Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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Der Besuch – Aumama

Sadie saß noch lange träumend da, und bunte Bilder tauchten vor ihr auf, zerflossen im Dunst und gaben anderen Raum. Aber das Kind verscheuchte schließlich die ernsten Schatten wieder. Als sie mit der Kleinen spielte, war sie bald wieder das heitere, frohe Kind des Waldes. Sie lachte und scherzte mit ihrem Kind, bis sie ein Geräusch hörte.

»Was ist das? Hast du das gehört? Das buaa a fai tatatu»Das Schwein, das Menschen trägt«. So nannten die Insulaner das Pferd, für das sie keinen Namen hatten. klappert vorbei, aber – was ist das?«

Das Pferdegetrappel war näher gekommen und hielt plötzlich an ihrer Pforte an. Stimmen wurden laut.

»Das muß der Ort sein!« hörte man jetzt plötzlich eine Frauenstimme auf der Straße in französischer Sprache, die Sadie in der kurzen Zeit bereits gut beherrschte.

»Wären Sie meinem Rat gefolgt, Monsieur Belard, so hätten wir nicht ein paar Meilen ins Blaue zu galoppieren brauchen. Steigen wir ab?«

»Wenn es den Damen recht ist? Er kann kaum woanders wohnen!« antwortete eine Männerstimme.

Sadie war mit ihrem Kind im Arm auf einen kleinen Ausbau getreten, von dem aus sie die Straße überblicken konnte. Sie erkannte drei Damen und zwei Herren, alle zu Pferd. Jetzt stiegen sie ab und betraten den kleinen Hofraum. Die Fremden suchten jedenfalls René, und um ihnen Auskunft zu geben, trat sie ihnen mit einem freundlichen »Joranna« entgegen.

»Ah, da ist ein Mädchen!« rief eine der Damen. Sie hielt ihr langes Reitkleid hoch und war beim Haus stehengeblieben. »Lieber Gott, Lucie, es ist eine Eingeborene, und mein Tahitisch ist noch sehr windig. Ich kann noch nichts weiter sagen als ›Joranna‹ und ›aita‹.«

»Ich spreche französisch, meine Damen«, unterbrach sie die junge Frau und setzte das Kind auf den Boden.

»Ah, du sprichst tatsächlich französisch, Kind?« fragte die andere Dame. »Und noch dazu mit vortrefflicher Aussprache. Dann kannst du uns auch sagen, ob Monsieur René Delavigne hier wohnt und Madame Delavigne zu sprechen ist.«

Sadie lächelte. Sie verstand, daß die Fremden sie in dem einfachen Kleid für ein Mädchen des Hauses hielten. Mit einer leichten Verbeugung sagte sie:

»Monsieur Delavigne wohnt hier, und Madame oder Sadie Delavigne...«

»Ah, dann ist dies wohl seine Tochter? Ein reizendes Kind!« unterbrach sie Madame Belard und kniete bei der Kleinen nieder.

»Und Madame Delavigne?« frug Madame Brouard.

»Bin ich selber«, flüsterte Sadie mehr als sie sprach.

»Ah – mon Dieu – est-il possible? bless me!« waren die ersten erstaunten Ausrufe der Damen und Herren. Diese Vorstellung kam etwas zu unerwartet. Daß René eine Eingeborene ›zur Frau hielt‹, war eine Überraschung. Sadie fühlte das auch mehr, als sie es verstand, und das Blut drohte ihr in diesem Augenblick die Adern der Schläfe zu zersprangen. Sie bog sich zu ihrem Kind, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

Die beiden Französinnen faßten sich wieder und sahen ein, welchen Verstoß sie gegen jede gute Sitte in ihrer Überraschung begangen hatten. Sie traten auf Sadie zu und begrüßten sie, ihr die Hände entgegenstreckend, in fast herzlicher Weise.

»Ah, da hat uns Freund Delavigne eine Überraschung aufgespart«, rief Madame Belard. »Wir haben natürlich nicht vermuten können, daß er schon so heimisch auf den Inseln geworden ist. So seien Sie herzlich gegrüßt, Madame. Sie sind uns trotzdem nicht unbekannt, denn Ihr Mann hat uns schon sehr viel Liebes und Gutes über Sie erzählt. Nur Ihre Abstammung hat er nicht erwähnt.«

Sadie atmete leichter. Die freundlichen Worte, deren Sinn sie nicht ganz erfaßte, taten ihr wohl. Sie hatte sich vor dem ersten Zusammentreffen mit den fremden Frauen, von denen ihr René schon erzählt hatte, gefürchtet. Ihr erstes Verhalten konnte sie nicht beruhigen, aber um so wohltuender war jetzt die herzliche Anrede. Ihr einfaches Herz kannte auch weder Falsch noch Verstellung, und sie nahm die Worte, wie sie gesprochen wurden. Offen und freundlich sah sie die beiden Frauen an.

»René wird es sehr leid tun, daß Sie ihn hier nicht gefunden haben. Aber Sie sind mir herzlich willkommen. Ruhen Sie sich doch etwas aus. Ich will die Kleine nur schnell unter Aufsicht geben und bin dann rasch wieder bei Ihnen.«

Die Damen wollten erst höfliche Einwände machen und sprachen vom »stören« und »beunruhigen«. Sadie aber führte sie lächelnd zu einem freundlichen Platz am Strand und bat sie, dort zu warten, während sie mit dem Kind rasch in das Haus eilte.

»Ein reizendes Frauchen«, sagte Monsieur Belard schmunzelnd, als sie in der Tür verschwunden war und die Damen miteinander flüsterten. »Delavigne hat wirklich keinen schlechten Geschmack, und sie spricht hervorragend französisch.«

»Monsieur Delavigne hätte uns aber auch vorher einen Wink über seine Familienverhältnisse geben können«, meinte Mrs. Noughton, eine Amerikanerin, die bis jetzt noch kein Wort mit Sadie gesprochen hatte. »Er hätte dadurch beiden Teilen eine Verlegenheit erspart.«

»Lieber Gott, Verehrteste!« verteidigte ihn lebhaft Madame Belard. »Die Verhältnisse auf den Inseln sind von unseren völlig verschieden. Da muß man schon manchmal ein Auge zudrücken und nicht zu streng sein. Es bestehen übrigens auch wirkliche Verbindungen zwischen Europäern und Insulanerinnen, und Monsieur Delavigne hat nur von seiner Frau gesprochen.«

»Was zerbrecht ihr euch darüber den Kopf«, fiel ihnen hier der andere ältere Herr, ein Monsieur Brouard, in die Rede. »Wenn ihr in Rom seid, müßt ihr leben wie die Römer, sagt ein altes Sprichwort. Madame Delavigne ist ein reizendes, junges Frauchen und wohl in der Lage, einen Mann zu fesseln.«

»Und wie lange?« unterbrach ihn mit einem boshaften Lächeln seine Frau.

»Wie lange, Madame?« wiederholte frivol lächelnd der Gefragte. »Ich bin kein Prophet, aber das sind Familienverhältnisse, und so mancher Eingeborene hätte wohl ebensogut ein Recht, diese Frage an uns Europäer zu richten. Wir sollten diesen Punkt überhaupt etwas genauer in unserem Trauungszeremoniell berücksichtigen. Auf wie lange?«

»Es ist aber doch nur eine Eingeborene«, bemerkte Mrs. Noughton, die aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein nicht so leicht zu besiegendes Vorurteil gegen jede farbige Rasse mitgebracht hatte. »Hätte ich das früher gewußt, hätte ich ihr jedenfalls nicht als erste meinen Besuch gemacht.«

»Bedenken Sie bitte, Mrs. Noughton, daß uns Monsieur Delavigne gar nicht zu sich eingeladen hat, ihn also auch keine Schuld trifft. Wir sind aus eigenem Antrieb hierhergekommen. Wenn ich auch zugeben muß, daß ein derartiges Verhältnis immer etwas Unangenehmes hat und bei größeren Gesellschaften vielleicht auch uns in Verlegenheit bringen könnte, aber...«

»Attention, meine Damen«, unterbrach sie hier Mr. Brouard mit gedämpfter Stimme, denn Sadie erschien in diesem Augenblick wieder auf der Schwelle ihres Hauses. Hinter ihr folgte ein Junge, der einen großen Teller mit Wein und Früchten trug.

»So, Mataoti, bediene die Frauen!« sagte sie in ihrer Sprache zu ihm und wandte sich wieder zu ihren Gästen. »Aber Sie haben ja noch nicht einmal Platz genommen. Bitte, geben Sie mir ihre Hüte und machen Sie es sich bequem. René können Sie so schnell nicht zurückerwarten. Er ist mit Monsieur Lefevre zu einer politischen Versammlung nach Papeete gegangen.«

»Na, das ist herrlich!« lachte Mr. Belard. »Um der zu entgehen, sind wir ausgeritten! Es wird heute eine richtige Komödie gespielt, bei der die Missionare Hauptrollen haben. Da dachten wir, daß es vielleicht etwas zu langweilig wird.«

»So essen und trinken Sie doch etwas«, sagte Sadie, die nicht grundlos befürchtete, daß das Gespräch sich auf religiöse Bahn bewegen könnte. »René wird sich freuen, wenn er erfährt, daß es Ihnen bei uns gefallen hat.«

Die Damen zögerten noch unentschlossen. Die eine schien sich vor der anderen zu genieren. Sadie bewegte sich aber so unbekümmert in dem ihr fremden Kreis, und ihre Bitte kam so natürlich, daß sie nicht widerstehen konnten. Selbst Mrs. Noughton mußte sich eingestehen, daß diese Insulanerin ein ungewöhnlich liebenswürdiges Wesen sei, dem man wohl gewogen sein könnte, wenn diese fatale bronzefarbene Haut nicht wäre.

Die Frauen setzten sich um den runden Tisch. Mataoti wurde zu den Pferden befohlen, und bald darauf saß die ganze Gesellschaft vertraut beisammen. Ehe sie wußten, wie sie dazu kamen, plauderten die Damen Belard und Brouard mit Sadie, als ob sie sie schon seit Monaten kannten. Die Männer hielten sich auch nicht zurück, und besonders Mr. Brouard, der neben Sadie saß, taute richtig auf. Er war so aufmerksam zu der kleinen Insulanerin, daß er seine andere Nachbarin, Mrs. Noughton, völlig vernachlässigte.

Eine volle Stunde hatten sie so gesessen und geplaudert, Früchte genossen und französischen Claret dazu getrunken. Mataoti war bei den Pferden schon ganz unruhig geworden, da mahnte Madame Brouard endlich zum Aufbruch. Monsieur Brouard wollte noch nicht fort, aber die Damen begannen, Abschied zu nehmen.

Sadie sagte ihnen mit einfachen Worten, wie es sie freute, daß es ihnen bei ihr gefallen hat. »Wir können gute Nachbarschaft halten, hier auf Tahiti«, setzte sie hinzu. Mit freundlichem Händedruck und »Joranna«, von Madame Belard und Brouard eingeladen, sie wieder zu besuchen, verließ die kleine Gesellschaft den Garten. Die unruhig scharrenden Pferde wurden bestiegen, und wenige Minuten später galoppierte die Gruppe die Straße nach Papeete hinunter.

»Sadie!« flüsterte da eine leise Stimme. Erschrocken drehte sich die junge Frau, die noch nachdenklich stehengeblieben war, um.

»Aumama? Warum kommst du nicht herüber?«

»Ist die Luft rein?« fragte eine klare, lachende Stimme.

»Meinst du die Fremden? Sie sind fort. Aber ich dachte, du bist mit Lefevre nach Papeete gegangen!«

Die junge Frau an der Hecke schüttelte den Kopf.

»Ich wollte erst, aber als René mitging, blieb ich daheim. Da kommen noch immer mehr und mehr Männer dazu, und diese Gesellschaft gefällt mir nicht. Ich verstehe auch ihre Sprache nicht so gut wie du. Aber ich, komme hinüber.« Damit öffnete sie eine kleine Pforte und begrüßte Sadie herzlich.

Sie war in die einfache einheimische Tracht gekleidet und trug den langen, bis auf den Knöchel herabfallenden Oberrock, der nur vorn am Handgelenk zugeknöpft wird, ohne Schuhe und Strümpfe. Auf dem Kopf hatte sie einen leichten Panamahut, unter dem zwei große, dunkelrote Blüten hervorsahen.

Ihre Gestalt war schlank, aber mit den bei den Eingeborenen üblichen breiten Schultern. Ihr Gesicht war voll und edel, die Augen unter den feingeschnittenen Brauen blitzten mit einem eigenen Feuer. Aumama war der vollkommene Typus einer tahitischen Frau. Ihr fehlte trotz der lebendigen Augen nicht das sinnliche Weiche in den Zügen. Als sich die beiden Frauen in den Armen lagen, konnte man sich kaum ein hübscheres Bild denken.

»Du hast vornehmen Besuch gehabt«, sagte Aumama lächelnd.

»Ja«, erwiderte Sadie und wurde rot. »Unerwarteten, aber warum bist du nicht herübergekommen?«

Aumama bekam einen ernsteren Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich passe nicht zu den Leuten, wir alle nicht, und sie nicht zu uns. Es ist besser, wir bleiben auseinander.«

»So ein Unsinn! Hast du dich nicht für dein ganzes Leben mit einem von ihnen verbunden? Willst du auch von ihm sagen, daß ihr nicht zusammenpaßt?«

Aumama seufzte tief auf und drehte sich etwas zur Seite. Ihre Heiterkeit war völlig verschwunden.

»Ich hoffe, daß wir zusammenpassen für das ganze Leben. Es wäre jedenfalls sehr traurig, wenn es anders kommen sollte. Aber in unseren Familien ist das ja auch etwas anderes«, setzte sie schon etwas leichter hinzu. »Unsere Männer verstehen uns, und wir verstehen sie. Für sie stehen wir gleichrangig da. Aber bei den Gesellschaften ist das etwas anderes. Glaube mir, Sadie, mit den fremden Frauen habe ich Erfahrung. Die Weißen halten uns für untergeordnet, vielleicht, weil wir früher zu Götzen gebetet haben.«

»Aber das haben sie doch früher auch getan, wie mir Vater Osborne selbst erzählt hat«, unterbrach sie Sadie.

»So? Das höre ich zum erstenmal. Naja, vielleicht ist es auch, weil wir nicht so klug sind wie sie, und unsere dunkle Hautfarbe kommt ihnen auch nicht so schön vor. Jedenfalls denken so die Frauen, und vielleicht sind sie ja auch eifersüchtig auf uns. Ausnahmen gibt es sicherlich auch, und ich glaube, daß du dich bei ihnen ganz wohl fühlen könntest. Du bist uns wild aufgewachsenen Mädchen in vielen Dingen überlegen und den weißen Frauen fast gleich. Mir schnürt es jedesmal die Brust zusammen, wenn ich bei ihnen bin und die kalten, vornehmen Blicke sehe, die sie auf mich werfen. Es ist fast wie eine Gnade von ihnen, daß sie mich dazwischen dulden. Da ist es mir weitaus wohler mit meinen Kindern am Strand. Ich halte es für kein Glück, daß die weißen Frauen in den letzten Monaten zu uns gekommen sind. Das Leben auf Tahiti hat sich seitdem verändert, und ich fühle mich in der neuen Umgebung nicht mehr wohl. Vielleicht habe ich mich auch verändert, oder andere haben...«

»Aia hat dich traurig und ernst gemacht«, sagte Sadie freundlich und ergriff ihre Hand. »Sie war auch bei mir, und ich...«

»Aia!« unterbrach sie rasch und heftig die Nachbarin. Dann fuhr sie fort: »Aia ist ein armes Mädchen und kann mich nicht böse machen, aber...« Ihre Augen funkelten plötzlich mit einem wilden, unheimlichen Feuer. »Ich könnte auch nicht ertragen, was sie ertragen hat. Bei jenem weißen Gott, der Oros Bilder zertrümmerte und unsere Tempel eingerissen hat, ich...« Anmama schwieg, die Hand noch wie zum Schwur emporgestreckt. Mit flatternden Haaren, von denen der Strohhut heruntergefallen war, bot sie so das Bild einer rächenden Göttin des Landes. Dann, als wäre sie wieder zu sich gekommen, schüttelte sie unwillig den Kopf. »Ich bin ein Kind, Sadie, ein launisches Kind. Seit einigen Wochen komme ich mir selber manchmal wie umgetauscht vor. Wilde Träume quälen und ärgern mich. Ach was, weg mit den dummen Gedanken. Wir wollen fröhlich sein und uns des Lebens freuen. Der Himmel lacht blau über uns, und die Götter, die schon den Tisch unserer Väter reichlich deckten, haben uns bislang noch nicht hungern lassen.«

»Aumama, du sprichst noch immer von den Göttern und bist doch schon lange eine Christin geworden. Sündige nicht, denn der Gott der Gnade ist auch ein Gott der Rache und der Strafe. Vater Osborne hätte es sehr weh getan, wenn er dich so hätte reden hören!« mahnte sie Sadie mit herzlichem Ton.

»Nicht um alles in der Welt hätte ich ihn kränken wollen. Er war der einzige, der mich an Gott herangeführt hat, der mich die Möglichkeit eines solchen Wesens ahnen und begreifen ließ. Denn die Uneinigkeit und der Haß der anderen Priester hätten mich verzweifeln lassen. Er war ein guter Mann, und die Feranis hatten ihn auch lieb, obwohl er auf andere Weise zu seinem Gott betete. Aber Sadie, bist du fest überzeugt, daß er recht hatte?«

»Aumama!« rief Sadie erschrocken aus.

»Hast du von dem alten Mann gehört, der drüben auf Bola Bola schon lange Jahre lebt und merkwürdige Dinge von dem Gott der Christen erzählt?«

»Von dem Gott der Christen? Ist er denn nicht selbst Christ?«

»Nein, das hat er mir versichert. Er ist von dem Stamm, die den Christengott gekreuzigt haben, und behauptet, daß der gar nicht der Messias war.«

»Das waren die Juden«, rief Sadie überrascht. »Ich wußte gar nicht, daß von diesem Stamm noch Leute leben!«

»Viele soll es noch im fernen Land der Weißen geben. Der alte Mann behauptet, daß der Gekreuzigte nicht Gottes Sohn gewesen sei und nicht die rechte Lehre gebracht hätte, denn die Christen untereinander wüßten es noch nicht einmal und stritten deshalb auch miteinander. Viele von ihnen wurden schon umgebracht, um zu beweisen, wer von ihnen den richtigen Gott und Erlöser habe.«

»Und wenn der Mann nicht die Wahrheit sagt?«

»Warum nicht? Es ist ein alter Mann mit grauen Haaren und grauem Bart. Streiten sie sich nicht hier auch um ihren Gott? Wer hat recht? Und der alte Mann sagt, daß es in ihrem Vaterland unter den Christen noch viele andere Sekten gibt, die alle einander hassen und gegeneinander predigen. Ist das ihre Religion des Friedens?«

»Aumama, du sprichst entsetzliche Sachen. Wer hat dein Herz mit solchem Trug erfüllt?« sagte Sadie schaudernd.

»Trug?« wiederholte die Insulanerin und sah Sadie fest an. »Gebe Gott, daß es Trug und Lüge ist, aber wer gibt uns die Wahrheit?«

»Gott selber«, sagte Sadie mit dem kindlichen Vertrauen, das in dem Schöpfer wirklich seinen Vater sieht und in reiner, ungeheuchelter Frömmigkeit am Thron des Höchsten sein Gebet, seinen Dank niederlegt. »Gott selber, Aumama. Er hat uns die Wahrheit in das Herz gelegt, und seine Boten schon vor langen Jahren gesandt, damit sie sie uns beibringen. Bete mit voller Inbrunst, und das Herz wird dir aufgehen, wenn du dich an Gott wendest.«

»Aber Le-fe-ve betet nicht«, warf die Frau ein. »Er ist ein guter Mann, aber er lacht, wenn man ihn an seine Pflicht als Christ erinnert. Tut das René nicht auch?«

»Nein!« rief Sadie schnell, aber doch etwas verlegen. »Er lacht mich niemals aus.«

»Aber er betet auch nicht.«

»Gott wird ihn schon erleuchten!« sagte die junge Frau und bedeckte einen Augenblick ihre Stirn mit den Händen. »Es ist wahr, und ich habe deshalb schon manche schlaflose Nacht gehabt, und dabei hat Gott doch soviel für ihn getan.«

»Weißt du, wie du jetzt aussiehst, Sadie?« rief da Anmama plötzlich und wechselte den Ton.

Überrascht sah Sadie auf, und Aumama lächelte sie an. »Als ob du selber predigen willst! Scheuch die trüben Gedanken von der Stirn, sie passen nicht zu uns. Was kümmern uns die Streitigkeiten der Leute. Noch ist die Banane süß, die Kokosnuß saftig, und der Himmel lacht blau auf uns. Da kommt auch deine Sadie!« unterbrach sie sich, als das Kind, von einem jungen Mädchen getragen, in der Tür erschien. »Komm her, liebes Kind, du sollst deine Mutter wieder aufheitern. Jetzt sollen auch Scha-lie und Ro-sy kommen und mit dir spielen, und wir wollen alle fröhlich sein.«

Sie griff das Kind der Freundin auf und sprang wieder ausgelassen mit ihm am Strand entlang, um die eigenen Kinder zu rufen. Sadie, die nicht so schnell trübe Gedanken abschütteln konnte, vergaß doch bald ihre Sorgen beim Anblick der spielenden Kinder.


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