Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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21. Die tahitische Flagge

Sadie hatte einige trübe Tage verlebt. Zwar war Renés Verwundung viel leichter gewesen, als zunächst noch angenommen, und heilte so rasch, daß er schon wieder am nächsten Tag sein Lager verlassen konnte, aber Renés Gegner war an seiner Wunde gestorben. Zwar versuchte Bertrand, ihr die Nachricht zu verheimlichen, aber durch Klatsch erfuhr Sadie doch davon. Das traf sie tief, denn in ihren Augen war René für sie zum Mörder geworden. Alles, was ihr der Geistliche gerade erst vor ein paar Tagen über Sünden gesagt hatte, fraß tief in ihr Herz. Sie sah Blut an der Hand, die sie so gern hielt. Und René? Als sie zu ihm stürzte und ihn bat, auf den Knien zu beten, um Linderung in dem tiefen Schmerz zu finden, blieb er kalt. Zwar war er bei der Nachricht blaß geworden, aber das war auch das einzige Anzeichen dafür, daß er fühlte, was er getan hatte. Sadie sah in Schreck und Staunen zu ihm auf und versuchte vergeblich, sein Herz zu seinem Gott zu wenden, um dort Vergebung und Gnade zu erflehen.

»Laß das, Sadie. Das sind Sachen, die du nicht verstehst und deshalb nicht begreifen und beurteilen kannst.«

»Du hast einen Menschen kaltblütig getötet«, weinte Sadie. »Du hast morgens Abschied von mir und deinem Kind genommen und bist dann ganz ruhig gegangen, um einen Bruder zu ermorden!«

»Sadie!« bat René sie jetzt leise und weicher als vorher. Er sah, welch furchtbaren Eindruck die Tat auf sie machte. Sie sah nur die Handlung, nicht die durch europäische Sitten hervorgerufenen Ursachen. Zwang nicht das Gesetz der Ehre zu einem solchen Kampf, selbst wenn beide das Geschehene schon von ganzem Herzen bereuten und gern vergessen hätten?

»Ein Gesetz der Ehre erkennst du an«, klagte Sadie. »Und vergißt das Gesetz Gottes. Nein, du hast es nicht vergessen, du hast es mit Füßen getreten, o René, du hast meinen Frieden für ewige Zeit zerstört!«

»Mach mir den Kopf nicht noch wilder mit diesen Reden, die Priester haben dir das alles eingeredet. Du weißt, ich kann es nicht ertragen!«

»Wenn du doch auf die Stimme der Priester, die Stimme Gottes hören würdest!« klagte sie weiter. »Ach, der ehrwürdige Vater Rowe hatte recht, als er mich mahnte, dich von dem zurückzuhalten, was dir Verderben bringt...«

»Rowe?« sagte René und wurde aufmerksam. »Was weißt du von dem Schleicher? Ich will doch nicht hoffen, daß er meine Schwelle betreten hat?«

»Er war hier«, sagte Sadie, unfähig zu lügen.

»Hier? Und das hast du mir bislang verschwiegen?« rief René gereizt. »Zum Teufel mit dem Burschen! Was wollte er hier?«

»Ihn trieb nur die Sorge um mich hierher. Er war mein Lehrer in der Kindheit und nimmt auch jetzt noch Anteil an meinem Leben. Hat er nicht ein Recht dazu, seit Vater Osborne nicht mehr lebt?«

René biß sich auf die Lippen. Es drängte ihn, seinem Zorn auf diesen Mann freie Bahn zu lassen. Aber er fühlte auch, daß er damit seiner Frau weh tun würde. So ging er einigemal rasch im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er neben Sadie stehen, die noch immer auf dem Boden kniete.

»Beruhige dich, mein Herz. Das Blut lastet nicht so schwer auf meiner Seele, daß ich deinem Gott nicht noch frei und offen ins Auge sehen könnte. Ich bin mir nichts Bösem bewußt. Die Tat fällt nicht mir, sondern der Gesellschaft, die sie billigt, zur Last. Komm, sieh doch wieder zu mir auf. Geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern. Du brauchst dich nicht vor der Hand zu fürchten, die nur mein eigenes Leben vor dem Gegner schützte!«

Sadie schauderte zusammen, und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Bete. René, bete zu Gott, daß er dir die Tat vergeben möge, und ich will mit dir meine Stimme erheben...«

»Sadie...«

Sie ergriff seine Hand und begann zu beten. René ließ sie gewähren, dann bat er sie, sich endlich zu besinnen, damit sie wieder vernünftig miteinander reden könnten. Er wollte jetzt an die frische Luft gehen. Kurz entschlossen ergriff er seinen Hut und ging die Straße nach Papeete hinunter.

Sadie verharrte noch lange Zeit in ihrer Stellung und betete heiß und inbrünstig. Dabei hoffte sie, daß er zurückkehren würde, um sich ihr anzuschließen. Etwas später erfuhr sie zu ihrem Schreck von Mataoti, daß er den Weg nach Papeete eingeschlagen hatte. Dort mußte er ja gerade dem Arm der Gerechtigkeit entgegenlaufen! Voller Angst nahm sie ihr Kind auf und eilte zum Strand. Mit Mataotis Hilfe machte sie das Kanu flott und ruderte durch die spiegelglatte Flut zum nicht weit entfernten Hafen.

Die Straße war stark belebt. Alle wußten, daß sich heute für die Insel eine Katastrophe vorbereitete, und jeder wollte dabei Zeuge sein. Durch Indiskretionen war die Unterredung mit Du Petit Thouars längst bekanntgeworden, man wußte also, was der Ferani verlangt hatte. Von allen Seiten strömten die Volksmassen zusammen. Mit scheuer Freude sahen die Tahitier ihre Landesflagge noch stolz und trotzig auf der alten Stelle wehen und warteten jetzt das Resultat ab. Aber nach dem Morgenschuß war noch keine weitere Reaktion erfolgt. Der Admiral hatte noch in der Nacht Gegenbefehl gegeben und Pomare Frist bis zum Nachmittag eingeräumt. Er wollte der trotzköpfigen Insulanerin Zeit geben, um den unvermeidbaren Schritt zu ersparen. Die Königin hatte mehrere Beratungen mit dem englischen Konsul und den Missionaren abgehalten. Die Flaggen blieben wehen, die tahitische wie die englische. So konnte Du Petit Thouars nicht länger zweifeln, daß Pomare es zum Äußersten treiben wollte.

Die Sonne hatte den Zenit wohl schon um zwei Stunden überschritten, als René die Stadt erreichte. Er war erstaunt über die aufgeregten Menschenmengen, die sich sonst in der Mittagshitze nicht am offenen Strand herumtrieben. Da hörte er plötzlich mit klarer, wohlbekannter Stimme seinen Namen. Als er aufsah, stand er gerade vor Mr. Belards Haus.

Madame Belard hatte ihn gerufen. Er schrak zusammen und fühlte, wie ihm das Blut in die Stirn schoß, als er dicht neben ihr die schönen Züge Susannes erkannte, die ihn ebenfalls grüßte.

»Wir freuen uns, Sie so frisch und wohl zu sehen! Aber kommen Sie doch herauf, wir haben hier ein prächtiges Plätzchen für Sie, um das Schauspiel einer friedlichen Inseleroberung mit anzusehen. Sie sollen unser Begleiter sein, wenn sich die Erde hier in französischen Grund und Boden verwandelt!« rief Madame Belard ihm zu, als er verlegen weitergehen wollte.

René zögerte noch, aber ein Blick auf das lächelnde Gesicht Susannes entschied, und wenige Minuten später stand er in dem kleinen Zimmer und begrüßte die Frauen.

»Sie sehen aber bleich aus! Ihre Wunde ist noch nicht geheilt, und Sie haben sich zu sehr angestrengt! Sie werden durch Ihre Unvernunft noch unter die Erde kommen!« sagte das junge Mädchen und reichte ihm die Hand.

»Würden Sie mich bedauern?« sagte René und sah sie forschend an.

Susanne errötete. Madame Belard drehte ihn zum Licht und sagte, daß er mehr einem umhergehenden Toten gleiche als einem Lebenden. Je eher er sich setze und ein Glas Madeira trinke, desto besser sei es für ihn. Damit verließ sie die beiden, um eine Karaffe zu holen.

Susanne und René waren allein, und er wollte sich eben für sein Verhalten entschuldigen, als er einen Schwächeanfall hatte. Er taumelte, das Mädchen stützte ihn, und René sank auf einen Stuhl. Er kämpfte gegen eine Ohnmacht und stützte seinen Kopf. Rasch hatte Susanne ein Tuch mit Wasser getränkt und hielt es ihm an die Stirn. Dabei machte sie ihm Vorwürfe, daß er in diesem Zustand in die Stadt käme. In diesem Augenblick trat Madame Belard wieder ein.

»Was ist denn jetzt passiert? Werden die Herren ohnmächtig, und die Damen müssen ihnen helfen? Verkehrte Welt, aber da hilft meine Medizin gerade.« Damit schenkte sie beiden ein Glas Madeira ein. Durch diese vorübergehende Schwäche kam das Gespräch kurz auf das Duell. Dabei bedauerte man keineswegs Renés Gegner, der bereits sein siebtes Duell hinter sich hatte. Susanne erzählte, daß sie Post aus der Heimat erhalten hatte und ihr Urlaub auf Tahiti noch zwei bis drei Monate verlängert wurde. Ihr Gespräch wurde durch Lärm von der Straße unterbrochen. Es kam von der nicht weit entfernten Kirche her, wo Bruder Dennis eine stürmische Predigt hielt. René vertrat die Auffassung, daß der Fanatismus der Missionare die Tahitier unnötig aufstacheln werde, es würde keine friedliche Unterwerfung geben. In dem Augenblick krachte vom Admiralschiff der entscheidende Schuß, fast gleichzeitig stießen die Boote von ihm ab.

»Da kommen die Boote. Nun wird das Schicksal des Tages sich entscheiden!« sagte René.

»Glauben Sie, daß die Eingeborenen jetzt einen Kampf mit uns wagen werden?«

»Was können die Unbewaffneten gegen die Gewehre der Soldaten und die Kanonen der Schiffe ausrichten? Es wäre glatter Wahnsinn!«

Schaluppen, vollgedrängt mit Bewaffneten, kamen jetzt an den Strand, der dicht bevölkert war. Man sah keinen bewaffneten Insulaner. Die Lenden und Schultern mit ihren Tüchern umhüllt, die Brust und den Kopf mit Blumen und gelben Bananenblättern geschmückt, standen sie lachend und schwatzend da und erwarteten die Boote. Die landenden Truppen hatten kaum Platz und sahen mißtrauisch dem Schwarm entgegen. Aber bald erkannten sie, daß hier weder ein Angriff noch Schwierigkeiten zu erwarten waren. Der Menschenknäuel drängte sich langsam auseinander, um dem landenden Feind Platz zu geben, seine Truppen aufzustellen. Es waren etwa zweihundert Artilleristen und Marinesoldaten und zwischen drei- und vierhundert Matrosen, mit Cutlass, Pistolen und Musketen bewaffnet. Die Bajonette waren aufgesteckt. Auf ein Kommando formierten sie sich in einzelne, starke Rotten. Dann zogen sie mit dröhnendem Schritt, angeführt vom Korvettenkapitän Monsieur d'Audigny, zum Haus Pomares. Der Kapitän war vom Admiral sogar zum zeitweiligen Regierungsrat der Insel ernannt worden. Im Haus war alles totenstill, die Vorhänge zugezogen, kein Mensch auf der Veranda zu sehen. Vor dem Haus machte man Front, die Gewehre rasselten auf den hartgetretenen Boden.

»Was werden sie jetzt tun, wo sich niemand widersetzt?« erkundigte sich Susanne.

»Sie werden die Flagge herunternehmen«, sagte René, »die Trikolore dafür aufpflanzen und das Land als Besitz des Königs von Frankreich erklären. So lauteten die Drohungen des Admirals.«

»Was wird mit der Flagge geschehen?«

»Irgendeiner der Offiziere wird sie wohl mit aufs Schiff nehmen«, sagte René lächelnd.

»Ob es einen besonderen Befehl gibt, was mit ihr geschehen soll?«

»Das glaube ich nicht, keinem liegt an dem Tuch!«

»Ich weiß nicht, was ich darum gäbe, die Fahne zu besitzen«, rief Susanne plötzlich.

»Die tahitische Fahne?« frug René erstaunt.

»Sie könnte mich glücklich machen«, sagte Susanne und sah auf das in der Abendsonne blitzende Tuch, das jetzt das Leichentuch der tahitischen Freiheit werden sollte.

René wurde von einem Gedanken durchzuckt, griff seinen Strohhut auf und wollte das Zimmer verlassen.

»Wo wollen Sie hin?« rief Madame Belard bestürzt.

»Ich bin gleich wieder bei Ihnen!« rief René und verschloß im nächsten Augenblick die Tür hinter sich.

Leicht sprang er die Treppe hinunter und dachte nicht mehr an seine Verletzung. Durch den Garten und über ein Nachbargrundstück befand er sich gleich darauf in einem Gewühl von französischen Soldaten und Einheimischen. Eben trat Bertrand zum Flaggenstock, um die königliche Flagge einzuholen. Dicht gedrängt um ihn standen die Matrosen. Entschlossen drängte sich René zwischen sie. Ein Trommelwirbel erschütterte die Luft, und Bertrand zog unter dem Totenschweigen der Menge die Flagge nieder. Kein Schrei des Zorns oder der Entrüstung wurde laut, kein Hurraruf der Sieger begleitete den Akt. Es war wie eine Exekution, und Bertrand fühlte das. Halb abgewendet schob er die gedemütigte Flagge von sich und absichtlich einem der Leute zu. Erstaunt erkannte er in diesem Augenblick René, der sie mit einem kleinen Messer von dem Fallseil trennte und sie dann ruhig zusammenrollte.

»René, was tust du hier?« raunte er ihm leise zu.

René gab ihm nur einen Wink mit den Augen, als er eine französische Stimme hörte:

»Das ist der Bursche, der unseren Leutnant erschossen hat. Was zum Teufel will der hier zwischen uns?«

Zornesröte schoß ihm in die Stirn, aber er wußte auch, daß er hier wirklich nichts zu suchen hatte. So versuchte er nur, mit der Flagge unter dem Arm den Rückzug anzutreten. Niemand machte sie ihm streitig, denn man hatte bis zum Schluß angenommen, daß die Tahitier sie selbst einholen würden.

Der zeitweilige Gouverneur von Tahiti, Mr. d'Aubigny, trat vor.

»Offiziere, Soldaten und Matrosen und ihr Bewohner dieser Inseln, denen wir Gerechtigkeit und Frieden bringen! Im Namen des Königs, unseres gnädigen Herrn, nehme ich Besitz von diesem Land. Wir alle werden mit Freuden in der Verteidigung der glorreichen dreifarbigen Fahne sterben. Hißt die Flagge!«wörtlicher Text!

Bertrand hatte die Trikolore befestigt, die nächsten Seeleute sprangen hinzu, und unter dem fröhlichen Wirbel der Trommeln und dem donnernden »Vive le roi!« drängte sich René zu den Gärten. D'Aubigny winkte mit seinem blanken Degen Ruhe. Mit lauter, klangvoller Stimme rief er:

»Die Königin Pomare hat aufgehört zu regieren, wir stehen jetzt auf französischem Grund und Boden!«

Es wäre unmöglich, den Jubel zu beschreiben, der bei diesen Worten bei den Franzosen ausbrach. Die Tahitier, die den Sinn der Worte nicht verstanden hatten, sahen kopfschüttelnd die Wi-wis an, die hier vor dem Haus ihrer Königin einen solchen Lärm veranstalteten. Als sich jedoch das dumpfe Gerücht verbreitete, daß die Wi-wis ihre Königin abgesetzt hätten und selber regieren wollten, brachte das Leben in die Schar. Man setzte sich in die Richtung des englischen Konsuls in Bewegung.

Mr. Pritchard hatte die englische Flagge eigenhändig eingeholt, als die Trikolore emporstieg. Bald war er von Eingeborenen umringt, die eine Erklärung für die Ereignisse haben wollten. Sie erfuhren von ihm, daß die Franzosen wirklich Besitz von der Insel genommen hätten. Einige meinten, daß das nur für einige Zeit sein könnte. Wenn sie wieder davonsegelten, würde man den bunten Lappen herunterholen, wie schon damals. Pritchard versuchte eifrig, die Eingeborenen von der Gefahr zu überzeugen, in der sich jetzt ihre Unabhängigkeit befand. Aber in ihrer gutmütigen, leichten Art hörten sie ihm alle nur mit halbem Ohr zu. Vergebens ereiferte sich der fromme Mann und bürdete ihnen schlimme Folgen auf, die mit Sicherheit kommen würden. Dann ging man wieder zum Haus der Königin zurück, wo noch immer die französischen Soldaten und Seeleute standen. Sie waren selbst verwundert, daß die sonst nicht feigen Insulaner gegen die höchste Beleidigung ihres Landes nicht einschritten. Tatsächlich begriffen die Tahitier aber noch nicht, was mit dem Geschehenen gemeint war. Den Flaggenwechsel hatten sie selbst erst kürzlich gemacht, und die Franzosen hatten es ihnen nachgemacht. Bis sie wieder fort waren, mochte die dreifarbige Fahne da oben ruhig wehen.

René war durch den unerwartet glücklichen Ausgang seiner Tat wieder ganz der alte geworden. Er sah schon von weitem, wie sich Susanne ängstlich aus dem Fenster bog und nach ihm Ausschau hielt. Er winkte fröhlich mit dem Hut herüber, und als Antwort wurde ein weißes Tuch geschwenkt. Kaum fünf Schritte entfernt lief er an seiner Frau vorbei, die das schlafende Kind auf dem Arm hatte. In seinem Eifer hatte er sie nicht bemerkt. Sadie stand in sprachlosem Erstaunen starr. Sie war ihm gefolgt, weil sie sich um seine Sicherheit sorgte und sie ihn vielleicht zu schroff und hart von sich gestoßen hatte. Und jetzt? Strahlend vor Glück, mit leuchtenden Augen flog er an ihr vorbei, ohne sie zu sehen. Dort am Fenster – ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als sie die schöne Europäerin sah, mit der René schon an jenem furchtbaren Abend soviel gesprochen und getanzt hatte. Ihren kalten, verächtlichen Blick hatte sie mehr als einmal ertragen.

Noch stand sie still und regungslos und wußte nicht, ob sie ihm folgen oder ihn rufen sollte. Da berührte eine Hand ihre Schulter, und sie hörte leise ihren Namen. Es war Aumama, aber Sadie erschrak bei ihrem Anblick. Ihr Gesicht wirkte verstört und wild. »Wo kommst du her, und wie siehst du aus?«

»Wie ich aussehe?« Sie lachte in unheimlicher Heiterkeit. »Der Tau in den Bergen gräbt Spuren in die Haut. Aber das ist es nicht, was ich dir sagen wollte. Ich zeige dir etwas, komm! Glaubst du an Geister?«

»An Geister? Wie meinst du das? Was hast du, Anmama, ich fürchte mich vor dir!«

»Fürchten? Unsinn. Wovor? Vor dem eigenen Mann? Der tut nichts. Sieh nur, wie freundlich und lieb er da drüben mit dem ganz fremden Mädchen ist, könnte er dem eigenen Weib etwas antun? Ich glaube, wir beide können uns bald lustige Geschichten erzählen!« Wieder lachte sie und zog die Widerstandslose hinter sich zu einem Haufen aufgeschichteter Kanus. Von dort aus zeigte sie mit zornfunkelnden Augen nach den offenen Fenstern des Belardschen Hauses. Gerade betrat es René mit der erbeuteten Flagge und wurde jubelnd begrüßt.

»Pomares Flagge, die sie in den Staub gezogen haben, bringt er dem Feind, seiner neuen Liebe!« flüsterte Aumama mit leiser, vor innerer Bewegung zitternder Stimme. »Sieh nur, wie sie sich zu ihm beugt. ich glaube, das war ein Kuß! Nein, sie werden nach unserer Art die Nasen gerieben haben. Aber komm, Sadie, ich habe dir viel, sehr viel zu erzählen. Wenn das Pärchen dort wieder zur Besinnung kommt, könnten sie uns hier draußen bemerken. Den Triumph sollen sie nicht haben, komm!«

Sadie drückte ihr Kind fester an sich und folgte ihr am Strand entlang, der Heimat entgegen. Sie sah die hundertmal begangene Strecke, erkannte aber nichts wieder und war erstaunt, als sie vor der eigenen Türe stand. Die Gedanken an ihren Mann und das fremde Mädchen wirbelten ihr durch den Kopf. Und Aumama erzählte ihr von ihrem Leid. Bei dem letzten europäischen Tanz hatte Lefevre zum erstenmal ihre eigene Schwester gesehen und sich wie blind in sie verliebt. Nahuihua, der blitzende Stern im Norden, liebte aber ihre Schwester zu sehr, um ihr den Mann abtrünnig zu machen. Sie floh, und Lefevre verließ Frau und Kind und folgte ihr über die ganze Insel. Nur mit Gewalt konnten sich die Häuptlinge von Taiarabu, wo er sie wiedergefunden hatte, seiner Leidenschaft entgegenstellen. Er war zornig nach Papeete, aber nicht in sein Haus zurückgekehrt.

Wieder lachte Aumama wild. »Aia hatte recht. Alle sind gleich, alle Teufel mit ihren glatten Zungen und freundlichen Augen. Wenn sie die Blume gepflückt haben und sich eine Weile an ihrem Duft erfreut haben, geben sie ihr noch nicht einmal Zeit zum Welken. Aber Rache will ich haben, Rache, beim ewigen Gott!« Sie richtete sich groß und stolz auf. »Meine Kinder habe ich schon in die Berge gebracht, in gute Pflege. Der treulose Mann soll sehen, wie sich ein Mädchen von Tahiti rächt!«

Aumama befand sich in einer furchtbaren Aufregung, und Sadie schrak vor der entsetzlichen Glut und Wildheit zurück, die in ihren Zügen lag. Sie hätte das sanfte, fröhliche Wesen sich so nie vorstellen können. Sadie wollte sie beruhigen, aber Aumama stieß sie zornig von sich. Dann weinte sie heftig, und Sadie saß noch lange mit ihr zusammen, um sie zu trösten, dabei brauchte sie selbst Trost.

Und René?

Er saß lachend und plaudernd neben Madame Belard, der schönen Susanne gegenüber. Sie sprachen von der Welt, von Paris, von seinem Vaterland, und als sie sich ans Klavier setzte und einige bekannte Melodien spielte, schlug ihm das Herz höher. Er mußte sich sogar zurückhalten, um der Spielerin nicht zu sagen, wie glücklich ihn dieser Abend gemacht hatte. Erstmalig fühlte er den Abstand zu seinem jetzigen Leben. Das Bild des alten Osborne tauchte vor ihm auf. Er saß ernst und mild vor ihm und blickte wehmütig mit dem Kopf nickend ihn an.

»Spiel etwas heiteres, Susanne!« rief Madame Belard. »Unser Freund wird schon wieder ganz bleich und melancholisch! Die Marseillaise ist heute besser angebracht, als das süße und weiche Gekose!«

Susanne ging in die herausfordernden Töne des Liedes über, und René fühlte, wie ihn die Melodie hob und zurückbrachte. Großer Gott, was hatte er getan? Fort von hier, war sein einziger Gedanke. Er sprang auf und griff nach dem Hut. »Wohin?« rief Madame Belard erstaunt.

»Ich muß nach Hause. Ich bin schon zu lange geblieben. Die späte Stunde... Sadie ängstigt sich...«

»Ach was, Sadie mag beten, bis wir Tee getrunken haben«, sagte mit komischem Ärger Madame Belard. »Ich hatte nun fest auf Sie heute abend gerechnet.«

Der unzarte Scherz tat ihm weh und bestärkte ihn in seinem Entschluß. Mit kurzem, fast verstörtem Gruß verließ er das Haus.

Erst allein draußen in der dunklen, sternenfunkelnden Nacht brach sich auch das zurückgedrängte, mächtige Gefühl seine Bahn.

»Sadie! Mein armes Weib!« flüsterte er. »Armes, verratenes Kind... nein, es ist noch nicht zu spät. Noch habe ich die Kraft, das fremde Bild aus der Brust zu reißen. Sie haben dir von allen Seiten weh getan. Du hast keine Klage gehabt für mich, nur stille Tränen. Jede davon brennt mir wie Feuer auf der Seele, Sadie!«

Mit raschen Schritten eilte er seiner Heimat entgegen. Als ihn dort seine Frau empfing, glücklich im Bewußtsein, daß er zu ihr zurückgekehrt war, und keinen Vorwurf äußerte, da zog er sie fest an sich, bedeckte sie mit Küssen und versprach ihr, daß sie in den nächsten Tagen schon Tahiti verlassen wurden. Sie wollten wieder zurück nach Atiu, dem Land ihrer Sehnsucht. Sadie lag an seiner Brust und weinte laut.


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