Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

27. Der Abschied

Die Lage der Dinge war jetzt so entwickelt, daß sich René in seinem Haus vor der Stadt nicht mehr sicher fühlte. Aber Sadie wollte nicht nach Papeete. Monsieur Belard hatte ihnen schon ein kleines Gebäude, das auf seinem Grundstück leer stand, angeboten. Aber der Gedanke an die Fremden und die Stadt erfüllte Sadie mit Furcht. Sie fand dabei einen Bundesgenossen in dem alten Mr. Nelson, dem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte. Der wackere Missionar tröstete sie nicht nur, sondern bot ihr ein Mittel an, um ihre Wünsche zu verwirklichen. Er hatte den Auftrag des jetzt leitenden Missionars, Mr. Rowe, erhalten, nach Atiu zu gehen. Ein vor wenigen Tagen eingelaufener englischer Walfänger sollte sie mitnehmen. Jetzt kam Mr. Nelson zu Sadie und René, um ihnen das Angebot zu machen, sie mit ihren Sachen mitzunehmen. Er hatte schon die Zustimmung erhalten, daß ihn Bruder Ezra begleiten durfte. Er zweifelte dabei auch nicht, daß man René von seinem Wort entbinden würde. Das würde allerdings kaum sofort geschehen, und Sadie erschrak bei dem Gedanken, sich für kurze Zeit von René trennen zu müssen. Aber die Gelegenheit war günstig, und bei Kampfbeginn waren sie wirklich gefährdet. Durfte sie ihren Mann aber allein lassen und nach Atiu zurückkehren? Sie hatte sich das anders vorgestellt und schon ausgemalt. Auch René sträubte sich gegen den Gedanken, Frau und Kind vorausziehen zu lassen. Er wußte aber auch, daß es in dieser Zeit schwer wurde, eine andere passende Gelegenheit zu finden. Deshalb wollte er noch einen letzten Versuch unternehmen, um vom Gouverneur die Erlaubnis zu erhalten, seine Familie begleiten zu dürfen. Der Gouverneur befand sich aber nicht in Papeete, sondern war mit einer Dampffregatte selbst nach Tairabu gegangen. Man nahm an, daß er anschließend eine Rundreise zu den anderen Inseln machen wollte. Sein Sekretär konnte keine Entscheidungen treffen und bat den jungen Mann, noch vierzehn Tage zu warten. Er konnte ihm aber versichern, daß der Gouverneur selbst schon erwähnt hatte, daß man die ganze Untersuchung fallenlassen wollte. Nach seiner Rückkehr stände Renés Abreise bestimmt nichts mehr im Weg.

Das zerschlug zwar seine Hoffnungen, mit dem Walfänger am nächsten Tag die Insel zu verlassen. Er entschloß sich aber, die Abreise seiner Familie nicht weiter hinauszuzögern. Er besprach mit dem Kapitän das Verladen seiner Sachen. Man wollte mit den vier Walfängerbooten alles abholen und dann nach Atiu segeln. Langsam ging er zu seinem Haus zurück, in dem er nun die letzte Nacht verbringen sollte.

Die letzte Nacht – es liegt ein eigentümlicher Zauber in diesem Wort, wenn wir einen lange bewohnten und liebgewonnenen Platz verlassen sollen. Wir drängen und treiben, bis wir den Boden verlassen können, der uns vielleicht schon einige Monate unter den Füßen brennt. Dann ist es soweit, die Welt liegt frei und offen vor uns, und wir werden von einem unerklärlichen Gefühl voller Reue ergriffen. Wir stehen und zögern, und der Fuß ist schwer geworden. Man sagt sich, daß man den Platz vielleicht zum letztenmal betritt, und der Gedanke an das Unbekannte vor uns ist es, der uns den Tag so schwer macht. Wieviel stärker muß das Gefühl da sein, wo sich das Herz noch mit allen Fasern an die Erinnerung lieber Plätze klammert und nicht loslassen will.

Als er den offenen Platz erreichte, blieb auch René in ernstem Schweigen stehen. Was war seit seiner Ankunft alles geschehen! Aber die trüben Gedanken wurden schnell durch den fröhlichen Jubelruf seines Kindes verscheucht.

Bis spät in die Nacht saßen die Eheleute noch zusammen und plauderten. Am anderen Morgen waren die Walboote schon da und mußten bald eine halbe Stunde warten, ehe die Sachen zusammengerollt und geschnürt bereitlagen. René behielt nur wenig für sich zurück. Um zehn sollten die Boote zurück sein, weil dann der Westwind einsetzte. Sadie konnte mit ihrem Kind gleich von hier aus an Bord gehen.

Sie standen noch und sahen den Booten mit ihren Sachen nach, als sie den Missionar Rowe durch ihren Garten kommen sahen.

»Welchem glücklichen Zufall habe ich die Ehre dieses Besuches zu verdanken?« begrüßte ihn René kalt. Sadie schauderte zusammen. Immer wenn dieser Mann zu ihr kam, brachte er ihr Leid.

»Nicht Zufall, Bruder, aber du und deine Frau stehen heute an einem – Abschnitt eures Lebens. Da soll das fromme Wort eines Mannes, der es gut und redlich mit euch meint, nicht fehlen.«

»Ich glaube, dafür haben Sie mir wirklich einen Beweis geliefert!« unterbrach ihn René.

»Lassen Sie die Zeit, die hinter uns liegt. Heben Sie Ihr Auge zu Gott und seinen Werken«, sagte er ernst und feierlich. »Was ich getan habe und wie ich gehandelt habe, liegt offen vor Gott. Er nur prüft die Herzen, und siehe da, vor seinem Auge ist kein Verbergen!«

René wollte sprechen, aber der leise Druck von Sadies Hand lag bittend auf seinem Arm. Der Geistliche schritt auf Sadie zu, nahm die Hand der jungen Frau und sprach:

»Lasset uns beten, daß Gott sein Gedeihen gebe zu dieser Reise und seinen Segen dir, meine Tochter, schenke!« Damit führte er die etwas erstaunte Frau in das Haus, um dort ungestört Augen und Herzen zu Gott erheben zu können.

René blieb erstaunt über das Verhalten des Missionars zurück. Dann schüttelte er den Kopf und nahm halb lachend, halb ärgerlich sein Kind auf den Arm. Er spielte mit ihm am Strand, bis nach kurzer Zeit Mr. Rowe zurückkam. Er war aber nicht der Mann, der einen Ort verlassen hätte, ehe er es selber für angebracht hielt. Denn jetzt wandte er sich in einer langen Ansprache an den jungen Mann. René wollte seine Frau nicht kränken, sonst hätte er dem für ihn langweiligen Gespräch bald ein Ende gemacht. Als er aber doch ungeduldig wurde, erzählte Mr. Rowe, daß ihre alte Wohnung auf Atiu wieder hergerichtet wurde. Das Dach war neu gedeckt, das Haus gereinigt und gelüftet. Sadie könne es nach ihrer Ankunft gleich beziehen. »Sie haben unser Haus hergestellt? Und wer hat Sie darum gebeten?« rief René erstaunt aus.

»Aber, René!« beschwor ihn seine Frau.

»Gebeten? Niemand, das habe ich aus freiem Antrieb getan. Seit jener Nacht, wo die fatale Sache mit der französischen Wache geschah, wußte ich, daß es Ihr sehnlichster Wunsch war, wieder nach Atiu zurückzukehren. Es ist auch wohl das beste für Sie beide, in den Frieden der Insel zurückzugehen.«

René fühlte, wie der Geistliche sich wieder in sein Familienleben mischte. Als ihm Sadie für seine Sorge danken wollte, ergriff er ihren Arm und zog sie zurück.

»Laß das, Sadie. Der Herr da meint's vielleicht gut und ich will auch gern Vergangenes vergessen. Aber damit, hochwürdiger Herr, habe ich auch alles getan, was ich kann, und ich muß Sie ernsthaft bitten, sich nicht um irgend etwas mehr zu kümmern, was mich, Sadie oder mein Haus betrifft!«

»Herr Delavigne!« rief der Geistliche, und ein Blitz aus seinen grauen Augen traf den Franzosen. »Sie gehen zu weit! Prudentia ist Protestantin, und das Heil ihrer Seele fordert der Herr vielleicht einmal von mir!«

Ein spöttisches Lächeln zuckte in Renés Gesicht. »Es ist genug. Ich habe keine Lust, mich jetzt noch in religiöse Spitzfindigkeiten einzulassen. Sie wissen, daß Sadie mich bald verläßt. Es sind noch einige Dinge zu besprechen – ich hoffe, Sie verstehen mich!«

»René!« bat seine Frau erneut mit leiser Stimme.

»Zum Teufel, der Herr hier weiß, wie wir miteinander stehen, und sollte es vermeiden, Szenen zu erneuern, die für beide Teile unangenehm sein könnten. Ich brauche seine Einmischung nicht, ich verlange sie nicht und werde sie auch nicht dulden!«

»Herr Delavigne, Sie trotzen mit einer Macht, die Ihre Landsleute gerade besitzen!« rief der Geistliche jetzt auch gereizt.

»Ich trotze auf die Macht, die mir mein Hausrecht gibt«, antwortete René.

»Ich dachte, Sie wären mir zum Dank verpflichtet, und bedaure, mich geirrt zu haben.«

»Er hat es gut gemeint, René!«

»Die Minuten verfliegen, in kurzer Zeit kann das Boot dasein, Sadie.«

»Ich sehe, wie es steht. Gottes Wort ist überflüssig, wo der Stolz der Welt die Zügel führt und dem Verderben entgegeneilt. So lebe denn wohl, Prudentia. Die Stunde schlägt, die dich dem stillen, freundlichen Inselreich wieder zuführt. Möge auch geschehen, daß sie dich wieder zu Gottes Vatershuld führt. Bete zu ihm, daß er dir gnädig deine Sünden vergibt. Behalte ihn im Herzen, er ist das Licht und das Heil und die Hoffnung der Gläubigen in aller Ewigkeit, Amen.«

Mit diesen Worten nahm er Sadies Kind auf, küßte und segnete es und gab es der Mutter zurück. Dann ging er durch den Garten.

Sadie lehnte sich an René und flüsterte:

»Oh, René, du hast mir sehr weh getan mit deinen heftigen Worten....«

»Laß ihn gehen, mir ist ein Stein vom Herzen genommen, wenn er weg ist!« sagte René aufatmend.

»Ist er wirklich gegangen?« sagte da eine Stimme dicht neben ihnen. Als sie überrascht aufsahen, kam Aia, das wilde, schöne Mädchen, hinter einem Orangenbusch hervor.

»Aia! Wo warst du denn die ganze Zeit? Hast du nicht mehr an Sadie gedacht?«

»Ich wollte, ich müßte nicht immer an dich denken!«

»Mach ihr nicht das Herz noch schwer, Aia!« sagte René.

»Du mußt uns noch Vorwürfe machen, nicht wahr, du nichtsnutziger Wi-wi? Aber warte nur, die Strafe bleibt nicht aus, und dann denke an mich! Ich werde dir in deinen – Träumen erscheinen und dich quälen und martern!«

»Was ist denn mit dir los?« lachte René. »Ich kann doch nichts dafür, wenn die Kriegsschiffe euer Volk überfallen. Trage ich die Schuld an dem vergossenen Blut?«

»Das zum Glück nicht auch noch!« sagte Aia. »Aber genug davon. Ich bin nicht zu dir gekommen, falscher Ferani, sondern zu deiner Frau. Ich will mein Wort einlösen, das ich ihr einst gegeben habe.«

»Dein Wort, Aia?«

»Habe ich dir nicht gesagt, daß ich zu dir kommen werde, wenn dich alle verlassen haben, und daß wir dann zusammen lachen und tanzen und singen werden?«

»Ach, du komisches Mädchen, wie kommst du denn auf diese Gedanken?«

»Gehst du nicht zurück nach Atiu?«

»Allerdings gehe ich dorthin.«

»Und René geht mit dir?«

»Allerdings.«

»Jetzt gleich? Auf einem Schiff?«

»Wenn auch nicht jetzt in einem Schiff, doch sobald ich von hier weg darf, Aia!« sagte René.

»Wer soll dich halten wollen? Wir bestimmt nicht!«

»Nein, ihr nicht, aber meine Landsleute. Und alles wegen einem Streich, den ihr begangen habt.«

»Ja, ihr helft euch untereinander, wo ihr könnt. Aber weg mit dir, ich bin nicht zu dir gekommen. Nimmst du mich mit, Sadie?«

»Nach Atiu?« rief Sadie rasch und freudig.

»Wohin du gehst«, sagte das wilde Mädchen leise und herzlich.

»Willst du denn deinem tollen Leben entsagen? Willst du bei mir bleiben?«

»Wohin du gehst!«

»Aber Aia, wenn du mitreisen willst, wo sind denn deine Kleider und deine Matte? Das Boot wird gleich kommen!«

Aia errötete und schüttelte den Kopf.

»Ich brauche nichts! Eine Matte finde ich auf Atiu, und die Brotfrucht ist da süßer als hier.«

»Ich habe Matten genug für dich, Aia«, sagte Sadie herzlich.

»Ich weiß, du bist gut. Aber ich hatte selber eine Matte. Nur gestern und vorgestern schlief ich bei der alten Hexe im Haus, die sie Mütterchen Tot nennen, und die behielt mir für Schlafen und... aber wozu auch..., ich brauche nichts«, setzte sie unwillig hinzu.

»Aia...«

Das Mädchen drehte ihren Kopf beschämt zur Seite, aber ihr Blick fiel auf ein weißes Segel, das eben über der Landspitze sichtbar wurde. Von vier kräftigen Matrosen gerudert, kam ein Boot durch das Binnenwasser herüber. Wie ein Messer stach es in Sadies Herz. Das war das Boot, das sie von René trennen sollte. Sie wurde bleich, und Aia sprang hinzu, um sie zu unterstützen.

»Sadie, Sadie!« bat René, der rasch seinen Arm um sie schlug und sie an sich zog. »Es sind nur wenige Wochen, vielleicht nur Tage. Die Zeit wird rasch vorübergehen. Grüße mir mein Atiu inzwischen!«

»René!« weinte sie an seinem Hals und schmiegte sich an ihn. Aia stand daneben, und auch ihr liefen die Tränen hinunter. Aber sie sprach kein Wort, hatte die Arme krampfhaft über der Brust gekreuzt und sah regungslos zu der Gruppe.

Auf einen Wink Renés trug das Mädchen, das mit Sadie nach Atiu sollte, das letzte Gepäck zum Strand. Dann küßte er Sadie auf die Stirn und tröstete sie.

»Was sollen nur die Matrosen denken, Sadie. Komm, wisch die Tränen ab... aber was ist mit dir?«

»Nichts!« flüsterte Sadie leise und versuchte, sich aufzurichten. »Es ist gut!«

René rief laut und freudig:

»Da drüben beginnen wir ein neues, schönes Leben. Wirf den Kummer von dir ab, da sind die Leute, und der Bootsmann winkt schon ungeduldig und zeigt nach dem Schiff. Wir dürfen jetzt nicht länger zögern, leb wohl, Sadie!«

Wieder warf sie sich an seine Brust, aber es war nur ein Moment. Dann griff sie nach ihrem Kind und reichte es ihm.

»Da, küß dein Kind noch einmal!« flüsterte sie ihm zu.

»Aber Sadie, du quälst dich, als wäre es eine Trennung für Jahre, fasse dich, mein Lieb!«

»Küsse dein Kind«, hat seine Frau, »und nun, leb wohl, René.« Sie war wieder völlig ruhig, wenn auch tränenüberströmt.

»Liebe Sadie

»So, nun gut, mein Kind, komm, nach Atiu...« Sie lächelte unter Tränen und nahm die Kleine auf. Noch einmal hingen ihre Lippen in einem langen Kuß an denen Renés, dann riß sie sich von ihm los und lief zum Boot.

»Segel auf, da vorn!« rief der Bootsmann, der die Abschiedsszene mit spöttischem Lächeln betrachtet hatte. »Aufgepaßt mit dem Bug, daß wir nicht auf den Sand kommen. Alles klar?«

»Halt, die Walhine da soll auch noch mit!« rief einer der Leute.

»Wetter über das ganze Frauenvolk, wird eine schöne Fahrt werden!« brummte der Walfänger.

»Leb wohl, Aia!« rief ihr René freundlich nach, aber sie kümmerte sich nicht um ihn. Ihr Blick hing an dem schmerzlich verzerrten Gesicht Sadies. Dann stieß das Boot ab, die Riemen wurden eingesetzt, und der Bug des schlanken Fahrzeugs flog herum. Das Segel schlug heftig gegen den schwankenden Mast, blähte weit aus in der frischen Brise, und dann spritzte der Schaum zu beiden Seiten des Bootes vorm Bug.

»Joranna, René, Joranna!« rief ihm Sadie zu und winkte mit der rechten Hand. In der anderen preßte sie das Kind an sich.

Jetzt hatte es schon das Schiff erreicht, das Segel fiel, und René konnte deutlich die Leute erkennen, die an der Seitenwand entlangliefen. Das Boot stieg empor, die Rahen flogen herum, und eine frische Brise blähte das große Segel. Bald darauf war der Walfänger schon am Horizont verschwunden.


 << zurück weiter >>