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Einen alten Bekannten vom Schiff haben wir lange aus den Augen gelassen: den Doktor Rascher, der schon vor den Hetsons in die Berge gegangen war, um seinen botanischen Forschungen nachzugehen. Später, wenn er in dem blumenreichen Land ›geerntet, wo er nicht gesät‹ hatte, wie er meinte, wollte er mit der befreundeten Familie in dem Minenstädtchen wieder zusammentreffen. Er war an einfaches, bescheidenes Leben seit seiner Jugend gewöhnt. So machte es dem alten Mann nichts aus, nachts entweder bei einem einsamen Goldwäscher zu übernachten oder auch einmal unter einem Baum mitten im Walde. Das Maultier, das seine Sammlung, seine Decken und das Kochgeschirr trug, weidete dann das Gras in seiner Nähe ab. Wenn der Tau am nächsten Morgen abgetrocknet war, zog er fröhlich weiter. Die Goldwäscher, auf die er gelegentlich stieß, wunderten sich freilich, einen Mann in den Bergen herumstreifen zu sehen, der weder Spitzhacke noch Schaufel oder Pfanne bei sich hatte. Er rupfte dafür Pflanzen mit der Wurzel aus und legte sie in eine Blechbüchse oder zwischen Papier. Der alte Mann war aber so freundlich und gewinnend, daß niemand ein spöttisches Wort wagte. Im Gegenteil gaben ihm auch die Amerikaner oft Stellen an, wo sie auffallende Blumen und Pflanzen gesehen hatten.
So war er etwa fünf bis sechs Tage in den Hügeln herumgestiegen und mit der Ausbeute zufrieden. Er beschloß, seinen Kurs jetzt Richtung Paradies zu halten. Dort wollte er eine Zeitlang bei den Hetsons bleiben und die Flora in der Nachbarschaft untersuchen. Dann sollte es weitergehen. Wohin? Das war ziemlich gleich, wenn er nur etwas Neues entdecken konnte. Er hatte sich aber die ganze Zeit so wenig um eine Richtung gekümmert, daß er gar keine Ahnung hatte, ob er sich östlich, westlich, nördlich oder südlich vom sogenannten Paradies befand. Er mußte also erst einmal jemand im Wald treffen, der ihm die richtige Richtung angeben konnte. An einer ziemlich offenen Bergwand ging er mit seinem Tier am Zügel langsam entlang. Da entdeckte er unten im Tal einen einzelnen Goldwäscher. Das fiel ihm jedoch nicht besonders auf, denn soviel hatte er schon vom kalifornischen Minenleben mitbekommen: Viele waren mit der Stelle, an der sie bis dahin gearbeitet hatten, nicht zufrieden, nahmen ihr Handwerkszeug und ihre Sachen auf und gingen aufs Geratewohl in die Berge hinein, um an anderen Stellen zu graben und sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Hatten sie ihn gefunden, gingen sie zurück, holten ihr Zelt und die anderen Sachen nach und siedelten sich vorübergehend an der neuen Stelle an. Solches Umherstreifen, um einen anderen Arbeitsplatz zu finden, nannten die Leute ›prospektieren‹.
Diese Männer wußten aber meistens auch gut in der Nachbarschaft Bescheid, die sie vielleicht schon wochenlang durchzogen hatten. Doktor Rascher beschloß, hier in das Tal zu gehen und sich bei dem Mann nach dem ›verlorenen Paradies‹, wie er lachend vor sich hinmurmelte, zu erkundigen. An dem schattigen Berghang fand er aber wieder so manche Pflanze, die ihn aufhielt und fesselte. So war es dann Mittag geworden, ehe er das eigentliche Tal und damit auch den Goldwäscher erreichte, der ganz still und heimlich das kleine Bergflüßchen nach seinen Schätzen durchsuchte. Doktor Rascher malte sich in seiner gemütlichen Weise schon ein Bild von dem Mann aus. Es war bestimmt ein abgehärteter Amerikaner, der hier zufällig den reichsten Boden gefunden hatte und das kostbare Metall in Massen aus der Erde wusch. Vielleicht überlegte er schon sorgenvoll, wie er das wertvolle Gewicht unbemerkt von bösen Menschen nach San Francisco bringen sollte. Er brütete vielleicht über seinem kostbaren Schatz, den er wie Argus bewachte, ohne zu wagen, ihn zu verlassen. Möglich, daß der Unglückliche auf diese Weise in der Wildnis verschmachten mußte. Der Mann arbeitete auf dem weichen Boden und hatte ihm den Rücken zugedreht. Bei dem Rascheln und Schütteln seiner eigenen Maschine konnte er die Schritte des Doktors nicht hören. So kam er ganz geräuschlos an ihn heran und befürchtete nicht zu Unrecht, daß er ihn mit einem plötzlichen Anruf erschrecken würde. Vielleicht ergriff er dann seine sicher neben ihm liegende, gespannte Büchse oder einen Revolver und sprang in die Höhe? Mit einem Anflug gutmütiger Neckerei freute er sich aber auch wieder auf diesen Moment. Da das Maultier ebenfalls ganz still dicht hinter seinem Herrn hergegangen war, hatten die beiden den Goldwäscher auf kaum fünf Schritt erreicht und ihn so überrumpelt, ohne daß er ihre Nähe auch nur ahnte. Jetzt hatte er ihn, wo er ihn haben wollte, und rief mit ziemlich lauter Stimme:
»Guten Morgen!«
Anstatt aber in panischem Schrecken hochzufahren, wie es sich der Doktor ausgedacht hatte, blieb der Mann ruhig sitzen und drehte noch nicht einmal den Kopf herum. Als ob er einem Bekannten auf der Straße begegnete, sagte er ruhig in deutscher Sprache:
»Guten Morgen!«
»Na, das nenn ich kaltblütig«, sagte Doktor Rascher lächelnd. Er ging an dem vollkommen gleichgültigen Mann dicht vorbei, um das Gesicht dieses merkwürdigen Philosophen zu betrachten. Der Goldwäscher sah kaum von seiner Arbeit auf, als das Maultier an ihm so dicht vorüberkam. Er drehte den Kopf etwas zur Seite und sagte:
»Schlägt der Racker aus?«
»Nein«, lächelte der Doktor. »Es ist ein ganz gutes Tier.«
»So? Die Bestien sind sonst sehr schnell mit den Hinterbeinen. Neulich hat mich eins hierher getroffen, daß ich acht Tage nicht sitzen konnte.«
Er machte dabei eine entsprechende Bewegung, ohne eine Miene zu verziehen. Der Doktor mußte laut herauslachen.
»Ja, Sie haben gut lachen!« sagte der Goldwäscher und arbeitete ruhig weiter.
Als ihn Doktor Rascher näher betrachtete, kam ihm das Gesicht bekannt vor, obgleich es schwer war, in seinem jetzigen Zustand bestimmte Züge herauszufinden. Der Mann hatte sich in den letzten fünf bis sechs Wochen nicht rasiert und sich wahrscheinlich auch genausolange nicht gewaschen. Allem Anschein nach trug er auch sein Hemd genausolange. Unter dem alten, zerknitterten Strohhut, den er womöglich nachts als Kopfkissen benutzte, sahen die langen, struppigen blonden Haare sehnsüchtig nach einem Kamm heraus und spreizten sich auch hier und da aus einzelnen Öffnungen der Kopfbedeckung heraus.
Er bot das echte, traurige Bild eines verwahrlosten Menschen, dem die Einwirkung anderer fehlte, um sein Äußeres wieder zu pflegen. Wahrscheinlich fehlte ihm aber auch die Kraft, das von sich aus zu tun, wozu ihn andere vielleicht gezwungen hätten. Ein Europäer, der die schlechten Eigenschaften der Indianer angenommen hatte, ohne eine einzige der besseren dabei mit aufzunehmen. Ein verlorenes Subjekt, wie man es nicht nur in Kalifornien, sondern auch in vielen anderen wilden Ländern findet, in der amerikanischen Wildnis genauso wie im australischen Busch, das sich nur vegetierend am Leben erhielt – und doch dabei nach Gold grub.
»Sagen Sie, sind wir nicht schon irgendwo zusammengetroffen?« sagte endlich der Doktor.
»Nicht daß ich wüßte, Herr Doktor«, antwortete der Miner.
»Nanu, und trotzdem kennen Sie mich?«
»Nun ja«, erwiderte der Mann. »Warum soll ich Sie denn nicht kennen? Wir haben ja die ganze lange Seereise zusammen gemacht.«
»Aha«, lächelte Rascher. »Sie waren im Zwischendeck?«
»Ich war so dumm«, erwiderte der Mann freimütig. »Ich bin in diesem Marterkasten in das verdammte Kalifornien geliefert worden, Passage bezahlt und alles, freier Speck und Erbsenbrühe!«
»Aber hier sind Sie doch hoffentlich für alle Entbehrungen und Beschwerden reichlich entschädigt worden?«
»Wer? Ich? Ich möchte wissen, wo?« brummte der Bursche verdrießlich in den Bart. »Ich wollte nur so viel, daß ich mir den neuen Hof in Hesselbach kaufen konnte. Jetzt rackere ich mich schon fünf Wochen in den Bergen ab, lebe wie ein Hund, arbeite wie ein Pferd und habe noch nicht einmal genug zusammen, um nur die Grenzsteine zu bezahlen. Wenn ich nur die Zeitungsschreiber hier hätte, die ihre verfluchten Lügen in Deutschland verbreitet haben...« In seinem verbissenen Grimm über sein Schicksal schüttelte er die Maschine mit solcher Kraft und Gewalt, als ob er einen der Verantwortlichen am Kragen hätte. Der Doktor lächelte, aber trotzdem tat ihm der Mann leid, der hier mit einem Berg zerstörter Hoffnungen in der Wildnis saß und mit sich, Gott und der Welt grollte. Die Gesellschaft war ihm aber auch nicht besonders angenehm, um sich lange aufzuhalten. Er versuchte deshalb, zunächst den Weg zu erfragen und dann weiterzugehen.
»Kennen Sie sich in der Gegend aus, Freund?« erkundigte er sich nach kurzer Pause.
»Ich? Ich glaube schon«, erwiderte der Mann. »Ich kenne hier jeden Fleck, wo nichts liegt. Sehen Sie, da – dort – da drüben – da oben, diese Löcher habe ich ganz allein gegraben, und Platz genug ist da, daß eine Million hätte drin stecken können.«
»Nein, ich meine in den benachbarten Minen?«
»Was gehen mich die benachbarten Minen an?« knurrte aber der Deutsche, »Ich habe von Kalifornien schon mehr gesehen, als mir lieb ist.«
»Dann können Sie mir also nicht sagen, wo das sogenannte Paradies liegt?«
»Sogenannte Paradies?« wiederholte der Mann und sah den Doktor erstaunt an. Er nahm wohl an, daß der andere ihn aufziehen wollte. »Na, wenn Sie hier in dem vermaledeiten Kalifornien ein Paradies suchen, wünsche ich Ihnen viel Glück. Sollten Sie's aber wirklich finden, lassen Sie's mich bitte wissen, Doktor. Sie brauchen ja nur der Botenfrau ein paar Zeilen mitzugeben. Paradies – ja, schönes Paradies, Eldorado, und wie sie es sonst noch in den Büchern genannt haben. Es soll der Teufel holen, wenn ich erst einmal wieder draußen bin!«
Der Doktor sah ein, daß er von dem Mann, der hartnäckig wie ein Maulwurf das ganze Tal durchwühlt hatte, nichts erfahren konnte. Es interessierte ihn aber doch, wie dieser griesgrämige Geselle hier eigentlich lebte. Er konnte nirgends eine Wohnung, ein Zelt oder eine Hütte entdecken. Dicht neben dem Arbeitsplatz befand sich eine Feuerstelle, bei der ein paar Blechtöpfe und ein kleiner, eiserner Kessel hingen.
»Wo wohnen Sie denn eigentlich?« sagte er endlich. »Verlassen Sie nie den Bach, und bleiben Sie Tag und Nacht hier?«
»Mein Schlafzimmer ist gleich hinter dem Baum«, antwortete der Deutsche, ohne von seinem Sitz aufzustehen. »Wenn Sie es sich einmal ansehen wollen, es lohnt sich wirklich. Es ist nur noch nicht ordentlich eingerichtet.«
Doktor Rascher ging über den Bach auf einem schmalen Damm, sah sich aber auch dort vergeblich nach einem Zelt um und drehte sich deshalb wieder zu dem Mann um.
»Gleich hinter dem Baum, sag ich Ihnen ja«, rief der nur. Der Doktor, der noch ein paar Schritte nach vorn machte, sah sich im nächsten Augenblick der Höhle dieses wild gewordenen deutschen Staatsbürgers gegenüber.
Er hätte den Platz vielleicht selbst jetzt noch übersehen. Der Eingang bestand aus einem etwa 90 Zentimeter großen Loch, über das noch von oben einige Büsche herabhingen. Der sehr primitive Schlafplatz war einfach roh in den Berg gehauen. Rechts und links vom Eingang fielen sofort zwei kleine Holzbrettchen auf. Auf dem einen stand mit Kohle geschrieben: »Hier liegen Selbstschüsse!« und auf dem anderen: »Verbotener Eingang!«
Links davon war der Kleiderschrank. In die Zeder, deren Stamm den Eingang halb verdeckte, hatte der Mann einen Pflock eingeschlagen und daran hing ein früher vielleicht einmal erbsengelb gewesener Mantel mit unzähligen Kragen. Darunter lehnte ein arg verschossener, grüner Baumwollregenschirm lebensmüde mit dem abgebrochenen Griff an der rauhen Rinde.
»Und da wohnen Sie wirklich, Freund?« rief der Doktor, der von der Einfachheit überrascht war.
»Allerdings«, sagte der Deutsche und hielt einen Augenblick mit dem Schaukeln inne, um wieder frische Erde in die Maschine zu schütten. »Wenn Sie näher treten möchten, genieren Sie sich nicht. Das mit den Selbstschüssen ist nur so geschrieben, wenn ich einmal weg bin und so ein verwünschter Indianer spioniert hier herum.«
»Vielen Dank«, sagte aber der Doktor. Nach allem, was er von dem Eigentümer draußen gesehen hatte, verspürte er keine besondere Lust mehr, in dieses Loch zu kriechen. »Wenn Sie aber hier, so ganz allein, einmal krank werden?«
»Ach was«, sagte der Mann. »Ich bin in meinem ganzen Leben nicht krank gewesen, noch nicht einmal seekrank.«
Doktor Rascher konnte sich noch immer nicht über den Burschen und sein Leben beruhigen. Er betrachtete abwechselnd ihn und seine Schlafstätte und schüttelte nachdenklich den Kopf. Da der Deutsche aber keine Notiz mehr von ihm nahm, wollte er sich auch nicht weiter hier aufhalten, sondern Menschen suchen, die ihm bessere Auskunft geben konnten.
»Können Sie mir nicht wenigstens sagen«, wandte er sich deshalb noch einmal an ihn, »wo ich die nächsten Goldgräber oder ein Handelszelt finde?«
»Den Bach hinunter«, war die ganze Antwort, die er erhielt.
»Na, dann leben Sie wohl. Ich wünsche ihnen, daß Sie in Zukunft erfolgreicher sind als bisher.«
»Könnt es gebrauchen«, antwortete der Mann und begann wieder, seine Maschine zu schaukeln.
Wie es ihm der Deutsche geraten hatte, setzte der Doktor seinen Weg am Bach entlang fort. Er vermutete, daß der Mann auch von irgendwo seine Verpflegung beziehen mußte. Nach zwei Stunden gemütlichen Gehens auf einem ziemlich ausgetretenen Pfad erreichte er auch ein kleines Handelszelt. Dort erfuhr er, daß das Paradies noch etwa fünf Meilen entfernt läge und von dem nächsten Bergrücken ein befahrener Weg hinführe. Für heute war es ihm aber zu spät geworden, da er sich auch etwas müde fühlte. Er blieb also die Nacht über bei dem Yankee, der das Handelszelt errichtet hatte. Er erhielt ein sauberes Bett und ein ziemlich gutes Abendbrot. Früh am anderen Morgen brach er dann in die angegebene Richtung auf. Leute traf er sehr wenig unterwegs. Ein paar Karren brachten vom Paradies Lebensmittel in die benachbarten Berge, und ein paar Goldwäscher waren unterwegs, die eben überall umherstreiften. Erst als er annahm, daß er nahe an seinem Ziel war, kamen ihm einzelne Mexikaner zu Pferd und andere in kleinen Gruppen entgegen. – Alle waren bewaffnet und schienen in großer Eile zu sein. Ein paar von ihnen sprach er an, aber sie antworteten nicht und ritten weiter in den Wald. Einige folgten der Straße weiter, andere verschwanden direkt im Dickicht, einem nur ihnen bekannten Ziel zustrebend.
Er war die letzte halbe Stunde ziemlich stark bergan gestiegen. Der hier offene Wald mit wenig Unterholz gab ihm den Blick auf große Entfernung frei. Zu seiner Genugtuung bemerkte er, daß er sich dem Talkessel näherte, in dem das Paradies liegen sollte. Als er den Kamm des Bergrückens erreichte, öffnete sich auch weit vor ihm das reizende Tal. Der Berg, der es an dieser Seite einschloß, war an diesem Hang fast völlig kahl. Nur hier und da standen auf der welligen Oberfläche einzelne, kleinere Büsche. Früher hatte hier auch etwas Baumwuchs gestanden. Teilweise war aber das Holz durch einen Waldbrand vernichtet worden, zum Teil hatten die Goldwäscher die noch gesunden, schlanken Stämme zum Hüttenbau ins Tal geholt. Das übrige frische und trockene Holz wurde dann verfeuert. Jetzt hätte man den ganzen Hang absuchen können, ohne auch nur einen einzigen Arm voll Reisig zu finden. Für die Aussicht zum Paradies war das natürlich ein Vorteil, und von dieser Stelle konnte man besser als woanders das ganze Tal mit den zerstreuten Zelten, Büschen und Bäumen und dem ganzen regen Treiben überblicken. Ganz entzückt von dem Anblick blieb der alte Mann stehen und bemerkte nicht, daß noch ein anderer Wanderer kaum zwanzig Schritt von ihm entfernt auf einem Stein saß. Er hatte eine Doppelflinte auf den Knien und sah still in das unbeschreiblich schöne Panorama hinunter. Erst als sein hinter ihm grasendes Pferd beim Nahen des Maultiers wieherte, sah er ihn sitzen, ohne daß der Fremde die geringste Notiz von ihm genommen hätte.
»Das ist etwas, was ich selbst noch nicht fertigbringe«, dachte der Doktor. »Aber in Kalifornien muß ich es mir wohl angewöhnen, denn es scheint hier so üblich zu sein: daß ich von keinem, der mir begegnet, oder den ich treffe, Notiz nehme. Rede ich jemand an, der nicht irgend etwas von mir will, kann ich zehn zu eins wetten, daß ich gar keine oder eine grobe Antwort bekomme. Sehe ich mir andere Leute an, die nur mit sich selbst beschäftigt durch die Welt ziehen, dann muß ich gestehen, daß sie in diesem Land völlig vernünftig handeln. Ich werde also gleich den Anfang machen und mich an diese neue Lebensregel halten.«
Damit nahm er ohne weiteres auf einem anderen Stein, etwas von dem Fremden entfernt, Platz. So schwer es ihm auch wurde, nicht wieder mit einem treuherzigen ›Guten Morgen!‹ herauszuplatzen, brachte er es doch fertig, so zu tun, als ob sein Nachbar gar nicht da wäre, und sah in das Tal hinaus. Der Anblick fesselte ihn bald so sehr, daß er den anderen wirklich vergaß und sich gar nicht satt sehen konnte. Wohl eine gute halbe Stunde hatte er so gesessen, als plötzlich jemand lachend ausrief:
»Doktor!«
Rasch drehte er sich um und sprang im nächsten Augenblick mit einem erstaunten Ausruf empor.
»Emil – Baron – zum Donnerwetter, woher kommen Sie denn?«
»Von San Francisco, Doktor«, lachte der junge Mann und streckte ihm freundlich die Hand entgegen. »Ich freue mich, daß gerade Sie der erste Bekannte sind, den ich hier treffe, das müssen Sie mir glauben. Aber wollen Sie abreisen?« setzte er fast bestürzt hinzu.
»Abreisen?« fragte der Doktor. »Ich komme eben erst an. Aber das ist gut. Gerade habe ich mir vorgenommen, mit keinem Menschen auf der Straße mehr ein Wort zu reden, und dann sind Sie der erste, bei dem ich das ausprobieren will. Ich habe Sie aber nicht erkannt, wie Sie da im Minerhemd auf dem Stein saßen, hielt ich Sie für einen Franzosen.«
»Sie sind noch gar nicht im Paradies gewesen? Wissen gar nichts von dort?« erkundigte sich der junge Mann.
»Ich weiß, daß dieser vor uns liegende Ort Paradies heißt. Ob er aber eins für uns werden wird, müssen wir erst noch ausprobieren!« sagte der Doktor lächelnd.
Während er sprach, blickte er seinen jungen Freund scharf an. Es konnte ihm nicht entgehen, daß der leicht rot wurde. Vielleicht bemerkte das auch Emil, denn er brach das Gespräch kurz ab und sagte leichtherzig wie vorher:
»Sehen Sie, Doktor, was das für ein wirklich himmlisches Land ist. Und das haben sich nun mit all den unermeßlichen Schätzen, die gleich bar in den Schubladen liegen, diese glücklichen Amerikaner weggeangelt.«
»Es ist ein freundlicher Anblick, das läßt sich nicht leugnen, Baron«, erwiderte der Doktor. »Ich fühle mich aber im Wald und in der reizenden Flora sehr wohl. Jedesmal überkommt mich dann ein unbehagliches Gefühl, wenn ich mich einer solchen Niederlassung nähere. Gold, Gold, und immer nur Gold – man hört kein anderes Wort. Die Menschen denken an nichts anderes und reden deshalb auch über nichts anderes. Die Qualität jeder ausgearbeiteten oder begonnenen Grube wird besprochen, die gefundenen Stücke oder Stückchen werden beschrieben, was der oder der erbeutet, wieviel an einem Tag, wieviel in einer Woche er zusammengehackt und gewaschen hat. Kurz und gut, die Geschichte wird jedem, der nicht selbst bis an die Ohren darin sitzt, so unangenehm, daß er lieber wieder packen und davonlaufen möchte.«
»Ja, lieber Gott, bester Doktor«, sagte der junge Mann, »dafür sind wir nun einmal in Kalifornien. Das ist ungefähr genauso, als ob ich in ein Fischerdorf gehe und nichts von Fischen hören will. Später wird das vielleicht einmal anders, aber jetzt müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind. Was mich selbst betrifft, so muß ich gestehen, daß ich meinen Spaß an diesem unternehmungslustigen Land habe. Und, was noch mehr bedeutet, ich bekomme langsam auch vor der Nation Respekt. Nach dem, was ich früher über die Amerikaner gelesen habe, stellte ich sie mir immer nur als rohes, tabakkauendes, spekulierendes Krämervolk vor. Wenn ich aufrichtig bin, bin ich zu dem Entschluß gekommen, sie genauso vorgefunden zu haben – aber allen Respekt vor den Leuten. Natürlich gibt es Gesindel unter ihnen, vielleicht auch nicht mehr als bei uns in Deutschland, nur daß es hier nicht in so feinen Anzügen herumläuft. Aber es steckt ein Unternehmungsgeist in den Leuten, eine Kraft und Ausdauer und Zähigkeit, ihr einmal angefangenes Unternehmen zu beenden, vor dem man wirklich Respekt haben muß. Ich verlange nicht, daß wir ihr ekliges Tabakkauen nachmachen sollen, aber wenn wir uns ein Beispiel an ihrem Nationalstolz nehmen, dann könnte das für uns ein großer Segen werden. Vielleicht gewinnen wir dabei auch einen Platz, auf dem es bei uns wachsen könnte.«
»Aber es gibt doch auch entsetzlich viel und oft sehr bösartiges Gesindel unter ihnen«, sagte der Doktor. »Das finden wir so nie in Deutschland. Nehmen Sie nur allein die Spieler!«
»Nicht so öffentlich und frech bei uns, da gebe ich Ihnen recht. Aber genauso schlecht im geheimen und damit gefährlicher«, sagte der junge Mann. »Diese Spieler sind der Auswurf der ganzen Nation. Man könnte eigentlich sagen, der Auswurf der ganzen Welt, indische Thugs und italienische Banditen nicht ausgenommen. Übrigens, von diesem Siftly habe ich doch seit diesem Tage nichts mehr gesehen! Er war und blieb spurlos verschwunden. Ich hörte nur einmal, daß er seinem durchgegangenen Kompagnon gefolgt war.«
»Möglich, ich sehne mich nicht nach seiner Bekanntschaft!« sagte der Doktor. »Deshalb wünsche ich auch, daß wir uns nicht wieder begegnen. Aber können Sie mir nicht sagen, weshalb da zwei Flaggen an der hohen Stange wehen?«
»Ja, darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen«, sagte Baron Lanzot. »Soviel ich erkennen kann, scheint die obere die amerikanische zu sein. Aber was die andere bedeutet, kann ich nicht erkennen.«
»Es ist in der Stadt auch ziemlich unruhig, wenn man diese Zeltstraße überhaupt so nennen kann. Ein sehr ruhiges Leben scheinen die Bewohner des Paradieses nicht zu führen.«
»Wer weiß, was sie haben«, sagte Baron Lanzot. »Wie wär's, wenn wir hinabgehen?«
»Sehr gern. Aber was in aller Welt hat Sie, Baron, jetzt in die Minen geführt? Den Titel Emil haben Sie ja hoffentlich in San Francisco zurückgelassen.«
»Der liegt bei den Servietten«, lachte der. »Aber noch früher, schon vor der Abfahrt aus der alten Heimat, habe ich den Barontitel beiseite gelegt. Deshalb, lieber Doktor, bitte ich Sie herzlich, mich nur einfach Lanzot zu nennen. Nur wenn Sie hartnäckig höflich sein wollen, setzen Sie den ›Mister‹ davor.«
»Na gut, Sie haben recht, Mr. Lanzot, oder Lanzot, wenn Sie das lieber hören«, sagte der alte Mann. »Den Rang mußten Sie zurücklassen, als Sie dieses merkwürdige Land betraten, denn Rang ist eine eigene Sache, die nur in der Masse und in der entsprechenden Umgebung wirkt. Ein einzelner Soldat zwischen Bürgern sieht auch komisch aus, und die grell abstechenden Farben wollen dem Auge nicht gefallen. In Reih und Glied macht er sich dafür um so besser. So lassen Sie also den Namen fallen, bis Sie zu Hause wieder einmal in Reih und Glied einrücken. Die Spitzhacke und die Schaufel sind dann auch weniger auffällig.«
»Ach was«, lachte Lanzot. »Die würden weniger gegen den Barontitel abstechen als Serviette und Teller.«
»Das ist allerdings wahr«, sagte der Doktor. »Was Sie nur bewogen haben kann, diesen Broterwerb auch nur für kurze Zeit auszuüben, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Aber Sie haben es jetzt selbst satt bekommen, nicht wahr?«
Wieder war es, als ob der junge Mann leicht rot wurde. Aber lachend antwortete er:
»Satt allerdings, ich habe meinem ›Capitaine‹, Sie kennen ja den kleinen, ausgetrockneten Franzosen, neulich einen Satz Teller vor die Füße und ihn selber über den Tisch geworfen. Anschließend habe ich mich in aller Freundschaft von ihm verabschiedet. Ich bin auch überzeugt, daß wir beide froh waren, endlich voneinander los zu sein. Dann bin ich einfach von San Francisco in die Berge gegangen, um mein Glück zu versuchen. Da ich wußte, daß Sie hier in der Nähe stecken, und weil der Name sehr verlockend in meinen Ohren klang, bin ich hierhergekommen.«
»Also meinetwegen«, lächelte der Doktor vergnügt vor sich hin, als ob ihm etwas anderes durch den Kopf schoß. Ernster, aber immer noch freundlich, setzte er hinzu:
»Nehmen Sie sich aber in acht, lieber Lanzot, und lassen Sie sich die Verbindung mit Monsieur Rigault eine Warnung sein. Solche Verhältnisse passen nicht für Sie, wenigstens nicht für die Zukunft, die auf Sie noch in der Heimat wartet. Denken Sie immer an die, und halten Sie sich stets den Rücken so frei, daß Sie ihren Kompagnon mit gutem Gewissen über einen Tisch werfen können. Mehr muß ich Ihnen ja wohl nicht sagen.«
»Nein, lieber Doktor«, lächelte der junge Mann. »Ich werde an Ihren Rat denken. Aber jetzt wollen wir machen, daß wir in das Tal kommen. Ich habe heute morgen noch nichts gegessen und möchte vor allen Dingen in ein Wirtszelt. Komm, guter, alter Grauschimmel, hier kannst du dich ein paar Tage ausruhen, wenn wir nicht – vielleicht schon morgen wieder weiterziehen. Also vorwärts dann!«
Der Doktor hatte nichts dagegen, und beide Männer nahmen ihre Tiere am Zügel, um mit ihnen in das Tal hinabzusteigen. Mit Ausnahme der Hauptstraße existierten hier keine ordentlichen Wege, und die Karren mußten sich oft ihren Weg durch den Wald erst brechen. Gar nicht selten passierten dabei Unglücke. So fanden auch unsere Wanderer die Trümmer eines kleinen Karrens, der erst vor kurzem verunglückt sein mußte. Das meiste war schon in das Tal gebracht worden, aber das Vorderteil mit einem Rad lag noch dort hinter dem Stumpf eines abgehauenen Stammes. Lanzot ergriff das Rad und drehte sich zu seinem Begleiter.
»Was meinen Sie, Doktor, sollen wir das Ding einmal in Gang bringen?«
»Rollen Sie es nicht weg«, warnte Doktor Rascher. »Der Eigentümer wird sicherlich zurückkommen, um es abzuholen.«
»Dann kommt es ihm vielleicht entgegen«, lachte Lanzot. »Es war überhaupt eine meiner Hauptleidenschaften, Steine einen steilen Hang hinabzurollen. Es sieht herrlich aus, wenn sie ins Tal springen.« Damit gab er dem kleinen Rad einen Schwung und ließ es bergab laufen. Am Anfang rollte es auch ganz prächtig den nicht zu steilen Hang hinab. Durch den wellenförmigen Untergrund kam es aber mehr und mehr in Schwung. Aber statt rechts oder links abzubiegen und sich dann zu überschlagen und liegenzubleiben, sauste es plötzlich in langen und hohen Sätzen ins Tal, sprang über ein paar niedrige Büsche und verschwand hinter ihnen. Die beiden Männer waren von dem unerwarteten Erfolg überrascht stehengeblieben und horchten auf das Poltern des springenden Rades, das noch immer aus der Tiefe zu ihnen herauftönte. Plötzlich gab es einen Schlag, und gleich darauf gellte ein lauter Aufschrei an ihr Ohr.
»Um Gottes willen!« rief Lanzot erschrocken. »Wenn ich mit meiner albernen Spielerei noch ein Unglück angerichtet habe!«
»Das wollen wir nicht hoffen!« sagte der alte Mann bestürzt. »Vielleicht ist nur ein armer Teufel heftig erschrocken. Jedenfalls müssen wir hinunter und nachsehen.«
»Natürlich!« rief der junge Mann rasch. »Ich habe Unsinn gemacht und muß dafür auch büßen. Ein Glück, daß es hier keine Glasgeschäfte gibt, in die das Rad hätte springen können. Für einen Topfmarkt wäre es auch eine Überraschung geworden. Wenn nur kein Mensch zu Schaden gekommen ist!« Ohne noch ein Wort zu wechseln, eilten die beiden hastig den Hang hinab.
An diesem Morgen wollten auch der Justizrat und der Assessor wie gewöhnlich mit ihrer Arbeit am Bergbach beginnen. Schon die Aufregung im Lager ließ sie stutzen. Als sie die Vorbereitungen bemerkten und die Mexikaner mit der Fahne sahen, erhielten sie auch von einem Landsmann, der von den Hügeln kam, die Mitteilung, daß es im Wald nur so von bewaffneten Indianern wimmelte. So beschlossen sie vernünftigerweise, an diesem Tag lieber ruhig in ihrem Zelt zu bleiben und erst einmal abzuwarten, wie sich die Sache erledigen würde. Ihren Händen und Armen schadete es nichts, wenn sie einmal an einem Wochentag rasteten. Der Justizrat drehte ohne weiteres um. Am Zelt angekommen, stopfte er sich seine Pfeife, setzte sich auf seinen gewöhnlichen Platz am Feuer, einen niedrigen Klotz, und lehnte den Rücken an eine junge Eiche.
»Können paar Stück Holz auflegen, Assessor, heute Klöße kochen.«
»Das ist ein guter Gedanke, Herr Justizrat«, rief der gutmütige Assessor. Dann zog er ein schweres Stück Holz in das Feuer, das er gestern mit Mühe aus dem Wald geholt hatte. Der Justizrat rührte keinen Finger, um ihm zu helfen. »Ein ganz hervorragender Gedanke, und wenn wir uns heute ordentlich ausruhen, können wir morgen dafür um so härter arbeiten. So haben wir auch keinen Verlust dabei.«
»Bewahre!« sagte der Justizrat, rauchte noch eine Weile und schlief endlich sanft ein. Der Assessor betrieb mit unermüdlichem Fleiß seine Vorbereitungen für das Mittagessen.
Auch die übrigen Deutschen, Lamberg, Binderhof und Hufner, waren heute im Lager geblieben. Die Bewegung der Indianer hatte ihnen genausowenig gefallen wie dem Justizrat. Trotzdem nahmen die beiden ersten noch Anteil an den Vorgängen im Paradies und interessierten sich für den Erfolg der Amerikaner dieser Menge von Mexikanern gegenüber. Nur an dem Justizrat und dem Assessor gingen die lebendigen Szenen spurlos und vollkommen unbeachtet vorüber. Der Justizrat schlief vollkommen und hörte noch manchmal im halben Traum den Lärm der Gongs und Trommeln und die gellenden Töne des Yankee-doodle, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Ebensowenig beachtete der Assessor das Geschehen, das ihn nach seiner Meinung nicht das Geringste anging. Das war Sache der Beamten. Ja, wäre er selbst hier Assessor gewesen, dann würde er sofort den ganzen Fall untersuchen und protokollieren lassen. Die schuldigen Rädelsführer hätten dann schon gehörig brummen müssen. Aber heute mittag hatte er Klöße zu kochen, mit einem delikaten Stück Rindfleisch dazu, das der Sheriff Mr. Hale selbst gestern geschlachtet hatte. Es lag ihm besonders daran, den Justizrat mit seiner Kochkunst zufriedenzustellen.
Wer sich auch sehr wenig um die Auseinandersetzung kümmerte, war Hufner. Ihm gingen weit wichtigere Dinge im Kopf herum. Heute konnte die Schwiegermutter vielleicht schon den Brief bekommen, und was würde sie sagen? Er hatte schon den Postmann, der einmal im Monat die Post nach San Francisco brachte, entsprechend unterrichtet. Sollte eine Dame fragen, wie es ihm hier oben ginge, sollte er nur sagen: »Ganz entsetzlich schlecht.« Jetzt saß er, heute unbeschäftigt, vor seinem Zelt und wußte nicht, was er anfangen sollte, um seine trüben Gedanken zu verscheuchen. Was die Amerikaner heute für einen Lärm machten, was sie nur trieben, Binderhof und Lamberg waren hinuntergegangen, um sich die Sache mit anzusehen. Er hatte aber andere Dinge im Kopf. Endlich sprang er auf, er hielt es nicht länger aus. Er beschloß, einmal zum Justizrat zu gehen, um ihn und den Assessor um ihre Meinung zu fragen. Sie sollten ihm raten, was er tun sollte, wenn seine Schwiegermutter doch noch hierherkäme. In ihr Zelt konnte er sie doch nicht aufnehmen, Binderhof ließ ihm schon so den ganzen Tag keine Ruhe, und was sollte dann geschehen? Wie war sie zu beschwichtigen?
Der Justizrat schlief noch, und der Assessor traute sich nicht, ihn zu wecken. Er wollte leise an ihm vorübergehen, blieb aber mit dem Fuß in einem Stück Holz hängen und stolperte so, daß der Justizrat erschrocken auffuhr.
»Bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte der Assessor.
Der Justizrat murmelte etwas zwischen den Zähnen, was sein rücksichtsvoller Partner glücklicherweise nicht verstand, dann zog er an der Pfeife. Die war aber schon vor anderthalb Stunden ausgegangen und kalt geworden und mußte wieder frisch angezündet werden. Jetzt machte sich auch Hufner bemerkbar. Nach kurzer Einleitung kam er auf den Zweck seines Besuches. Die Schwiegermutter stand wie ein rächendes Phantom vor seiner Seele, und er war sich doch keiner Schuld bewußt.
»Unsinn«, sagte aber der Justizrat. »Schwiegermutter Pappendeckel, selber herkommen und graben versuchen. Kunst, Gold zu finden. Schwiegermutter ist willkommen, hat vielleicht mehr Glück.«
»Ja, aber denken Sie sich, wenn sie vielleicht wirklich käme!«
»Ja, Herr Justizrat«, stimmte ihm der Assessor bei, der in diesem Augenblick unwillkürlich an Frau Siebert dachte. »Das wäre wirklich schrecklich!«
»Alte Weiber!« brummte jedoch der Mann des Gerichts zwischen einzelnen Dampfwolken durch. »Will nichts wissen davon – Klöße fertig?«
»Jawohl, Herr Justizrat, im Augenblick«, sagte der Assessor, der die größte Mühe mit seiner Brille hatte, die jedesmal anlief, wenn er sich über den dampfenden Kessel bog, um den Inhalt zu überprüfen. Endlich fischte er einen der Klöße mit einem selbstgefertigten Holzlöffel heraus, prüfte ihn, indem er ein Stück abschnitt, und fand ihn vortrefflich.
»Mitessen?« sagte der Justizrat zu Hufner und stellte die ausgerauchte Pfeife zur Seite.
»Herzlichen Dank, mir ist der Appetit vergangen, und ich habe seit der Nachricht keinen Bissen über die Lippen gebracht.«
»Unsinn!« antwortete der lakonisch. »Anfangen, Assessor.« Er nahm den Blechteller, den ihm sein Kompagnon gab, mit der Gabel auf die Knie und sah erwartungsvoll zu dem dampfenden Topf. Der Assessor wollte ihn mit der bloßen Hand vom Feuer nehmen, aber der dünne Drahthenkel war entsetzlich heiß geworden. Er mußte erst ins Zelt, um einen Lappen zu holen. Der Justizrat hätte dafür sein Taschentuch genommen.
»Das da unten ist der neue Alkalde!« sagte in diesem Augenblick Hufner zum Justizrat. »Es sieht so aus, als ob er hier vorbei will. Dann werden Sie ihn deutlich sehen können. Es ist ein Amerikaner, und er soll sehr tüchtig sein.«
»Hm, meinetwegen«, lautete die Antwort des Hungrigen. »Assessor, Donnerwetter, wo bleiben Sie denn?«
»Augenblick!« rief der Assessor. Er kam eifrig mit einem unter seinen Sachen herausgesuchten Wischlappen herbeigelaufen. »Jetzt werden wir gleich sehen, wie sie sich machen, wenn sie nur gar genug sind.«
Er bog sich eben über den Topf, um ihn gut und sicher anfassen zu können, als dicht über ihnen am Berghang ein polterndes Geräusch laut wurde. Alle sahen unwillkürlich hinauf. Hufner und der Assessor behielten aber kaum Zeit, aus dem Weg zu springen. Da kam das Rad herunter, prallte an einem Stein ab, beschrieb einen kurzen Bogen und schlug pfeifend vor Kraft und Schnelle mitten auf den Kessel.
Einen Augenblick war alles verwirrt. Der Assessor schrie laut auf, der Justizrat sprang in die Höhe und ließ Gabel und Teller fallen, und im Feuer zischte die heiße Brühe und warf Funken, Rauch und Asche hoch in die Luft. Das Rad hatte jetzt eine andere Richtung bekommen, schnellte sich noch einmal nach vorn, drehte sich, überschlug sich seitlich mehrfach und rollte dann langsam dicht an dem Alkalden vorbei, bis es von einem kleinen, struppigen Busch aufgefangen wurde und liegenblieb. Hetson befand sich nicht gerade in der Stimmung, über etwas zu lachen. Trotzdem war die ganze Szene mit dem wie aus den Wolken gefallenen Rad so komisch, daß er ein Lächeln kaum unterdrücken konnte. Er stieg ein paar Schritte bergan, um zu sehen, ob noch jemand zu Schaden gekommen wäre. Er hatte den Justizrat und Hufner, beide Kajütpassagiere der ›Leontine‹, erkannt und wußte, daß Hufner etwas Englisch sprach. Er fand Hufner und den Assessor sprachlos vor Schreck vor den Trümmern ihres Mittagessens und den Justizrat im höchsten Grad der Entrüstung. Er stieß dabei eine Menge abgebrochener, selbst seinen Landsleuten unverständlicher Verwünschungen aus. Hetsons scharfe Augen entdeckten am Waldrand nirgends einen Menschen. Er schloß daraus, daß der Schaden nur durch einen Zufall und nicht böswillig verursacht worden sei. Das versuchte er dem Justizrat begreiflich zu machen, aber lieber Gott – er hätte ebensogut zum Rad selbst reden können. Der Mann hörte und sah nichts, er stampfte mit den Füßen, warf mit den Händen um sich, und nur einzelne Worte wie: »Kriminalprozeß«, »Klöße«, »Halunken«, »Kalifornien« und »aufhängen« ließen sich unterscheiden.
Hetson wollte auch gerade aufgeben, sich verständlich zu machen und ihn austoben zu lassen, als er zwei Männer den Hang hinabkommen sah, die ihre Lasttiere am Zaum führten. In ihnen vermutete er die Urheber des Unglücks. Da er eine heftige Szene zwischen den Parteien verhindern wollte, blieb er stehen, um sie zu erwarten. Kaum waren sie aber etwas näher gekommen, als er in dem einen seinen alten Freund, Doktor Rascher, erkannte und ihm mit einem Jubelruf entgegeneilte.
»Doktor!« rief er dabei und streckte die Hand aus. »Sie sendet mir in diesem Augenblick der Himmel. Ich weiß nicht, wessen Gesicht ich gerade jetzt lieber sehen möchte als Ihres!«
»Lieber Mr. Hetson«, rief der alte Mann ebenso freudig aus, »es tut meinen alten Augen wohl, Sie so gesund und frisch zu sehen. Nur sehr blaß sind Sie noch, entsetzlich blaß, die Bergluft hat noch nicht lange genug auf Sie einwirken können. Aber bald werde ich ja wohl sehen, daß Sie vollkommen hergestellt sind.«
»Doktor, ich muß Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«
»Sofort, ich stehe zu Ihren Diensten. Ihre Frau ist doch wohl munter und gesund?«
»Vollkommen.«
»Gott sei Dank! Dann möchte ich Ihnen vor allen Dingen einen lieben Freund, den Baron von... Ja, so, den Mr. Lanzot vorstellen. Er führt sich nicht gerade auf die beste Weise bei Ihnen ein, denn ich sehe, daß sein mutwillig bergab gerolltes Rad Verwirrung angerichtet hat. Doch hoffentlich nicht in Ihrem Zelt?«
»Nein«, lächelte Hetson. »Aber es sind Schiffsgefährten von uns, denen Sie das Mittagessen verdorben haben. Unter anderem auch dieser komische Kauz mit der langen Pfeife, den sie Jus – wie war der Name gleich, justice?«
»Oh, der Justizrat«, lachte der Doktor. »Wir müssen versuchen, ihn zu besänftigen, was ja wohl nicht so schwer werden wird. Lieber Lanzot, ich habe das Vergnügen, Ihnen hier Mr. Hetson vorzustellen. Sie erinnern sich, daß wir über ihn und seine nette Frau sprachen, als ich ihr damals die junge Spanierin als Begleiterin empfahl.«
»Mr. Hetson«, sagte der junge Mann und verbeugte sich leicht. Dabei schoß ihm wieder das Blut in den Kopf. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen und bedaure, daß es auf diese Weise geschieht.«
»Sie werden sich wohl mit Ihren Landsleuten deswegen verständigen können«, sagte freundlich der Amerikaner. »Darf ich Sie bitten, lieber Doktor?«
»Sie scheinen in Eile zu sein, aber erst müssen wir doch hier die Sache regulieren. Mir als altem Schiffskameraden und sonst ruhigem, gesetztem Mann werden sie wohl leichter glauben, daß die Ursache für das Unglück kein bösartiger Mutwille war. Wir sind ja gern bereit, jeden erlittenen Schaden zu ersetzen.«
Hetson mußte sich fügen, und die Männer stiegen jetzt gemeinsam zu dem empörten Justizrat hinunter. Der war zuerst nicht einmal bereit, den ruhigen Erklärungen des alten Doktors zuzuhören. Er wollte die Sache unbedingt zu einem »Kriminalprozeß« treiben. Die Erklärung, den angerichteten Schaden zu ersetzen, machte ihn dabei noch böser. Erst als er sich in seinem Grimm eine frische Pfeife gestopft hatte, schien sich sein Ärger etwas zu legen. Das Mittagessen war total in die Asche gefallen, und es gab keine Möglichkeit, auch nur einen Teil zu retten. Der Assessor versprach in seiner unverwüstlichen Gutmütigkeit, sofort für etwas anderes zu sorgen. Hufner lief fort, um für den zerstörten Kessel einen neuen zu holen, und der Justizrat wurde endlich dazu gebracht, dem jungen Lanzot die Hand zu geben.
»Schön – Dummheiten – Rad bergunter rollen«, sagte er dabei. »Beinah Pfeife zerbrochen – verdammtes Kalifornien.« Als die drei sie verlassen wollten, setzte er hinzu: »Maulaffe – Kessel zerbrochen – Hand schütteln – Tür hinauswerfen« – und qualmte stärker als je zuvor.