der Lampe?« schrie die Alte laut auf. »Hilfe, Mörder!«

Die eiserne Faust des Iren lag an ihrer Kehle und erstickte jeden weiteren Laut.

»Hier, Jack, nimm mir mal die Alte ab, aber halte sie ruhig, während ich das Geld hole!«

»Na, das hätten wir schon vor einer Viertelstunde haben können!« fluchte der Matrose. Er verband den Mund der Frau mit einem Tuch. »So, Madame, nur für ein kleines Weilchen. Wenn der Herr Gemahl zurückkommt, kannst du ihm dann die Geschichte auseinandersetzen. Wird sich unmenschlich freuen, wenn er es hört. Hast du es, Jim?«

»Noch nicht«, sagte sein Kamerad, der die Lampe zur Seite geworfen hatte und die lockere Erde darunter mit dem Messer aufstach. »Das Ding steckt tiefer, als ich dachte.«

»Weißt du auch genau, daß der Platz richtig ist?«

Der Ire lachte und grub weiter. Die Frau verdoppelte jetzt ihre Anstrengungen, um wieder freizukommen, und Jack hatte Mühe, sie zu halten.

»Hol der Teufel die Alte, sie wird es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie zu Schaden kommt.«

»Da ist er, ich habe ihn schon mit dem Messer gefühlt. So, jetzt wird unsere Reisekasse stimmen!«

»Mach schnell, Jim, ich kann die Alte nicht länger halten!« rief Jack. »Oder ich drücke ihr die Kehle richtig zu, was auch kein großer Verlust wäre.«

»Nein, laß sie. Mütterchen Tot und ich sind alte Bekannte, und ich möchte nicht die Ursache ihres Todes sein. Kannst du ihr nicht Arme und Füße binden?«

»Ich habe alle Hände voll zu tun, um ihr den Mund zuzuhalten!« knurrte Jack.

»Hier ist der Beutel!« rief Jim. Das Klirren des Geldes brachte wohl die Eigentümerin zu neuen, rasenden Anstrengungen.

»Komm wenigstens her und hilf mir, sie zu binden, allein schaffe ich es nicht!«

»Kann nicht einmal ein altes Weib bändigen!« lachte der Ire und ging zu den beiden. Wie fast jeder Matrose hatte Jack die Taschen voll dünner Seile und kurzer Tauenden. Bald lag die Alte gebunden und geknebelt auf ihrer Matratze und dem im Kampf heruntergerissenen Moskitonetz.

Dann verschwanden die beiden im nahen Gebüsch. Kaum hatten sie die Hütte zehn Schritte hinter sich, als das gellende Angstgeschrei der Alten an ihr Ohr schlug.

»Der alte Drachen wird den ganzen Wald rebellisch machen«, rief Jim. »Kannst du noch nicht einmal einen Knebel eindrehen?«

»Laß sie schreien, in zehn Minuten sind wir auf dem Wasser, und in der Dunkelheit finden sie unsere Spur nicht.«

»Nein, wir können nicht gerade in See halten und müssen erst noch eine lange Strecke an den Riffen entlang. Wenn dann Alarm gegeben wird, kommen uns doch noch die Boote in den Weg. Spring zurück und drück ihr den Knebel wieder ein, aber mach rasch, ich bringe das Geld in Sicherheit, und du kennst mein Zeichen.«

»Warte lieber hier, ich könnte mich verirren«, rief Jack zurück und lief zur Hütte. Jim wartete, bis sein Kamerad hinter den Guiaven verschwunden war. Dann sprang er in schnellen Sätzen zum Strand, um Raiteo zu treffen. Der stand jedoch nicht an der vereinbarten Stelle, sondern war Zeuge der letzten Szene geworden. Er war gegen die beiden Männer mißtrauisch. Gleichzeitig war ihm das alte Gerücht wieder eingefallen, daß Mütterchen Tot steinreich sei und ihre ganze Hütte mit Silberstücken gepflastert habe. Vor der Habgier der Eingeborenen schützte sie sich durch ihr Einverständnis mit bösen Geistern. Und Murphy las ja deshalb auch zu seinem Schutz ständig in der Bibel. Aber mit den Weißen war das etwas anderes. Als Raiteo sich vorsichtig hinter die Bambusstäbe gedrückt hatte, fand er seinen Verdacht auch bestätigt. Als Jack zum Haus zurücklief und Jim allein mit dem Geld zum Strand floh, folgte er ihm.

Einen Augenblick hielt selbst Jim in seinem Lauf ein, als ein gellender, wilder Angstschrei von der Hütte an sein Ohr drang. Dann war alles ruhig. Er murmelte einen Fluch in den Bart und setzte seinen Weg fort. Eben erreichte er den Rand des kleinen Flusses und damit eine schmale, offene Lichtung, als er es rings um sich in den Büschen rascheln hörte. Bestürzt blieb er im Dickicht stehen und rief leise Raiteos Namen. Doch auch auf das verabredete Signal kam keine Reaktion. Raiteo war zwar dicht hinter ihm, aber auch er hatte ein fremdes Geräusch gehört. Aber alles blieb totenstill, bis plötzlich ein wilder, wirrer Lärm von der Hütte her kam. Gleich darauf fiel ein Schuß.

Jim lachte in sich hinein und lief zum Strand, wo das Kanu bereitlag. Er hatte es noch nicht berührt, als es in den Büschen wieder raschelte und zwei dunkle Gestalten hervorsprangen.

»Hell and damnation!« schrie der Verbrecher auf. Er warf das Geld in einen Busch und griff sein Gewehr auf. Da warf sich schon einer der Männer auf ihn, und er erkannte sein Gesicht.

»Haben wir dich!« rief der Bootsmann der »Jeanne d'Arc« und sprang mit einem Messer gegen den Iren.

»Noch nicht!« rief der Ire. Die abgefeuerte Kugel riß dem Feind die linke Backe in dem Moment auf, wo das Messer das Bajonett zur Seite schlug. Da war auch der andere Matrose heran und warf sich auf den Iren, umfaßte ihn mit seinen sehnigen Armen und riß ihn zu Boden. Jim O'Flannagan lag wenige Minuten später gebunden vor seinen Feinden.

»So, das ist abgemacht«, sagte der Bootsmann und versuchte, seine blutende Wunde zu stillen. »Wie der Kerl mich zugerichtet hat! Aber den anderen werden sie wohl auch erwischt haben. Der kleine rothaarige Schuft hatte doch recht, daß er uns hier zum Wasser schickte. Als ich das Kanu sah, wußte ich, daß wir ihn abfangen würden. Was ist das?«

»Insulaner, bei Gott!« sagte der andere Matrose. Er hatte kurz dem neu beginnenden Lärm und Schreien gelauscht, dem gleich darauf das Knattern von Gewehren folgte. Jim horchte auch auf. Noch war Hilfe möglich. Wenn ihn die Insulaner hier entdeckten, hätten sie ihn jedenfalls befreit. Er stieß jetzt mit lauter, gellender Stimme den oft gehörten Schlachtschrei aus.

»Gut gemacht!« lachte der Bootsmann. »Recht brav für dein Alter, schade nur, daß du deine Lunge so ganz umsonst anstrengst!« Damit setzte er seine Pfeife an die Lippen. Ein kurzer, scharfer Pfiff erklang. Gleich darauf antworteten die regelmäßigen Ruderschläge eines heranschäumenden Bootes.

»Hier den Kerl ins Boot und vier mit ihm zurück, so rasch ihr könnt, nach Papeete! Die anderen mit den Waffen zu mir!«

Der Befehl wurde sofort ausgeführt, obwohl sich der Verbrecher heftig sträubte. Als der größte Teil der Mannschaft an Land gesprungen war, glitt das scharf gebaute Fahrzeug geräuschlos wieder in die Flut und verschwand gleich darauf unter dem Schatten der überhängenden Uferbäume. Die Matrosen folgten still ihrem Bootsmann zum Schauplatz des Kampfes, der jetzt noch heißer zu entbrennen schien. Als der Platz von allen verlassen war, kroch die dunkle Gestalt des Insulaners aus seinem Versteck.

Raiteo schlich zu der Stelle, wo der Ire überrascht worden war. Ein höchst vergnügtes Lächeln stahl sich über seine Züge, als er den Beutel Geld aus dem Busch zog. Gleich darauf war Raiteo im Dickicht wieder verschwunden.

 

Jack hatte inzwischen seinen Auftrag rasch und vollständig ausgeführt. Als er die Hütte wieder verließ, sah er totenbleich aus, und sein stierer Blick sah wild und mißtrauisch umher.

»Jim!« rief er und sprang rasch den Pfad hinunter. »Jim, wo, zum Teufel, steckst du? Ich kenne den Weg nicht... dieser Baum stand doch nicht hier?« In seiner Angst lief er die wenigen Schritte zum Haus zurück, um zu sehen, ob dort noch ein anderer Weg abzweigte.

»Hier ist er... haltet ihn... steh, Schurke!« rief es in dem Moment von allen Seiten. Jack fuhr mit einem Angstschrei zusammen, griff sein Gewehr auf und legte an. Aber der Finger berührte den Drücker zu früh, und der Schuß ging in die Luft, während sich die Soldaten auf ihn warfen, ihn entwaffneten und seine Hände banden.

Bertrand trat zu ihm und begrüßte ihn.

»So, haben wir dich fest. Wo ist dein Kamerad?«

»Verschont mich, ich will alles gestehen!« rief der Mann verzweifelt.

»Untersucht das Haus, ob nicht der andere noch drin ist. Der größte Halunke fehlt noch immer!« rief der Leutnant, ohne auf das Gewimmer zu achten.

In diesem Augenblick fielen vier oder fünf Schüsse aus dem Dickicht, und wilde Zurufe wurden laut.

»Die Insulaner!« rief René und griff das Gewehr des Gefangenen auf. »Donnerwetter, Bertrand, wenn wir einen Trupp der Burschen hier erwischen, sieht es schlecht für uns aus.«

»Bleib du bei dem Gefangenen, René!« rief ihm der Freund zu. Wir haben das Haus oben umzingelt und dürfen den Iren nicht aufgeben. Zwei Mann sollen noch bei dir bleiben. Wir werfen die Insulaner zurück und ziehen uns dann von hier den Weg hinunter zurück!«

Er rief seine Leute zusammen und rückte rasch zur Unterstützung der Leute bei der Hütte ab.

René war von seiner Rolle nicht begeistert. Er bewachte einen entlaufenen Matrosen und mußte natürlich an seine eigenen Erlebnisse denken.

»Was hast du verbrochen, Bursche?« erkundigte er sich deshalb.

»Nichts weiter, als daß ich schiffsmüde war! Mein armer Rücken wird jetzt für die Beine bezahlen müssen!«

René hatte sich die Patronentasche umgehängt und lud das Gewehr. Er hatte dem Gebundenen den Rücken zugedreht und hörte, wie die Leute heimlich mit ihm flüsterten.

»Wenn sie klug sind, werden sie wissen, was sie zu tun haben!« dachte er.

Da näherten sich laute Schritte. Der Bootsmann kam mit seinen Leuten. Gerade als sie die kleine Gruppe erreicht hatten, brach ein Trupp Insulaner aus dem Dickicht. Sie hatten wohl angenommen, den Franzosen am Haus den Rückweg abschneiden zu können. Die Bootsmannschaft empfing sie warm. Im Kampf sah René, wie sich der Gefangene vom Boden aufrichtete. Um nicht Zeuge zu sein, trat er ein paar Schritte in das Dickicht und wurde plötzlich gefaßt und zu Boden geworfen. Ein wilder Jubelruf gellte an sein Ohr. Rings um ihn brachen und rauschten die Büsche, Schüsse fielen, und wilde, halbnackte Gestalten sprangen über und neben ihm hin. Aber gegen die Übermacht konnten sie sich nicht halten. Vom Haus kam jetzt Bertrand mit seinen Leuten. René wollte um Hilfe rufen, aber seine Stimme wurde von dem Lärm übertäubt. Er wollte sich aufrichten, aber vier kräftige Arme umschlangen ihn. Während er die Kugeln der Freunde rings um sich einschlagen hörte, trugen ihn die Männer weg. Weiter und weiter entfernte sich der Lärm der Kämpfenden. Dann ließen sie ihn wieder los und befahlen ihm barsch, ihnen in die Berge zu folgen.


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