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11. Ein Abend im Paradies

Die neu angekommenen Deutschen waren inzwischen in dem kleinen Zeltstädtchen herumgeschlendert, ohne sich viel um die erwähnten Ereignisse zu kümmern. Sie verstanden ja auch die spanische Sprache gar nicht, die englische nur wenig und wußten deshalb nicht, was dort verhandelt wurde. Sie hatten nur ihre Freude an den beiden wilden Mädchen. Wie fest die auf ihren Pferden saßen und wie keck sie über gefällte Baumstämme und selbst ausgeworfene Gruben hinwegsetzten!

Aber auch das fesselte ihre Aufmerksamkeit nur kurze Zeit. Hauptsächlich wollten sie Landsleute finden, die sich hier auskannten und von denen sie Einzelheiten über die Minen, die Art der Arbeit und besonders den Gewinn erfahren konnten. Mit einem Wort verlangten sie jetzt an Ort und Stelle sehnsüchtig nach der Bestätigung ihrer wilden, goldenen Träume. Ehe sie die nicht erhielten, fühlten sie sich auch nicht behaglich.

Endlich ging die Sonne unter. Von allen Seiten kamen die Goldwäscher von der Arbeit und sammelten sich teilweise um die Feuer vor ihren eigenen Zelten, um ihr Abendbrot zu bereiten. Andere gingen gleich in die verschiedenen Trink- und Eßbuden, um dort ihre Mahlzeit zu halten.

Von unseren Freunden Lamberg, Binderhof und dem Justizrat hätte nun eigentlich einer ›nach Haus‹ gemußt, um den armen Hufner abzulösen, der gern ebenfalls etwas von dem neuen Minerleben zu sehen wünschte. Daran dachte aber keiner von ihnen. Hufner saß da oben gut, und morgen bekam er Zeit genug, um einen Spaziergang durch die Stadt zu machen.

Lamberg und Binderhof gingen zusammen, weil der Justizrat Binderhof nicht leiden konnte. Sie waren vor einem der auch hier schon etablierten Spielzelte stehengeblieben, als sie sich angesprochen fühlten.

»How d'you do miteinander«, sagte ein Bursche. Er trug ein rotes Wollhemd und hatte eine abgegriffene Mütze fast ganz auf dem rechten Ohr sitzen. Beide Hände steckten fest in den von einem Fettrand umzogenen Hosentaschen.

»Hallo«, sagte Lamberg. »Wen haben wir da? Einen Landsmann? Woher, Kamerad?«

»Leipzig«, antwortete der Deutsche, dessen dickes, rotes Gesicht sich zu einer Art Lächeln zusammenzog. Schon das eine singend gezogene Wort verriet den Sachsen.

Binderhof, der aus besseren Verhältnissen stammte, maß den unsauber aussehenden Gesellen von Kopf bis Fuß und schien keine besondere Lust zu haben, sich mit ihm einzulassen. Der praktischere Lamberg konnte sich besser in die hiesigen Verhältnisse versetzen. Erkundigungen mußten sie ohnehin einziehen, und was von dem einen nicht herauszubekommen war, ließ sich vielleicht der andere im Gespräch entschlüpfen – nämlich die Andeutung, wo es eine gute Stelle zum Goldwaschen gab.

»So? Von Leipzig also? Schon eine Weile hier in den Minen?«

»Yes!« sagte der Sachse so breit wie möglich.

»Und was gefunden?«

Der Deutsche hob die Achseln so hoch, daß sie ihm bis an die Ohrläppchen stießen. »Faul!« war das einzige Wort, das er sprach.

»Faul?« rief aber jetzt auch Binderhof, mit dessen Hoffnungen diese Auskunft keineswegs übereinstimmte. »Warum nennt man dann diese Minen reich? Und den Ort das Paradies?«

»Die store keepers werden reich, yes«, sagte der Leipziger. »Aber die miners, die in der Erde worken und mit ihren cradlen schukklen, blasen Trübsal! Puh – Namen! Solche Orte nennt man so, um viel people herzukriegen!«

»Mein Gott, spricht der ein Deutsch!« flüsterte Binderhof seinem Kameraden zu. »Verstehen Sie, was er sagt?«

»Zum Teil«, lachte der. »Darf ich Ihren Namen wissen?«

»Erbe – Louis Erbe!«

»Ah, sehr gut, Herr Erbe, dann können Sie uns vielleicht auch Auskunft geben, ob es hier noch andere Deutsche gibt und wo wir die finden können.«

»Oh, lots!« sagte Erbe.

»Was meinen Sie?«

»Nun, lots, eine ganze Menge, Deutsche gibt's every where hier oben.«

»Das wäre prima«, sagte Lamberg. »Wo könnte ich wohl einige von ihnen treffen? Haben Sie nicht eine Art Casino hier, einen Sommerklub, wo sie abends zusammenkommen? Im Belvedère oder irgendwo anders?«

»Stopp, Doktor, das reicht!« sagte Erbe trocken. »So Dinger, wie Sie da nennen, haben wir hier nicht, aber in dem Zelt von dem Frenchman da oben können Sie die meisten nach Dunkelwerden catchen.«

»Was?« sagte Binderhof erstaunt.

»Na, catchen, mein ich, antreffen, Herr Jäses, verstehen Sie denn kein Deutsch mehr?«

»Vortrefflich, lieber Freund«, rief aber Lamberg, dem der Mann Spaß machte. »Wären Sie da wohl so freundlich, uns hinzuführen, wenn Sie Zeit haben? Wenn Sie jetzt noch nicht dort sind, können wir wenigstens warten und vielleicht ein Glas zusammen trinken. Wir sind erst heute nachmittag hier eingetroffen und möchten wenigstens soviel wie möglich von unseren Landsleuten kennenlernen.«

»Nicht die geringste objection«, entgegnete Erbe. Er hielt jede weitere Erklärung für überflüssig, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte langsam die Straße hinauf, ohne sich nach den beiden umzudrehen.

»Das ist ein origineller Kauz«, lachte Lamberg leise, als sie ihm folgten.

»Wenn der Kerl nur nicht so schmierig aussehen würde!« sagte Binderhof.

»Du liebe Güte!« antwortete Lamberg. »Glacéhandschuhe werden die Leute hier in den Minen nicht oft tragen!«

»Wer weiß, ob der nicht sogar welche anhat? Ich habe seine Hände nämlich noch nicht gesehen. Fast glaube ich, er hat sie in den Hosentaschen festgenäht. Der wird uns in eine schöne Kneipe führen!«

Zu weiteren Betrachtungen blieb ihnen keine Zeit, denn Erbe hatte in diesem Augenblick einen Bretterverschlag erreicht, der durch den Vorbau eines blauen Zeltes noch etwas vergrößert war. Am Eingang drehte er sich kurz um, um zu sehen, ob die beiden folgten. Dann verschwand er im Inneren.

Draußen im Freien hatten sie noch einen matten Dämmerschein gehabt. Hier im Inneren brannte aber schon Licht – einzelne Kerzen auf Blechleuchten – die den Raum nur notdürftig erhellen konnten. Für die Umgebung genügte aber die Beleuchtung.

Im Hintergrund stand ein langer, etwa meterhoher Schanktisch mit einer Tafel aus gehobelten Brettern. Bezogen war er mit dem gleichen blauen Stoff, aus dem ein Teil des ganzen Gebäudes hergestellt war. Hinter dem Schanktisch standen auf einem Bretterverschlag eine Anzahl verschiedener Flaschen. Dazwischen fehlte nicht einmal Champagner in einer bleiverschlossenen Flasche. Tische und Bänke waren aus Zedernholz und lagen auf Pfählen, die man in den Boden gerammt hatte – zur Bequemlichkeit der Gäste.

Einige hatten sich auch schon eingefunden, obwohl die Mehrzahl wohl noch beim Essen war und erst später kam. Lamberg und Binderhof staunten nicht schlecht, als sie an einem der Tische in aller Ruhe den Justizrat sitzen sahen. Vor ihm stand eine Flasche Rotwein, und er schien sich so behaglich zu fühlen wie noch nie auf der ganzen Reise. Nur als er Binderhof erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht etwas und verschwand gleich darauf hinter einer undurchdringlichen Dampfwolke, die er von sich blies. Binderhof entging er aber dadurch nicht.

»Donnerwetter, Justizrat!« rief er ihn an. »Auch schon vor Anker gegangen? Ich dachte, Sie wollten Herrn Hufner oben ablösen, der noch immer beim Zelt als Wache steht!«

Diese Bemerkung war überflüssig, er bekam keine Antwort. Nur zu Lamberg wandte sich der Justizrat aus seiner Qualmwolke heraus:

»Famoser Wein – Flasche zweieinhalb Dollar, setzen sich hierher, Lamberg!« Er hatte Angst, daß Binderhof sonst an seine Seite kam. »Sind auch noch ein paar Landsleute hier... sehr gefreut – Donnerwetter, ist ganz hübsch in Kalifornien.«

Lamberg warf einen flüchtigen Blick auf die Flasche. Es fehlte erst etwa ein Glas, der Justizrat war also schon mindestens bei der zweiten. Lamberg wich aber nie einem vergnügten Abend aus. Den ersten Tag in den Minen hielt er für einen guten Grund, die Gelegenheit feierlich zu begehen. Der Justizrat war heute gesprächiger als sonst und stellte ihm noch zwei weitere Deutsche vor, die ebenfalls an dem Tisch saßen.

»Da, Lamberg – noch Landsleute. Herr Fischer aus Hamburg und Herr Korbel aus Meißen. Kollege von mir, der Herr Korbel, hm, hm.« Dabei hustete er kräftig. » Aktuar. Hat sein Gehalt, zwei Taler Federgeld, im Stich gelassen und nach Kalifornien gegangen. Leichtsinniger Mensch der, hm, hm, hm!«

Lamberg schüttelte den beiden zur Begrüßung die Hände. Fischer sah ihm über die Schulter und bemerkte Erbe, dem er zurief:

»Hallo, Doktor, auch da? Na, wie geht's, wo sind Sie denn die letzten Tage gewesen?«

»Umgesehen!« sagte Erbe, ohne auch nur seine Hände zu bewegen. Er hob das rechte Bein über die Bank, zog das linke nach und setzte sich gemütlich dicht neben den Justizrat.

»Doktor?« rief Lamberg erstaunt und nahm jetzt ihm gegenüber neben Fischer Platz. »Sind Sie Arzt?«

»Barbier!« antwortete aber Erbe und warf dabei einen flüchtigen Blick zu der noch fast vollen Flasche seines Nachbars. »Hier in den Minen callen sie mich aber Doktor.«

Der Wirt, ein Elsässer, war an den Tisch getreten, um die Wünsche seiner Gäste aufzunehmen. Der Justizrat musterte dabei etwas mißtrauisch seinen Nachbarn.

»Schönes Land hier, wie?« nahm der Aktuar das Gespräch wieder auf. »Wirklich ein italienisches Klima. Läßt sich alles gut an, der Herr Justizrat wird sich freuen, wenn er erst einmal einen Blick in dieses Leben tut.«

»Na, wissen Sie, Herr Korbel, jeder managt, so gut er eben kann«, sagte da Erbe, nahm eines der auf den Tisch gestellten Gläser und schob es neben die Flasche des Justizrates. »Und sonst können wir immer noch ganz satisfied sein, und ich denke, daß es wohl noch schlechtere gibt.«

Der Justizrat sah seinen Nachbarn immer erstaunter an, und zwar wegen des vorgeschobenen Glases, nicht wegen der fremden Worte. Fischer befreite ihn aber aus der Lage, indem er aus seiner eigenen Flasche Erbe einschenkte. Darauf zog der seine rechte Hand aus der Tasche, trank das Glas in einem Zug leer und schob die Hand dann an die alte Stelle zurück.

»Und wie sieht's hier aus in den Minen? Was zu machen?« sagte jetzt Lamberg, der ebenfalls eine Flasche bestellt hatte und Binderhof einschenkte.

»Wie's kommt«, sagte der Aktuar. »Wenn Sie eine gute Stelle finden, kann es gut gehen, denn es liegt grobes Gold in der Nachbarschaft. Man kann aber auch lange herumgraben und waschen, ehe man was Gescheites findet.«

»Apropos waschen!« sagte der Justizrat, den das Gold noch wenig interessierte. Sie waren ja nun in den Minen, und wenn es hier nicht lag, wo sollte es sonst sein? »Können Sie mir nicht Waschfrau empfehlen? Muß Sachen abgeben!«

»Waschfrau, Herr Justizrat?« lachte Fischer. »Na, warum nicht? Wir haben hier alles, es sieht nur etwas anders aus als bei uns zu Hause. Wenn Sie etwas waschen lassen wollen, dann fragen Sie morgen nach Old Tomlins – in jedem Zelt wird man Ihnen den Weg zeigen. Dort wird alles erledigt.«

»Danke!« sagte der Justizrat und schenkte sein Glas wieder voll, ohne jedoch das seines Nachbarn zu berücksichtigen.

»Aber es gibt doch bestimmt viele hier, die bedeutende Mengen Gold finden!« fuhr Lamberg fort, dem die gleichgültige Antwort über die Minen nicht recht behagte.

»Allerdings«, sagte Fischer. »Die Chinesen, die gleich unter der Flat arbeiten, sollen hervorragende Funde haben. Weiter oben haben auch Mexikaner schönes Gold gefunden. Auch in der Flat sind ein paar gute Plätze, aber Zufall bleibt es immer.«

»Ich will Ihnen etwas sagen«, nahm da Erbe das Wort. Er warf so begehrliche Blicke zu seinem leeren Glas hinüber, daß Lamberg diesmal nicht anders konnte und dem Wink folgte. Er hoffte doch auch, von dem Burschen, der sich wahrscheinlich schon eine ganze Weile in den Minen herumtrieb, etwas Ausführlicheres zu erfahren. Erbe tat, als bemerkte er es gar nicht, trank aber dann das eingeschenkte Glas sofort wieder aus und fuhr dann fort: »Unten in der Gulch, wie man den Bergbach nennt, ist das Gold feiner, aber mehr. Hier oben ist es viel grobkörniger. Und nun können Sie anfangen, wo Sie wollen.«

»So?« sagte Binderhof lachend. »Na, jetzt wissen wir es. Lamberg, das Glas des Doktors ist wieder leer.«

Lamberg tat, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. Erbe schien aber den Erfolg nicht abwarten zu wollen. Erst als nichts weiter geschah, setzte er hinzu:

»Ja, und die ganze Golddiggerei kann ich Ihnen auch in wenigen Worten schildern. Sehen Sie, erst suchen Sie sich einen claim und graben ein hole, so tief, bis Sie auf den clay oder auf den ledge kommen. Well, und wenn Sie da sind, dann fangen Sie an zu cradlen. Finden Sie clay und gracel zusammen, um so besser, da steckt gewöhnlich was. Liegt der bloße ledge da, ist es meistens faul. Wo Sie anfangen wollen, ist ganz egal. Die ganze Geschichte ist Glückssache. Morgen früh schultern Sie Ihre Picke und crowbar, Ihren Spaten und eine Pfanne, die cradle können Sie nach dem dinner hinunterbringen, und dann diggen Sie ein, wo Sie gerade eine notion kriegen.«

»Eine was?« fuhr der Justizrat erstaunt auf und sah seinen Nachbarn ganz verwundert an.

»Wo Sie gerade glauben, daß ein passender Platz ist«, ergänzte Fischer, der sich an Erbes Erklärung und den verblüfften Gesichtern der Neueingewanderten ergötzte.

»Der Doktor hat seinen eigenen Dialekt, eine Art Rezeptsprache, an die Sie sich wohl erst noch gewöhnen müssen. Übrigens werden Sie alle diese Ausdrücke, wie ledge – Felsen, gravel – Kies, clay – Ton oder Lehm, und wie sie alle heißen, noch bis zum Überdruß kennenlernen. Der Doktor hat jedoch recht, einen Platz angeben kann Ihnen niemand. Denn wenn einer von uns eine Stelle wüßte, wo wirklich genug Gold läge, um eine reiche Ausbeute zu liefern, ginge er natürlich selber hin. Etwas Gold finden Sie überall, nur ob es die Arbeit bezahlt, ist die Frage. Jetzt tun Sie mir aber den Gefallen und lassen Sie uns von diesem verdammten Thema schweigen. Gold! Gold! Ewig Gold! Man hört hier nichts weiter den ganzen Tag in diesen nichtswürdigen Diggins, und ich versichere Ihnen, daß das Wort mir schon widerlich geworden ist.«

»Hallo, da kommt Johnny!« rief auf einmal der Aktuar und deutete auf den Eingang. Als alle sich umdrehten, kam eine so merkwürdige Persönlichkeit in die Tür, wie sie wirklich nur in diesem merkwürdigsten von allen Ländern ausgebrütet werden konnte.

Es war ein kleiner, hagerer Bursche, zwischen sechsundzwanzig und sechsunddreißig Jahren. Das Alter ließ sich nicht genau bestimmen, da er sein Gesicht in Falten zog und außerdem in den letzten acht Tagen wohl kaum mit Wasser in Berührung gekommen war. Er trug eine kurze, graue Baumwolljacke und eine Baumwollhose, die durch den langen Gebrauch schon sehr abgenutzt war. Seine Füße steckten ohne Strümpfe in den Schuhen. Eigentümlich war aber auch sein Hut. Es handelte sich um einen ganz gewöhnlichen, einmal schwarz gewesenen Filzhut mit breiter Krempe. An drei Seiten war der Rand nach oben geschlagen und festgenäht, und die eine Ecke wurde noch durch eine alte Bronzebrosche mit einem großen, blauen Glasstein geschmückt.

Die ganze Gestalt war kaum größer als 1,50 Meter. Das Gesicht in finstere, ernste Falten gelegt, trat er auf die Deutschen zu, als er sie am Tisch erblickte. Etwa drei Schritt vor ihnen blieb er stehen, schlug dabei die Arme über der Brust zusammen und sagte:

»So ist das Volk! Lebt in den Tag hinein, unbekümmert, was die nächste Stunde bringt, und unheildrohend hängt schon die Gewitterwolke über ihrem Kopf, um die Ahnungslosen zu verderben!«

»Meine Güte!« rief Binderhof erstaunt und verblüfft aus und drehte sich zu der Erscheinung um. »Wo ist der nun wieder ausgebrochen? Lamberg«, flüsterte er dann seinem Nachbarn zu, »wenn ich wieder nach Hause reise, lasse ich mir den und den Doktor abwaschen und ausstopfen und nehme sie für unser Museum mit!«

»Na, Napoleon!« sagte Fischer gutmütig. »Laß deine Schrullen und setz dich hier zu uns. Hier sind neue Landsleute eingetroffen, gib Pfötchen und sag ihnen guten Abend!«

»Ein schlechtes Willkommen gebe ich Ihnen in den Minen!« erwiderte der Mann mit den untergeschlagenen Armen. Dabei ließ er seine Augen, die unter den zusammengezogenen Brauen fast verschwanden, über die einzelnen Gäste schweifen. »Es wäre besser für sie, wenn sie das Land nie gesehen hätten!«

»Donnerwetter, was ist nun los?« sagte der Justizrat bestürzt und fuhr halb von seinem Sitz auf.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, beschwichtigte ihn aber Fischer. »Dies hier ist Napoleon, Johnny Napoleon, der manchmal ganz verrückte Einfälle hat. Wer weiß, was ihm heute wieder durch den Kopf geschossen ist!«

»Ich will dir was sagen, Fischer«, brach da Johnny plötzlich ab. Er ließ die Arme sinken und sprach völlig natürlich. »Mach erst mal Platz, daß ich da mit hin kann, und dann schenk mir ein Glas Wein ein, denn ich habe furchtbaren Durst. Zuletzt bitte ich dich dringend, nichts zu beurteilen, was du nicht verstehst. Guten Abend, meine Herren«, wandte er sich dann mit einer formellen Verbeugung an die übrigen Gäste, warf ein Bein über die Bank, um neben dem zur Seite rückenden Fischer Platz zu nehmen.

Fischer betrachtete ihn bei dieser Bewegung, bei der er ihm den Rücken zudrehte, lächelnd und sagte dann, als er ihm das Glas füllte:

»Johnny, Johnny, nimm dich in acht, du hast heute deinen Kragen wieder verkehrt geknöpft!«

»Fischer!« erwiderte Johnny ernst. »Guten Abend, Doktor – laß mich mit solchen Lappalien zufrieden.«

»Da hast du das richtige Wort getroffen, Johnny«, lachte der andere. »Aber was gibt's denn wieder? Ist etwas vorgefallen?«

»Etwas?« rief Johnny und drehte sich feierlich zu ihm um. »Ein ganzer Haufen, wie der Doktor sagen würde.«

»Na, dann schieß mal los!« sagte Fischer. »Aber erst muß ich dich hier unseren Landsleuten vorstellen. Also, meine Herren, dies ist der große Goldwäscher Jean Stülbéng, eigentlich Johnny Stuhlbein, gewöhnlich Johnny genannt oder wegen seiner enormen Ähnlichkeit mit dem auf St. Helena verstorbenen Kaiser Napoleon genannt. Er ist marchand tailleur, zweiunddreißig Jahre alt, vollständig ausgewachsen und wurde vor etwa vier Monaten von uns am Mormongulch lebendig eingefangen. Jetzt scheint er völlig zahm zu sein, ißt von einem Teller, trinkt aus einem Glas und hat sogar, trotz eines früheren Aufenthaltes in Frankreich, seine Muttersprache zum Teil wiedergelernt.«

»Bist du nun fertig?« sagte Johnny, der dieser Vorstellung zugehört hatte, ohne eine Miene seines ernsten Gesichtes zu verziehen.

»Vollkommen, Johnny.«

»Gut, dann erlaubst du wohl, daß ich auch etwas zu meiner Rechtfertigung sage. Herr Wirt! Bitte, bringen Sie uns doch drei Flaschen Champagner! Ich habe...«

»Bravo, Johnny!« rief Fischer lachend. »Das war schon vollkommen ausreichend und eine der besten Reden, die du je im Leben gehalten hast. Du brauchst jetzt kein Wort weiter zu sagen.«

»Bitte, unterbrach mich nicht. Ich muß leider gleich zu Beginn bei unseren neuen Landsleuten ein Vorurteil beseitigen, weil sie mich in solcher Gesellschaft antreffen. Ich hoffe aber, daß eine nähere Bekanntschaft das ändern wird und uns alle im richtigen Licht erscheinen läßt. Jetzt aber, Fischer, sei doch so gut und öffne eine von den Flaschen...«

»Mit dem größten Vergnügen, Johnny!«

»Zugleich aber«, fuhr Johnny fort, »habe ich Ihnen allen eine ernste Nachricht zu bringen, die Sie hoffentlich aus Ihrer Ruhe und Selbsttäuschung aufrütteln wird. Die Legislatur von Kalifornien hat nämlich ein Gesetz erlassen, nach dem alle Fremden in den Minen, d. h. alle Goldwäscher, denn die Händler sind ausgenommen, eine Gebühr von zwanzig Dollar bezahlen sollen!«

»Unsinn!« riefen die Deutschen, und Fischer und Korbel sprangen von ihren Sitzen auf. »Das ist ja nicht möglich!«

»Was gibt's?« riefen einige Franzosen, die an einem anderen Tisch saßen und wohl merkten, daß eine unschöne Neuigkeit mitgeteilt wurde. Der Wirt, der am Tisch stehengeblieben war, übersetzte ihnen auch die Nachricht, und ein einziger Schrei der Entrüstung lief durch das ganze Zelt. Nur die Neuangekommenen blieben ziemlich ruhig, weil sie die ganze Tragweite dieses unerwarteten Gesetzes noch nicht begreifen konnten.

Johnny drehte sich auf seiner Bank halb um und sprach so teilweise zu den Franzosen, teilweise zu den Deutschen. In einer verzweifelten Mischung aus Deutsch und Französisch begann er beiden Nationalitäten die eben durch einen direkt von San Francisco kommenden Amerikaner erhaltene Nachricht auseinanderzusetzen. Dabei sprach er seinen festen Entschluß aus, lieber zu sterben, als diese enorme Taxe zu bezahlen.

Alle Anwesenden im Zelt waren in helle Aufregung versetzt. Andere, jetzt eintretende Franzosen bestätigten die Nachricht. Es gab keinen Zweifel mehr, daß man den Fremden zugunsten der Amerikaner eine Last aufbürden wollte, die sie nicht tragen wollten. Die heißblütigen Franzosen machten auch schon allerlei Pläne, wie sie die Fremden um ihre Fahne vereinen konnten und den Amerikanern Widerstand leisten wollten. Das Resultat war im Augenblick nur für den Wirt günstig, weil die Leute in ihrer Aufregung Flasche auf Flasche forderten.

Immer mehr Gäste hatten sich versammelt, meistens Franzosen, die zusammen an den Tischen saßen und lebhaft über das neue Gesetz sprachen. Aber auch zwei Deutsche waren neu dazugekommen. Mit einem kurzen, aber höflichen »Guten Abend!« setzten sie sich zu ihren Landsleuten.

Einer von ihnen war noch ein junger Mann mit dunklen, gelockten Haaren. Auch er trug ein rotes Minerhemd, darunter offensichtlich aber noch ein anderes, schneeweiß und aus feinem Leinen. Auch seine Hose war nach neuestem Schnitt und aus feinem Stoff, wenn sie auch hier und da durch Dornen oder scharfe Steine beschädigt war. Ein Brillantring an seinem Finger paßte aber nicht zu der ganzen übrigen Umgebung und verriet, daß der Träger eigentlich zu einer besseren Gesellschaft gehörte.

Die Erscheinung des anderen war in dieser Umgebung noch auffallender. So wie man in einer europäischen Abendgesellschaft erstaunt gewesen wäre, wenn jemand nur im Hemd hereingekommen wäre, so auffallend war es hier, wenn zwischen den rauhen Goldgräbergestalten einer war, der kein buntes Baumwollhemd trug, sondern einen schwarzen Frack, einen runden, hohen Hut und dazu – Glacéhandschuhe.

Selbst dem Justizrat fiel das auf, obwohl er sonst solche Sachen völlig übersah. Er drehte sich von dem Mann ab, zu seinem rechten Nachbarn, und wollte sich nach der ungewöhnlichen Erscheinung erkundigen. Hier sah er aber in Erbes dickes, vom Champagnergenuß strahlendes Gesicht und – gab jede weitere Frage in diese Richtung auf. Neben seinen Nachbarn, dem Aktuar gegenüber, hatte sich der Fremde gesetzt. So mußte er seine Neugierde für den Augenblick unbefriedigt lassen.

»Ah, Sie haben Champagner!« lachte der junge Mann im roten Hemd. Er hing seinen Strohhut an eine der Zeltstützen, drehte seinen leichten, dunklen Schnurrbart ein wenig höher und nahm dann an dem Tisch Platz. »Johnny hat bestimmt wieder seinen spendablen Tag. Herr Wirt, für mich auch eine Flasche!«

»Halt!« rief da Johnny und streckte den Arm aus. »Sie müssen mit uns trinken, Graf Beckdorf!«

»Vielen Dank«, lachte der. »Heute abend habe ich schon bestellt, ein anderes Mal!«

»Graf Beckdorf?« flüsterte der Justizrat erstaunt Erbe zu. Der aber hörte die Bemerkung nicht, sondern betrachtete mit breitem Grinsen den Mann im schwarzen Frack, der eben einen feingestrickten Wollschal vom Hals wickelte. Dann bog er sich zu ihm über den Tisch und sagte:

»Sie haben wohl einen cold gecatcht, Mister Bu... Bubli... – wie heißen Sie gleich?«

»Bublioni«, lachte der Mann im Frack, der Erbe schon kannte, und hustete leicht hinter der vorgehaltenen Hand. »Nein, Doktor, ich trage den Schal nur, damit ich keinen ›cold catche‹, wie Sie sagen. Wo haben Sie eigentlich Ihr prächtiges Deutsch gelernt?«

»Ich? In Leipzig, wo sonst?«

»Und sagt man da cold catchen, anstatt erkälten?«

»Na, of course... oder eigentlich in die States, aber das ist ja alles a like, Sie wissen ja doch, was ich meine.«

»Jawohl, lieber Doktor, jawohl!«

Binderhof und Lamberg waren inzwischen mit Korbel in ein Gespräch über die Minenarbeit vertieft. Von dem Wein erhitzt, wurde die Unterhaltung bald laut und lebhaft. Je weiter der Abend vorrückte, desto mehr Gäste versammelten sich, und die Tische waren fast vollständig besetzt. Da kamen noch zwei Deutsche herein, und zwar ein kleiner Bursche mit einem riesigen, feuerroten Bart und einer viereckigen Pelzmütze. Das war der Apotheker Kulitz. Hinter ihm kam der Mann mit den großen Wasserstiefeln, der heute morgen dicht vor der Flat das junge Eselfüllen erschossen hatte.

»Guten Abend, Kulitz, wie geht's?« rief ihm Fischer entgegen. »Hierher, Mann, Sie kommen gerade rechtzeitig, um noch ein Glas Sprühgeist mitzutrinken. Wen haben Sie denn da, einen frischen Landsmann?«

»Ja, einen Schiffsgefährten«, sagte Kulitz und lächelte etwas verlegen. »Er war einige Zeit in San Francisco und will jetzt auch sein Glück in den Minen versuchen.«

»Dann soll er sich aber eine andere Gesellschaft suchen als unsere!« rief Binderhof und stand von seiner Bank auf. Die anderen sahen ihn erstaunt an.

»Donnerwetter, ja!« rief jetzt auch der Justizrat. »Ist ja der gleiche Kerl, der heute Schläge bekommen hat! Der Kutscher!«

»Ach, laßt die alte Geschichte!« sagte Lamberg dazwischen. »Jeder soll vor seiner Türe fegen, was geht uns das an?«

»Was das uns angeht?« rief aber Binderhof. »Das geht mich so viel an, daß ich wenigstens mit dem Lump nicht an einem Tisch sitzen will!«

»Hallo, was ist denn da passiert?« riefen die Deutschen durcheinander. Der mit den Wasserstiefeln wartete aber eine weitere Erklärung nicht ab. »Geht zum Teufel!« brummte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zelt. Binderhof erzählte jetzt mit kurzen Worten den heutigen Vorfall und die gemeine Grausamkeit des Mannes.

»Der Lump!« schrie da Fischer und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser in die Höhe sprangen. »Und der wagt es, noch zu Landsleuten in ein Zelt zu treten? Ein Hundsfott, wer mit dem Kerl umgeht, und man sollte einen solchen Schuft für vogelfrei erklären!«

»Nanu«, sagte Erbe, der sich alles nicht so schwarz vorstellen mochte. »Was ist denn da nu weiter, wenn er auch einen Esel gekilled hat?«

»Herr Erbe, wenn Sie sich mit ihm einlassen«, rief aber Fischer noch in gerechter Entrüstung über die rohe Tat, »dann war dies das letzte Glas, das Sie mit uns getrunken haben, darauf können Sie sich verlassen.«

Erbe schüttelte verwundert den Kopf, sagte aber kein Wort weiter, denn die Drohung war zu deutlich gewesen. Er wollte sich nicht weiter zur Verteidigung eines wildfremden Menschen auslassen.

Der einzige, der bei diesem Empfang des Fremden und der ganzen Aufregung vollkommen seine Ruhe behielt, war gerade der, der ihn als Bekannten vorgestellt hatte – der Apotheker Kulitz. Als ob ihn das alles nichts anginge, nahm er Platz, bestellte ein Glas Likör, holte dazu eine Tafel Schokolade und ein Stück Käse aus seiner Tasche und verknusperte beides, ohne nur ein Wort zu reden.

Zu dem Wirt trat inzwischen ein langer Amerikaner, ließ sich ein Glas Brandy und Wasser geben und flüsterte dann mit dem Wirt.

Der verstand wohl etwas Englisch, schien aber auf dessen Mitteilungen nicht eingehen zu wollen. Endlich zuckte er die Achseln und sagte:

»Meinetwegen, wenn Sie spielen wollen, habe ich nichts dagegen. Dort an dem Tisch ist noch eine Ecke frei.«

»Vielen Dank!« sagte der Amerikaner, drehte sich ab und ging zu dem Tisch. Mit einem höflichen Gruß setzte er sich bei den Deutschen hin.

»Hol's der Teufel«, flüsterte da Fischer dem neben ihm sitzenden Graf Beckdorf zu. »Das ist der Halunke, der neulich den Indianer verwundet oder sogar umgebracht hat, und hinter dem der Häuptling heute her war. Einer dieser nichtsnutzigen, betrügerischen amerikanischen Spieler – was will der an unserem Tisch?«

»Gentlemen«, wandte sich der Amerikaner an die Gruppe. »Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir doch ein Spielchen machen? Die Abende sind lang, und man weiß wirklich oft nicht, wie man die Zeit totschlagen soll, denn im Dunkeln läßt sich nun leider kein Gold waschen.«

Mit diesen Worten nahm er ein Spiel spanischer Karten aus seiner Tasche, legte sie vor sich hin und hob dann einen ziemlich gewichtigen Beutel auf den Tisch.

»Ah, jetzt kommt Leben in die Sache!« sagte Johnny, der keine Karte sehen konnte, ohne sofort den Spielteufel zu fühlen.

»Das bezweifle ich, Napoleon«, sagte Fischer ruhig. »Denn wenn du dein Geld den Betrügern in den Rachen werfen willst, dann mußt du wahrscheinlich woanders hingehen.«

»Woandershin? Und weshalb?« rief der Kleine. »Hier ist alles fix und fertig, und jetzt sollt ihr einmal sehen, wie ich dem Herrn da die Unzen aus dem Beutel ziehe.«

»Das sieht vielleicht ganz hübsch aus, Johnny«, erwiderte Fischer. »Aber wenn die anderen meiner Meinung sind, dann dulden wir hier kein Spiel. Ich denke, die Franzosen da drüben haben dieselbe Ansicht.«

»Hinaus mit dem Spieler!« rief auch Graf Beckdorf. »Diese Pest des Landes soll da bleiben. wo sie hingehört – bei den Amerikanern!«

Fischer hatte einige Worte mit dem nächsten Franzosen gewechselt. Diese stimmten ihm lebhaft zu. In diesem Zelt sollte nicht gespielt werden. Da gleich mehrere von ihnen aufstanden, glaubte Mr. Smith wahrscheinlich, daß sie jetzt zu ihm kommen und mitspielen wollten. Lächelnd mischte er seine Karten, ließ sie ein paarmal durch die Hände gleiten und schob dann das Spiel zu Erbe hinüber.

»Be so kind to cut, Sir – seien Sie so freundlich und heben Sie ab!«

»Cut yourself!« antwortete ihm aber Erbe, ohne seine Hände aus den Taschen zu ziehen. Seine Antwort war sehr doppeldeutig, denn ›to cut‹ heißt sowohl ›abheben‹ wie auch im Slang ›machen, daß man fortkommt‹ oder ›sich drücken‹.

Fischer ließ sich nicht weiter mit dem Spieler ein, sondern ging zum Wirt. Von den Franzosen unterstützt, sprach er ihren festen Entschluß aus, daß sie alle das Zelt verlassen und nicht wiederkommen würden, wenn er es zu einer Spielhölle machen würde. Der Wirt hätte es vielleicht ganz gern gesehen, wenn in seinem Zelt manchmal gespielt wurde, denn die Leute blieben so bis in die Nacht hinein sitzen und tranken mehr. Seine Gäste wollte er damit aber auch nicht vertreiben und ging deshalb zu dem Amerikaner, um ihm den Entschluß der Gäste mitzuteilen.

»Mister, die Herren wollen nicht spielen, packen Sie Ihre Karten wieder ein.«

»Wollen nicht spielen?« sagte Johnny auf englisch. Er dachte gar nicht daran, seine Aussicht auf Gewinn aufzugeben. »Wer sagt das, Bockfeld? Natürlich will ich spielen!«

»Wer nicht spielen will, läßt es bleiben!« sagte der Amerikaner lächelnd und nickte Johnny zu. »Wir beide fangen inzwischen an. Hier, Sir, liegt die Drei und das As, hier fünf und neun – auf welche?«

»Es soll hier in diesem Zelt nicht gespielt werden, Sir!« mischte sich Fischer in das Gespräch. »Ich glaube, das war deutlich genug. Sie haben doch wohl verstanden?«

»Ist das Ihr Zelt, Sir?« erkundigte sich der Amerikaner trotzig.

»Die Sache geht dich gar nichts an, Fischer«, rief auch Johnny.

»Halt 's Maul, Napoleon!« sagte Fischer ganz ruhig. »Du bist überstimmt und kannst nichts machen. Das ist allerdings nicht mein Zelt, aber es gehört dem Mann, der Ihnen eben gesagt hat, daß hier nicht gespielt werden soll. Also seien Sie so gut und packen Sie Ihre Lockvögel wieder ein. Wir Ausländer haben mehr Verstand, als uns damit fangen zu lassen.«

»Sie sind der Dolmetscher von heute, nicht wahr?« sagte der Amerikaner und maß ihn mit einem boshaften Blick von oben bis unten.

»Ja, allerdings«, antwortete Fischer. »Wenn wir hier Recht und Gerechtigkeit in den Minen hätten oder einen anderen Richter als diesen Holzkopf von Major, so würden Sie jetzt fest im Eisen sitzen, anstatt hier mit einem Goldbeutel herumzulaufen.«

»Das ist Ihre Meinung von der Sache?« lachte der Amerikaner. »Schade, daß Sie nicht Alkalde sind!«

»Für Leute Ihres Schlages ein Glück«, brummte der Deutsche. »Und jetzt sind Sie so gut und räumen den Tisch hier. Wir brauchen den Platz für eine ehrlichere Unterhaltung – für Flaschen und Gläser.«

»Sir!« rief der Amerikaner mit kaum unterdrückter Wut.

»Weg mit den Karten – fort mit dem Gold!« schrien ihn aber auch jetzt die anderen Franzosen und Deutschen an. Johnny wollte noch einen letzten Versuch unternehmen und sprang mit dem Ruf »Messieurs – Messieurs!« auf die Bank. Lachend und schreiend wurde er aber wieder heruntergezogen. Die Leute drängten sich jetzt so nahe um den Tisch, auf dem der Goldsack stand, daß es der Amerikaner doch für geraten hielt, sich zurückzuziehen. Er schob rasch die schon ausgebreiteten Karten zusammen und in seine Tasche, raffte seinen Beutel wieder auf und sagte:

»Gentlemen, ich will Ihnen dann nicht länger im Wege sein. Freuen Sie sich noch über die kurze Zeit, die man Ihnen erlaubt, in Kalifornien zu bleiben. Es wird ja nicht mehr so lange dauern.«

»Versucht's, uns hinauszutreiben!« rief einer der Franzosen, der Englisch verstand und sich zu ihm durchdrängen wollte. Die anderen hielten ihn aber zurück.

»Laß den Lump laufen, er ist ärgerlich, weil wir ihn heimschicken!«

Der Wirt hatte das größte Interesse daran, daß in seinem Zelt keine Gewalttätigkeiten ausbrachen, und sprang ebenfalls dazwischen. Er bat den Amerikaner, sich keinen weiteren Unannehmlichkeiten auszusetzen. Mr. Smith war auch keineswegs dazu geneigt. Als er den Eingang frei sah, schob er sein Gold unter den Arm und verließ rasch das Zelt.

Damit war aber Johnny noch nicht zufriedengestellt.

»Messieurs!« schrie er, sprang auf die Bank und drehte seinen Hut auf dem Kopf so weit herum, daß die Brosche mit dem blauen Stein hinten saß. »Wir sind hier in einem freien Land, wo jeder treiben kann, was er will und wozu er Lust hat!«

»Jawohl, Johnny – natürlich Napoleon!« sagte ein Teil der Leute lachend.

»Messieurs!« fuhr aber Johnny erbittert fort. »Sie haben den Mann hinausgejagt, mit dem ich spielen wollte, dazu haben Sie kein Recht. Dieses Zelt ist ein Wirtshaus, daran bin ich Miteigentümer, solange ich meine Zeche bezahle, und wer mir in meine Rechte greift, greift mir an mein Leben, und das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.«

»Bravo, Johnny, bravo!« rief und lachte es von mehreren Seiten.

»Messieurs!« schrie aber der kleine Bursche, der dadurch nur noch erboster wurde. »Ich schüttele den Staub von meinen Füßen und werde nie an den Ort zurückkehren, wo ich mißhandelt worden bin.«

Damit fuhr der dreieckige Hut wieder herum, Johnny sprang von der Bank herunter und wollte ohne Abschied das Zelt verlassen. Der Wirt und Fischer versuchten, ihn zurückzuhalten, aber der kleine Bursche war ganz außer sich, riß sich von ihnen los und stürmte hinaus ins Freie.

Durch diesen Zwischenfall war die Gesellschaft in allgemeine Verwirrung geraten und selbst der Justizrat von seinem Platz aufgestanden. Nur Erbe blieb unbekümmert von dem ihn umwogenden Sturm ruhig sitzen. Er war sogar so zerstreut, daß er sich aus der Flasche seines Nachbarn ein Glas füllte und dann wieder, wie gewöhnlich, auf einen Zug leerte.

»Ach, lieber Herr Justizrat!« flüsterte da Korbel und faßte den würdigen Mann vertraulich unter den Arm. »Ich möchte Sie um etwas bitten.«

»Jawohl, recht gern!« erwiderte der, mit dem eben erlangten Resultat außerordentlich zufrieden und guter Laune. »Erst, bitte, antworten Sie mal Frage.«

»Sehr gern.«

»Wer ist der... der Herr da im Frack? Komische Idee das – hier in den Minen Frack.«

»Oh, das ist ein Tenor aus Deutschland«, lachte der Aktuar. »Er scheint seinen Urlaub verlängert zu haben, um mal in aller Geschwindigkeit in den Minen ein paar tausend Dollar auszugraben.«

»Tenor? Alle Wetter«, sagte der Justizrat erstaunt. »Hätte zu Hause bleiben sollen. Tenöre verdienen viel Geld bei uns – kriegen soviel wie Minister.«

»Ja nun«, sagte der Aktuar. »Es wird wohl keiner von den allerersten sein – nehme ich an. Aber, um was ich Sie bitten wollte. Ich bekomme heftige Zahnschmerzen und will lieber nach Hause gehen, habe aber ganz in Gedanken meinen Geldbeutel im Zelt liegengelassen. Sind Sie so freundlich und borgen mir bis morgen früh eine halbe Unze, um damit meine Zeche zu bezahlen?«

»Halbe Unze?« sagte der Justizrat, dem das etwas viel vorkommen mochte. »Sind acht Dollar!«

»Ja, bloß acht Dollar«, sagte der Aktuar. »Ich möchte aber nicht gern, ohne zu bezahlen, gehen. Nur bis morgen früh, wenn ich bitten darf.«

»Hm ja... jawohl... mit... mit Vergnügen!« erwiderte der Justizrat, zu gutmütig, um die Bitte abzuschlagen. Es war ja auch nur bis morgen früh. Er griff deshalb in die Westentasche und gab dem Aktuar einen zur Vorsicht in Papier gewickelten ›halben Adler‹, wie man ein Fünfdollarstück nannte, und drei einzelne Silberdollar, die der einfach in die Tasche steckte.

»Danke schön, Herr Justizrat«, sagte er dabei. »Morgen habe ich sicher das Vergnügen, Sie wiederzusehen, und dann mache ich es mit Dank gut.«

»Bitte, gar keine Eile...«, brummte der Justizrat, während sich der Aktuar zu dem Wirt hindurchdrängte, mit ihm ein paar Worte flüsterte und dann rasch das Zelt verließ. Fast unwillkürlich war ihm der Justizrat mit den Augen gefolgt, nicht aus Mißtrauen, sondern aus Neugierde, um zu sehen, wie der junge Mann seine Zeche bezahlte. Er sah aber nichts Derartiges. Hatte er ihm das Geld vielleicht heimlich in die Hand gedrückt? Andere drängten sich jetzt zwischen ihn und den Wirt, und nur die Deutschen nahmen größtenteils wieder ihre Sitze ein.

»Kommen Sie, Herr Justizrat«, rief ihn da Fischer an. »Setzen Sie sich noch etwas zu uns.«

»Vielen Dank für heute. Müssen mich entschuldigen... verdammt Kopfweh... früh zu Bett gehen.«

»Bett? Glücklicher Mensch, hat der ein Bett?« rief Fischer. »Aber bleiben Sie nur da, wir singen jetzt noch ein paar Lieder. Können Sie mit anstimmen, Herr Binderhof?«

»Wenn ein zweiter Tenor fehlt...«

»Ah, herrlich, der fehlt immer, einen ersten haben wir schon, und für den zweiten Baß – Donnerwetter, wo ist denn der Komet hin? Ist der durchgebrannt?«

»Der Komet?« sagte Lamberg lachend. »Wen nennen Sie denn so?«

»Na, unseren Gerichtsmann, den Aktuar. In allen Minenstädten geht er nach einer Weile durch und hinterläßt einen ganzen Schwanz Schulden, deshalb hat er den Namen Komet bekommen. Was dem wohl heute durch den Kopf gegangen ist? Ob seine Zeit hier vielleicht auch schon um ist?«

»Vielleicht ist er mit Johnny zum Spielen gegangen!« sagte Graf Beckdorf.

»Ach was, dazu hat er kein Geld«, lachte Fischer. »Ja, wenn ihm noch jemand borgen würde, aber selbst Johnny hütet sich vor ihm!«

»Wohnt weit weg von hier?« sagte der Justizrat, dem die eben gehörten Neuigkeiten nicht gerade angenehm waren.

»Gar nicht, etwa fünfzig Schritt von hier steht das Zelt, wo er mit dem Apotheker Kulitz schläft. Donnerwetter, Kulitz, bei der wievielten Tafel Schokolade sind Sie jetzt eigentlich? Sie müssen ja eine ganze Kiste davon mitgebracht haben! – Also, Sie wollen wirklich nicht länger bleiben, Justizrat?«

»Danke – Hause gehn!« sagte der und trat zu dem Wirt. Er bezahlte seine Zeche, grüßte noch einmal im Vorbeigehen seine Landsleute durch ein einfaches Nicken, nahm die Mütze zu den Franzosen hin ab und verließ dann das Zelt, um sein eigenes Lager aufzusuchen.

Nun fehlte aber dem Justizrat der Orientierungssinn völlig. Er hatte auch jetzt keine bestimmte Vorstellung, in welcher Richtung sein Zelt eigentlich lag. Er wußte nur, daß sie es einige hundert Schritt von der ›Stadt‹ entfernt auf einem kleinen Hügel errichtet hatten. Vollständig unbekümmert schlenderte er die Straße aufwärts, statt abwärts, zwischen den noch meist beleuchteten Zelten hindurch.

Komet! Der Name gefiel ihm nicht, und er fühlte etwas Besorgnis für seine leichtsinnig geopferte halbe Unze. Der arme Teufel hatte doch aber fest versprochen, morgen früh zu zahlen, und lag jetzt sicher mit heftigen Zahnschmerzen in seinem Zelt.

Unterwegs kam er an einer Trink- und Spielbude vorbei. Sie unterschied sich höchstens durch die Größe von den übrigen Wohnungen. Außerdem hing aber noch an dem vordersten Mittelpfosten, der das Zeltdach trug, ein obszönes Bild, das von einer Lampe hell beleuchtet wurde. Es erfüllte völlig seinen Zweck. Anständige Leute wollte man dort gar nicht haben, sondern nur solche, die dort spielten und tranken, und die freuten sich wohl auch noch über eine solche Sudelei.

Der Justizrat hatte nur einen flüchtigen Blick im Vorübergehen hineingeworfen, als er glaubte, die Stimme des Deutschen Johnny zu hören. Wahrscheinlich war der dem Spieler gefolgt und verlor hier sein Geld – oder gewann er vielleicht? Der Justizrat war neugierig geworden und wollte sich selbst überzeugen.

»Sauvolk!« brummte er vor sich hin, als er an dem Bild vorüberging. Mit einiger Mühe mußte er sich dann durch die Menschen drängen, die müßig herumstanden, um einen Blick in das Innere zu bekommen.

Vier Tische standen hier, an denen gespielt wurde. An einem saß sogar eine Frau, eine jener mexikanischen Dirnen, die sich schon hier und da in den Minen herumtrieben und von irgendeinem der Spieler als Lockvogel bezahlt wurden. Der Blick des Justizrates wurde aber von dem linken Tisch gefesselt. Dort erkannte er nämlich den langen Amerikaner und Johnny. Und hinter Johnny stand – der Komet!

»Donnerwetter!« murmelte der Justizrat leise vor sich hin. »Dachte, hätte Zahnschmerzen.«

Johnny hatte ein rotes, erhitztes Gesicht und sah starr auf die Karten vor sich. Korbel, der im Augenblick nicht spielte, überflog ein paarmal die Umstehenden und war auf einmal spurlos, wie in den Boden hinein, verschwunden. Hatte er den Justizrat vielleicht erkannt? Der wußte es nicht, blieb eine Viertelstunde auf seiner Stelle stehen und ging dann durch das ganze Zelt, ohne den Kometen wiederzuentdecken. Er war fort und ließ sich nicht wieder blicken.

Dieses kleine Intermezzo verbesserte natürlich nicht die Laune des Justizrates. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß er jetzt mit zu dem Schweif des Kometen gehörte und vielleicht als Stern dritter oder vierter Größe darin prangte. Im Moment ließ sich aber doch nichts weiter tun, und er beschloß deshalb, jetzt so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren und morgen auf Rückgabe des Geldes zu drängen oder – mit dem Gericht zu drohen.

Rasch setzte er seinen Weg auf der Zeltstraße fort, die hier an ihrem Ende viel stiller und öder wurde. Die Spiel- und Trinkzelte lagen fast alle in der Mitte der Straße, und die meisten Händler und Goldwäscher hatten schon ihr Lager aufgesucht und die Lampen verlöscht. Hier mußte nach rechts der Hügel liegen, und der Justizrat bog dahin ein. Der Boden wollte aber nicht höher werden, und hier und da stolperte er sogar über einige aufgeworfene Erdhaufen. Ohne das matte Sternenlicht wäre er beinahe auch in eine der ziemlich tiefen Gruben gestürzt. Hier draußen war es auch still und öde, und dem etwas ängstlichen Justizrat wurde es unheimlich. Er war aber immer noch der festen Meinung, daß ihr Zelt hier in der Gegend war, und wollte nicht in die Stadt zurückkehren. Jetzt entdeckte er, etwa hundert Schritt weiter voraus, ein Lagerfeuer. Dort wollte er Erkundigungen einziehen.

Dorthin zu gelangen war immer noch mit einigen Schwierigkeiten verbunden, denn überall hatten die Goldwäscher versucht, Gold zu finden. Deshalb waren überall tiefe Löcher gegraben und dann der Platz wieder aufgegeben. Vorsichtig untersuchte er Schritt für Schritt den Boden und kam langsam dem Feuer näher, bis er eine davor auf und ab gehende Gestalt erkennen konnte. Es sah beinahe so aus, als ob da eine Wache stände. Trotzdem kam der Justizrat vollkommen unbemerkt an den Mann heran und sagte, als er vielleicht noch zwei Schritt von ihm entfernt war:

»Guten Abend! Können Sie...«

»Halt! Wer da?« schrie plötzlich der Posten mit lauter, fast kreischender Stimme und prallte ein paar Schritte zurück. Der Justizrat hörte ein doppeltes Knacken, als ob Gewehrhähne gespannt wurden.

»Na, beruhigen Sie sich!« sagte er abwehrend. »Setzen Sie verdammtes Gewehr ab. Gut Freund, wollte ich sagen!«

»Na ja, das is nicht übel«, sagte die Schildwache mit echt preußischem Dialekt. »Kommt der da bei Nacht und Nebel herangeschlichen wie eine Schlange, und dann sagt er ›Jut Freund‹!«

»Was gibt's, Schildwache?« rief da vom Feuer eine feine Stimme wie die eines kleinen Jungen.

»Ein Deutscher!« erwiderte die Wache, das Gewehr noch immer im Anschlag, »der an mich anjekrochen ist und ›jut Freund‹ sagt.«

»Festnehmen und ins Hauptquartier bringen«, lautete die Antwort.

»Stehenbleiben, oder ich schieße!« drohte deshalb die Wache und setzte dazu: »Gefangener vortreten! Achtung! Vorwärts – marsch – linke Schulter vor! Halt!«

»Aber Donnerwetter«, fluchte der Justizrat, der sich aus Furcht vor dem auf ihn gerichteten Gewehr dem Befehl ohne Widerrede unterzog. »Ich will ja nur...«

»Maul halten!« herrschte ihn aber der Posten an, ein kleiner, untersetzter Bursche mit dunkler Jacke und einem weißen Gürtel um die Taille. »Hier ist ein Graben – nüber springen – eins – zwei – drei!«

»Aber ich will ja nur...«

»Eins!« zählte der Posten noch einmal barsch und hob das Gewehr an die Wange. »Zwei...«

Der Justizrat machte einen Satz über den Graben und hielt sich drüben mit Händen und Füßen fest. Inzwischen hatte man trockenes Holz auf das Feuer geworfen und beleuchtete den Platz hell. Der Gefangene sah, daß er sich vor einer frisch aufgeworfenen Schanze befand, um die sich noch ein drei Fuß breiter Graben schlängelte. Die Erde aus dem Graben hatte man gleich für den Wall benutzt, in dessen innerem Baum sich ein einzelnes, weißes Zelt befand. Vor dem Zelt war das Feuer, an dem der Justizrat noch vier Bewaffnete erkennen konnte.

»Hinaufklettern!« lautete jetzt der Befehl der Wache. Noch immer hatte sie das Gewehr im Anschlag. »Eins!«

»Drei Teufels Namen!« schrie der Justizrat, jetzt ärgerlich gemacht. »Komme ja schon, jetzt hab ich meinen Pfeifenkopf verloren.«

»Zwei!«

»Verfluchter Kerl!« brummte er zwischen den Zähnen hindurch. Das angelegte Gewehr machte ihn aber behende. Mit einem wirklich verzweifelten Satz schwang er sich auf den Rand des Dammes und sah sich hier einem wirklichen Riesen gegenüber, der ihn ebenfalls mit dem Gewehr im Anschlag erwartete.

»Juten Abend!« sagte der Riese, und der Justizrat erkannte, daß die helle Stimme ihm gehörte. »Was wollen Sie hier eigentlich bei Nacht und Nebel?«

»Ich?« rief der Gefangene ärgerlich, denn ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß er hier wohl nichts zu befürchten hatte. »Kuriose Frage – fragen Sie Ihre Wache! Eins, zwei, drei! Auch Manier, auf Leute mit Gewehr zu zielen?«

»Die Wache hat nur ihre Pflicht getan«, sagte der Riese trocken, ebenfalls im preußischen Dialekt. »Zu wem wollen Sie?«

»In mein Zelt«, antwortete der Justizrat. »Dunkelheit verlaufen – weiß der Teufel, wo ich bin.«

»Wo steht Ihr Zelt?«

»Wenn ich's wüßte, wäre ich nicht hier«, brummte der Gefangene. »Heute erst gekommen.«

»Heute? So? Schultze!« sagte der Riese.

»Hier!« rief einer der Kleinen in seiner Begleitung.

»Vortreten.«

Schultze kam mit geschultertem Gewehr und zwei langen Schritten heran und stand stramm.

»Schultze, du bis heute auf Kundschaft ausgesandt jewesen. Weißt du, ob heute Landsleute hier eingetroffen sind?«

»Ja«, sagte Schultze. »Vier Stück, ein Stück und drei Stück.«

»Wir sind vier!« rief der Justizrat rasch.

»Wo steht das Zelt?«

»Auf der anderen Seite von 's Paradies, etwa zweihundert Schritt entfernt auf einem kleinen Hügel.«

»Auf der anderen Seite der Stadt?« rief der Justizrat. »Das ist ja gar nicht möglich!«

»Schultze, abtreten!« sagte der Riese lakonisch. Schultze machte rechtsum kehrt, ging zwei Schritte und stand dann wieder ›in Front‹.

Der Anführer sagte: »Sein Sie jetzt nun so jefällig und jehn Sie man den Weg wieder zurück, den Sie jekommen sind, dann werden Sie wohl Ihr Zelt finden.«

»Hm, hm, hm!« brummte der Justizrat vor sich hin und schüttelte den Kopf. Er konnte sich noch gar nicht denken, daß er sich am verkehrten Ende aufhielt. »Und auch noch Pfeifenkopf verloren!«

»Wo?« fragte der Anführer.

»Hier im Graben!«

»Schultze, vortreten! Nimm einmal einen Lichtstummel und such den Pfeifenkopf des Herrn!«

»Danke schön – guten Abend!«

»Juten Abend! Jewehr bei Fuß! Aus-einander!«

Die Garnison löste sich auf, während der Justizrat wieder in den Graben hinunterkletterte. Den weißen Pfeifenkopf fand er sofort und steckte ihn an.

»Haben Sie ihn?«

»Ja – danke – gute Nacht!«

»Schön Dank, mein Herr!«

»Gute Nacht, Wache!«

»Jute Nacht – halt – Parole!«

»Ach, geh zum Teufel!« sagte der Justizrat ärgerlich, warf einen wütenden Blick auf das Lager zurück und tappte jetzt wieder durch Nacht und Nebel den wenigen noch hellen Zelten der Stadt zu. Diesmal fand er auch seinen Weg und erreichte endlich, todmüde von der ungewohnten Anstrengung und Aufregung, sein Zelt. Es war aber auch inzwischen spät geworden, und die übrige Gesellschaft hatte bereits ihr Lager aufgesucht. Selbst Hufner schlief. Als der Verirrte aber in das Zelt hineintappte, dessen innere Einrichtung er noch nicht kannte, rief ihn Binderhof an:

»Sind Sie das, Justizrat?«

»Ja, wo ist mein Bett?«

»Ei, ei, ei, Justizrätchen«, sagte aber der Lange und drehte sich auf seinem Lager um, ohne die Frage zu beantworten. »Sie heimlicher Nachtschwärmer, Sie! Drückt sich weg und sagt, er will schlafen gehen, und schleicht in der Dunkelheit in der Stadt umher. Justizrätchen, Justizrätchen, bei Ihrer Jugend den Verführungen eines solchen Ortes nachzugeben...«

»Ach, Dummheiten! Wo ist mein Bett?«

»Ja, Dummheiten«, fuhr der unverwüstliche Binderhof fort. »Wer weiß, welches verliebte Abenteuer Sie inzwischen bestanden haben!«

»Gehn Sie zum Teufel! Wo ist mein Bett?«

»Warten Sie, Herr Justizrat«, sagte jetzt der munter gewordene Hufner, während Binderhof lachte. »Ich werde Ihnen gleich Licht machen.« Dabei suchte er im Dunklen nach den Streichhölzern, die er endlich fand und eins anzündete.

»Morgen müssen Sie uns aber die Geschichte erzählen, Justizrat«, sagte Binderhof.

Der Justizrat murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen hindurch. Dann zog er seine Stiefel und seine Jacke aus und kroch auf sein Lager, daß ihm Hufner ordentlich hergerichtet hatte.

»Soll ich das Licht wieder ausblasen, Herr Justizrat?«

»Wenn Sie nicht noch im Bett lesen wollen, Herr Hufner!« antwortete statt dessen Binderhof.

»Unausstehlicher Mensch!« murmelte der Justizrat.

Das Licht verlöschte, und wenige Minuten später lagen alle Bewohner des Zeltes in süßem Schlummer.


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