Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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9.

Ein Abend in der Colonie.

Das war ein Leben und Treiben heute in dem sonst so stillen Städtchen, daß man es kaum wieder erkannte, und das Wirthshaus »Zum Hoffnungsanker« hatte, so lange der Ort stand, noch keine so guten Geschäfte gemacht. War es doch auch bis unter das Dach hinauf von Gästen angefüllt, die auf Matratzen, Decken, Stroh, oder wie es eben ging, untergebracht werden mußten, während fast alle männlichen Bewohner von Santa Clara hier ebenfalls zusammenkamen, um die Neuangekommenen zu sehen und zu sprechen, und vielleicht auch frische Nachrichten von daheim – das heißt aus ihrem Dorfe zu hören, denn was wirklich deutsche Nachrichten und besonders deutsche Politik betraf, kümmerte die Wenigsten der Colonisten.

Viele waren allerdings schon seit Jahren ausgewandert und den politischen Verhältnissen daheim, die sie selbst an Ort und Stelle nicht verstanden, so entfremdet worden, daß sie kaum noch die geographischen Namen der verschiedenen Staaten kannten. Aber selbst erst kürzlich Herübergekommene fragten nicht nach dem, was Preußen oder Oesterreich, oder was irgend ein Theil Deutschlands treibe – das war deren Sache und sie mochten es mit einander ausmachen – sondern nur aus welcher Gegend Der oder Jener sei und ob daheim Der oder Jener noch lebe und nicht Lust habe, nach Brasilien zu kommen.

Außerdem wollten sich die Leute aber auch gern einmal einen sogenannten ›fidelen Abend‹ machen, und da der Wirth Christian Bohlos einen ziemlich geräumigen Schuppen an sein Haus gebaut und mit Dielen hatte belegen lassen, ja auch in diesem Schuppen ein hölzernes Gerüst für ein Musikcorps angebracht war, so verstand es sich von selbst, daß heut Abend ebenfalls getanzt wurde.

Das beste Musikcorps der Stadt wurde dazu bestellt – denn es gab deren zwei – und daß sich das andere darüber zurückgesetzt fühlte und erklärte, das sogenannte beste Musikcorps könne gar nicht spielen und vollführe eine wahre Heidenmusik – blieb sich gleich.

Schon mit Dunkelwerden sammelten sich die Gäste – auf acht Uhr Abends waren nach stillschweigendem Uebereinkommen die Frauen angesagt, denn die Kinder mußten erst zu Bett gebracht werden – und bis dahin gingen Flasche und Krug lustig im Kreise. – Aber nicht etwa das dünne brasilianische Bier wurde getrunken, das ein Deutscher sogar in Santa Clara braute, obgleich das besonders die Neuangekommenen mit Leidenschaft forderten, sondern vaterländischer Rheinwein bildete bei solchen Gelagen gewöhnlich das schwere Geschütz. Die langhalsigen, schlanken Originalflaschen ragten fast von allen Tischen empor und Scharlachberger-, Brauneberger-, Markobrunner- und Hochheimer-Etiquetten gehörten zu den gewöhnlichsten Dingen.

An dem einen Tische präsidirte der ›Pfarrer‹ des Ortes, eine breitschultrige, etwas massive Gestalt, mit hochgeröthetem Gesicht, kurzen, etwas struppigen blonden Haaren und einem wenigstens zweitägigen weißen Halskragen, aber nicht etwa in schwarzer Ordenstracht, sondern in einer grauleinenen Sommerjoppe mit Nankinghosen und um ihn gruppirten sich einzelne Bewohner von Santa Clara – unter ihnen auch unser alter Bekannter Pilger und mehrere Colonisten aus der unmittelbaren Nähe des Städtchens, von denen dann wieder verschiedene ›frische Einwanderer‹ zugezogen worden, um zuerst Bericht über ihre Reise abzustatten und dann Enthüllungen über das ›erhoffte Brasilien‹ zu vernehmen.

An die Ecke desselben Tisches hatte sich ebenfalls der Bursche mit dem Silberband um die Mütze gedrängt, der heute schon mit dem Director Streit gehabt; ein Krug Bier und eine Portion Braten stand vor ihm. Seine Frau lag drüben im Auswanderungshause mit ihren Kindern in einer dunkeln, feuchten Ecke und theilte mit ihnen das kärgliche Mahl, das sie sich von geliefertem Mehl selber hatte bereiten müssen.

Die übrigen Tische waren eben so dicht mit Gästen besetzt, und Bohlos' Frau und ein paar Mägde konnten sich kaum in dem überfüllten Raume Bahn machen, um die verlangten und oft stürmisch geforderten Speisen und Getränke auszutheilen.

»Na, hier lebt sich's aber doch besser als an Bord von dem Schiffe, das muß wahr sein, wenn ich auch gerade nicht über die Kost auf dem Schiff klagen will,« sagte einer der Zwischendecks-Passagiere.

»Saufr–,« kaute der Mann mit dem Tressenstreifen mit vollem Munde.

»Vielleicht sind Sie's zu Hause besser gewöhnt gewesen,« meinte einer der jungen Kaufleute, ein Kajüten-Passagier, der sich aber hier schon in brasilianische Gleichheit hinein zu finden suchte, indem er seinen unangenehmen Nachbar von der Seite ansah.

»Bin ich auch,« knurrte der Mann – »ja, Sie, die Kajüten-Passagiere, haben hineingestopft gekriegt, was nur eben hinein ging, aber uns haben sie behandelt wie die Hunde – und noch schlechter.«

»Na, ich weiß nicht,« sagte der Erste wieder, »ich bin doch auch im Zwischendeck gefahren, habe aber nichts davon gemerkt. Daß man's auf dem Schiff nicht so gut bekommen kann wie daheim, na ja, das haben wir freilich schon zu Hause gewußt, und dafür ist's eben eine Seereise. Außerdem habt Ihr, so viel ich weiß, nicht einmal Passage bezahlt, sondern Eure Gemeinde daheim hat's zusammengeschossen.«

»Das geht Keinen 'was an,« sagte der Bursche mit einem finstern Blick nach dem Sprecher – »bezahlt ist's doch, ohne daß Ihr dazu die Hand in den Sack gesteckt.«

Die Uebrigen schwiegen, denn der Mann hatte nicht genug Einnehmendes in seinem Wesen, sich mit ihm in ein längeres Gespräch einzulassen. Freilich war hier offener Wirthstisch, und man konnte ihm auch nicht gut verwehren, sich der Unterhaltung anzuschließen, so lange er eben nicht selber fühlte, daß er da nicht hinein passe.

Oben am Tisch wechselte das Gespräch jetzt wieder auf die Verhältnisse in die Colonie, und die Klagen über die Regierung waren allgemein, daß nie Land vorräthig vermessen sei, wenn einmal Colonisten eintrafen. Die Neuangekommenen wollten das dem Director zuschieben und der »Pfarrer« gab ihnen Recht. Da stäk' es, denn das sei ein hochmüthiger Patron, der sich den Henker um den armen Mann scheere. Dagegen sprachen aber und zwar mit Eifer, mehrere der Colonisten selber und vertheidigten den Director.

»Was kann er denn machen, wenn ihn der Präsident im Stich läßt? Das ist die vorgesetzte Behörde und an die muß er sich wenden, und für den gemeinen Mann thut gerade er mehr, denn irgend Einer vor ihm. Und wie hat er jetzt wieder gearbeitet, um die Leute alle unterzubringen!«

»Ein Lump ist's,« rief der mit der Tresse, seine Faust auf den Tisch schlagend, daß sich Alle erstaunt nach ihm umsahen – »ein nichtsnutziger, grober Lump, und das hab' ich ihm heut in's Gesicht gesagt und will es ihm morgen auch noch einmal hinein sagen.«

»Was ist denn der Mann da schuldig, Bodenlos?« fragte Pilger laut, als der Wirth gerade an ihm vorüberging.

»Wer?« fragte Bohlos, sich am Tisch umsehend.

»Der mit der hübschen blauen Mütze.«

»Na,« sagte der also Bezeichnete, erstaunt aufstehend – »wen geht denn das wieder 'was an, was ich schuldig bin?«

»Der Tisch hier bezahlt's,« sagte Pilger, ohne von dem Einwurfe Notiz zu nehmen – »wie viel macht's?«

»Portion Braten und vier Glas Bier,« sagte Bohlos – »wollen's gerade einen Milreis rechnen, es macht eigentlich noch zwanzig Reis mehr.«

»Sehr schön,« sagte Pilger, »und jetzt, guter Freund, thut uns einmal den Gefallen und macht die Thür von draußen zu. Verstanden?«

»Ob ich sie zumachen oder auflassen will, geht Keinen einen Quark an!« rief der Bursche, rückte sich die Mütze auf das eine Ohr und sah den Redenden mit wüthenden Blicken an.

»Wollt Ihr Vernunft annehmen?« fragte Pilger ruhig, indem er langsam von seinem Stuhle aufstand – »oder soll ich Euch . . .«

»Ach, laßt den Lump zufrieden, Pilger!« riefen ein paar Andere – »fangt keinen Streit an.«

»Streit?« sagte Pilger vollkommen kaltblütig – »fällt mir gar nicht ein, aber sollen wir uns etwa von einem Burschen, wie dem da, den ganzen Abend verderben lassen? Entweder der Gesell geht, Bodenlos, oder ich gehe.«

»Ach, seid vernünftig,« sagte der Wirth beruhigend.

»Nein, er hat Recht!« riefen nun auch die früheren Mitpassagiere des Burschen; »auf der ganzen Reise hat er nichts wie Skandal und Streit gehabt und seine arme Frau dabei mißhandelt, daß es eine Schande war.«

»Ihr Lumpenhunde wollt auch wohl noch mit drein reden?« rief der mit der Mütze und fuhr von seinem Sitz auf, aber Pilger hatte ihn schon am Kragen und hob ihn mit riesiger Kraft vom Boden; drei oder vier Andere faßten ihn zugleich an Armen und Beinen, und keine Minute später fand er sich ziemlich unsanft hinaus auf die Straße gesetzt. Kaum aber hatten die Männer ihre Sitze wieder eingenommen, als ein ziemlich faustgroßer Stein durch das eine Fenster klirrend hereinschmetterte und glücklicher Weise gegen die nächste Stuhllehne traf. Fünf oder sechs junge Burschen flogen jetzt hinaus, um den Frevler abzustrafen, aber der Passagier hatte es doch für gerathen gefunden, ein Derartiges nicht abzuwarten und war verschwunden.

Indessen rückte die Zeit vor – es war acht Uhr, und die ›Damen‹ kamen zum Ball. Es waren meist Frauen und Töchter von Bauern und Handwerkern, aber viele der letzteren selbst in Brasilien geboren und großgezogen, wo sie dann, mit Kindern der eingeborenen Brasilianer aufwachsend, auch den Schnitt von deren Kleidung, wie eine freiere Haltung angenommen hatten – und reizende Gestalten gab es unter ihnen.

Hier und da kam freilich auch ein ächt deutsches Bauernmädchen, die rothe Kattunschürze hoch in der Taille umgebunden, das riesige weiße Taschentuch in der sonnverbrannten, arbeitsharten Hand schlenkernd und mit der eigenthümlich schaufelnden Bewegung im Gange. Junge Mädchen mit weißen Kleidern und Rosabändern dazwischen, mit Füßen, die einem Grenadier zur festen Basis hätten dienen können, und eine Handvoll künstliche, arg zerdrückte Blumen geschmacklos auf den Kopf gebunden. Aber auch leichte und selbst zarte Figuren mischten sich dazwischen, junge Mädchen aus irgend einer kleinen Stadt, die jedenfalls verstanden, sich geschmackvoll zu kleiden, und eine buntere Mischung des ›schönen Geschlechts‹ konnte in keinem Lande der Welt aufgetrieben werden.

Und wer war der Ceremonienmeister, der Arrangirende und Ordnende dieses ganzen Balles? Wer stellte, als die Musik endlich begann, die Contretänze? Wer klatschte in die Hände, wenn die ersten Paare antanzten, wer klatschte wieder, wenn sie wechseln sollten? Wer drückte sich dann in einem ruhigen Moment in eine Ecke, um mit einem oder dem andern Nachbar, nur im Vorbeigehen, ein Glas Wein oder Punsch zu trinken und war im Nu wieder bei der Hand und mitten im Saal, sobald nur die geringste Unordnung zu drohen schien? Wer anders als Jeremias, der sich aber so entpuppt hatte, daß man ihn heut Abend wirklich nur an der rothen Perrücke wieder erkannte.

Wer den Jeremias heut in Hemdsärmeln gesehen hatte, wie er im Schweiße seines Angesichts, den Karren hinter sich, durch die Straßen keuchte, und wer ihn jetzt sah, wie er im Glanze von wenigstens achtzehn Talglichtern mit blechernen Reflectoren, à quatre épingles gekleidet, durch den Saal hüpfte, würde eine solche Veränderung, ohne den Mann genauer zu kennen, nicht für möglich gehalten haben, und doch war es eine und dieselbe Persönlichkeit.

Es läßt sich nicht leugnen, weder der hellblaue Frack mit den blanken Knöpfen, noch die weißen Hosen, noch die lichten, schon etwas schmutzigen Glacéhandschuhe waren je für ihn gemacht, und die beiden ersteren gerade um das zu weit, was die letzteren zu eng schienen. Aber er zeigte doch, wie der Pfarrer meinte, ›den guten Willen‹, und einen aufmerksameren und den Formen strenger genügenden Tanzmeister, wie ihn, gab es nicht auf der weiten Welt, viel weniger denn in Brasilien.

Jeremias war in der That überall und hatte er heute über Tag bei seinem Karren geschwitzt, so überstieg seine Transpiration gegenwärtig alle Grenzen. Er troff förmlich, und das helle Wasser lief ihm unter der brennend rothen Perrücke in kleinen Bächen nieder.

Eigentlich hatte Jeremias ursprünglich gar kein rothes Haar gehabt und das kleine Stückchen Backenbart, das ihm noch jetzt vor beiden Ohren stand, war sogar von pechschwarzer Farbe. Als ihm aber damals, nach einer Art Nervenfieber und kurz vorher, ehe er Deutschland verließ, sämmtliche Haare ausgingen, forderte der Friseur für eine schwarze Perrücke eine seine Kräfte übersteigende Summe und da er die rothe Perrücke – der Träger war darunter weggestorben – aus zweiter Hand billig erstehen konnte, entschloß er sich kurz und wechselte die Farbe. Jetzt war er so an die rothe Perrücke gewöhnt, daß er eine andere, schwarze, nicht mehr umsonst genommen hätte.

Uebrigens war Jeremias in der ganzen kleinen Stadt als ein fleißiger, nüchterner Arbeiter beliebt und seiner oft drolligen Antworten wegen fast in jedem Hause gern gesehen. Weil er aber fleißig arbeitete, verdiente er auch ganz hübsches Geld und nur, was er mit dem Verdienten machte, erfuhr kein Mensch. Verzehren konnte er es nicht, da er außerordentlich mäßig lebte und nie auch nur einen halben Milreis vergeudete, aber trotzdem hatte er noch Keinem Geld zum Aufheben gegeben. Er kaufte auch kein Land oder Vieh, und von Staatspapieren wußte er außerdem nichts. Allerdings hatte sich das Gerücht verbreitet, daß er sein Geld heimlich im Walde vergraben und schon einen ganzen Sack voll Milreis irgendwo eingescharrt habe. Gewißheit bekam aber Niemand darüber, und Jeremias war viel zu schlau, Andere das wissen zu lassen, was sie eben nicht zu wissen brauchten.

So gutmüthig Jeremias aber auch im Ganzen sein mochte und so dienstwillig und gefällig er sich gegen Jedermann in seiner Arbeitszeit zeigte, so unumschränkt regierte er hier und der geringste Verstoß gegen die Tanzordnung wurde auf das Unerbittlichste geahndet. Ein Schneider aus Santa Clara ärgerte ihn besonders und man erzählte sich, die Feindschaft zwischen den Beiden schreibe sich daher, daß Jeremias eine Heirath des Schneiders, den er als einen liederlichen Schlingel kannte, hintertrieben habe. Das Mädchen war braver Bauersleute Kind, und Jeremias kannte den Bräutigam, der aus seinem Orte stammte, schon von Deutschland her. Daheim hatte dieser aber ein anderes Mädchen sitzen, dem er die Ehe versprochen, und das auf ihn wartete, und als die Bauernfamilie das hier erfuhr, wurde dem Werber das Haus verboten.

Ob Jeremias ihnen das wirklich mitgetheilt, war nicht ganz bestimmt, jedenfalls hieß es so, und der Schneider haßte ihn seitdem wie seinen Todfeind, ohne daß sich Jeremias deshalb die geringste Sorge gemacht hätte. Heute nun, wo jener etwas mehr als gewöhnlich getrunken haben mochte, suchte er ein paar Mal Streit mit dem kleinen Ceremonien-Meister, und als dieser ihn eben so oft derb abfertigte, wußte er sich auf andere Weise zu rächen. Jeremias hatte gerade wieder in der einen Ecke einen Schluck Punsch mit dem jungen Handlungsdiener getrunken, als er auf der andern Seite des Saales eine Unordnung entdeckte. Wie der Blitz sprang er auf und dorthin; unglücklicher Weise mußte er aber an dem Schneider dicht vorbei, der rasch sein Bein vorhielt und Jeremias, darin hangen bleibend, schoß, so lang er war, mitten in den Saal.

Dem böswilligen Schneider bekam das aber schlecht. Zu viele Leute waren Zeuge gewesen, und ehe sich Jeremias nur wieder vom Boden aufraffen konnte, hatten sie den Schneider gepackt, machten ein Fenster auf und warfen den sich aus Leibeskräften dagegen Sträubenden hinaus in die Büsche.

Uebrigens war es eine so allgewöhnliche Begebenheit, daß bei einem deutschen Balle auch zwei oder drei Personen zu Thür oder Fenster hinausgeworfen wurden, daß Niemand weiter darauf achtete. Der Tanz ging ruhig fort und Jeremias, der mit einer wahren Federkraft vom Boden emporschnellte, sah kaum den Schneider beseitigt, als er auch augenblicklich wieder in den Tact der Musik einfiel und nur im Herüber- und Hinüberhüpfen noch den Staub von seinem Fracke zu entfernen suchte. Leider war kurz vorher gesprengt worden und die weißen Hosen hatten dadurch etwas fleckige Vordertheile bekommen, aber Jeremias selber sah es nicht und Niemand achtete weiter darauf.

Pilger war auch aus dem Gastzimmer herübergekommen, um seine Frau zu suchen, die versprochen hatte, bei dem Balle zu erscheinen, aber sie fehlte noch und etwa eine halbe Stunde später ging er nach Hause, um sie abzuholen.

Er mochte vielleicht eine Viertelstunde fort gewesen sein, als er mit etwas verstörtem Gesichte wieder zurückkam und seine Blicke unruhig im Saal umherschweifen ließ – dann verschwand er wieder, ohne daß natürlich irgend Jemand auf ihn achtete, um bald darauf wieder zurückzukehren, worauf er den bei einer Partie Skat sitzenden Pfarrer aufsuchte und zu sich hinausrief.

»Nun,« sagte dieser, der eben nicht gern von seiner Partie aufgestanden war, indem er ihm vor die Thür folgte, »was haben Sie denn, Sie schneiden ja ein Gesicht, als ob es bei Ihnen brennte?«

»Meine Frau ist fort,« flüsterte Pilger mit heiserer, von innerer Aufregung fast unhörbarer Stimme.

»Ihre Frau ist fort?« sagte der Geistliche erstaunt – »wohin?«

»Ich weiß es nicht,« stöhnte der Mann – »sie ist nicht hier beim Tanze, sie ist nicht zu Hause und doch vor etwa einer halben Stunde mit einem Bündel in der Hand fortgegangen.«

»Na ja, das wäre nicht übel,« schüttelte der Herr Pfarrer mit dem Kopfe – er hatte drin ein Eichelsolo auf dem Tische liegen und die Sache kam ihm sehr unbequem – »aber wohin kann sie denn hier?«

»Da steckt der Schuft, der Bleifuß, dahinter,« knirschte der Mann zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch; »aber wenn ich die Gewißheit kriege, dann gnade ihm Gott!«

»Hm,« sagte der Pfarrer, welcher die deshalb umlaufenden Gerüchte schon lange gehört hatte und kannte – »und haben Sie keine Ahnung, wohin sie sich gewandt haben könnte?«

»Keine,« ächzte Pilger; »aber was um Gottes willen kann ich thun, um sie wieder zu bekommen?«

»Heut Abend gar nichts,« sagte der Pfarrer; »es ist stockdunkel und aus dem Tanzsaal bringen Sie Keinen fort – – noch dazu, wenn Sie nicht einmal eine bestimmte Richtung angeben können.«

»Oh, Du großer Gott!« stöhnte der Mann und preßte die fest zusammengeschlagenen Hände gegen seine Stirn.

»Machen Sie sich keine Sorgen,« sagte der Geistliche, »Wenn die Frau Sie auf so leichtsinnige Weise verlassen konnte, so haben Sie auch nichts an ihr verloren, und den Musjö, den Bleifuß, wollen wir schon kriegen, wenn der wirklich dahinter steckt. Der muß blechen, daß es ihm blau und braun vor den Augen wird.«

»Meine Grethe – meine Grethe!« hauchte der arme Teufel; »daß sie mir die Schande anthun konnte!«

»Es läßt sich heute nichts mehr machen,« versicherte der Pfarrer – er konnte sein Eichelsolo nicht länger im Stiche lassen – »gehen Sie ruhig nach Hause – morgen früh komme ich zu Ihnen, und da besprechen wir das Weitere« – und ohne eine Antwort abzuwarten, klopfte er dem Unglücklichen auf die Schulter und ging wieder in das Zimmer zurück an seinen Spieltisch.

Pilger stand noch eine Weile wie vernichtet in der offenen Thür, dann aber lief er noch einmal zurück nach seinem Haus, und als er die Verlorene auch jetzt noch nicht fand, wieder hinaus in die Nacht hinein – er wußte ja selber nicht wohin. –

Unten an der Landung, etwa zweihundert Schritt tiefer als die Boote gewöhnlich lagen, hatte ein kleines Fahrzeug im Schutze dichter Büsche angelegt, und gleich nach Sonnenuntergang waren schon verschiedene Blechkoffer und Kisten hineingeschafft. Vier portugiesische Ruderer, die zu einem der weiter unten ankernden Schooner gehörten, lagen auf ihren Riemen und warteten auf ein verabredetes Zeichen, um den Bug des Bootes, das jetzt ein Stück draußen im Strom ankerte, dicht zum Lande zu schieben. Jetzt pfiff es viermal rasch hintereinander, und während sich das schmale Fahrzeug noch tiefer in die Büsche hineinschob, eilten ein Mann und eine Frau den schräg ablaufenden Hang hinab, gerade auf die Stelle zu, wo dasselbe verborgen lag.

Der Mann hielt ein größeres Packet im Arme und konnte nicht so rasch von der Stelle, weil er, seiner Bequemlichkeit wegen, Pantoffeln trug. Die Frau führte ein kleines Bündel bei sich und war ihm immer um einige Schritte voraus, bis sie den Wasserrand erreichte. Hier hielt sie plötzlich und wie erschreckt an und flüsterte:

»Oh, Du mein lieber himmlischer Vater, was will ich thun, was will ich thun!«

»Hier sind wir an Ort und Stelle,« sagte der Mann, der sie hier einholte, in portugiesischer Sprache, aber mit unterdrückter Stimme, »nur rasch, meine Geliebte, daß uns die Tölpel nicht doch noch am Ende auf die Spur kommen.«

»Oh, mein armer Mann, und er ist immer so gut und rechtschaffen, und ich . . .«

Während sie klagte, hatte der Portugiese schon sein Bündel in das Boot gegeben und der Frau das ihrige ebenfalls abgenommen und einem Matrosen gereicht. Jetzt legte er seinen Arm um ihre Taille und schob sie sanft rückwärts.

»Kommen Sie, Margarita, kommen Sie, wir versäumen sonst die günstige Zeit über die Barre – dort hinten höre ich auch Leute. Denken Sie, wenn man Sie hier fände – mit mir!«

Die Frau schreckte empor. Etwa hundert Schritt weiter oben führte ein Weg vorbei, auf dem zwei Männer gingen, die sich laut mit einander unterhielten. Die Frau glaubte die Stimme des Einen zu erkennen und wich scheu mehr in die Büsche hinein. Dort lag die Planke – einer der Matrosen ergriff ihre Hand und keine halbe Minute später glitt das Boot in die dunkle Strömung hinaus und mit dieser abwärts.

Am Ufer herauf kam eine einzelne Gestalt, die horchend stehen blieb, als sie das Knarren der Ruder in den Blöcken hörte, das nur so viel deutlicher durch die Stille der Nacht drang. Erkennen ließ sich freilich nichts von dort, wie nur vielleicht der dunkle Schatten des Bootes selber.

»Grethe,« rief da eine leise, klagende Stimme in den Strom hinaus – »Grethe – bist Du dort?«

Keine Antwort erfolgte; blitzesschnell trieben die Ruder das Boot vorwärts, das wenige Minuten später um eine ablaufende Biegung des Flusses verschwand. –

Bei dem Direktor, in der kleinen Oberstube, saß Könnern, und Beide waren, Jeder mit einem Lichte vor sich, beschäftigt mit Lesen. Der Director wühlte in einer Anzahl von Briefschaften, während Könnern ein Packet Zeitungen durchblätterte, die der Capitain des Schiffes mitgebracht hatte. Die Haushälterin brachte gerade den Thee herein, denn die Abende waren frisch genug, um eine Tasse warmen Thee recht gut vertragen zu können.

»Na, da hört Alles auf!« sagte da der Director plötzlich und sah über einen eben geöffneten Brief nach Könnern hinüber.

»Nun,« fragte dieser, dem Blick begegnend – »irgend eine unangenehme Nachricht?«

»Unangenehm gerade nicht,« lautete die Antwort, »aber gerade zu der unpassendsten Zeit in der Welt erhalten. Der Delegado, jener Portugiese, den wir an der Schule trafen, zeigt mir eben an, daß er von der Regierung auf unbestimmte Zeit Urlaub erhalten habe und mir hiermit in seiner Abwesenheit die laufenden Geschäfte übertrage. Die ganze lange Zeit hatte der Herr nichts auf der Gotteswelt zu thun gehabt, weil ich die kleinen Streitigkeiten zwischen den Colonisten immer selber schlichtete, ja, eher noch selber Ursache zu Zank und Unfrieden in verschiedenen Familien gegeben und jetzt, wo wir eine ganze Schaar durch die Seereise halb verwilderter Menschen bekommen, die außerdem noch untergebracht werden sollen, will er sich von jeder Arbeit drücken. Das geht nun einmal unter keinen Umständen an und wenigstens muß er noch die nächste Woche da bleiben. Ich habe überdies Scheererei genug – kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Thee – da drüben steht der Rum – helfen Sie sich selber.«

Könnern schob die Zeitungen und Papiere bei Seite, um freien Raum zu bekommen. Eine kleine, zierliche Visitenkarte fiel heraus und auf den Tisch.

»Hallo,« lachte er, »die Dinger gehören doch hier wohl eigentlich zu den exotischen Gewächsen. Wie heißt denn der Herr? Arno von Pulteleben – den Namen kenn' ich nicht.«

»Wieder irgend ein junger Adeliger,« sagte der Director, sich Rum zu seinem Thee gießend – »der mit den Diamantgruben Brasiliens im Kopfe herüberkommt, sich hier eine Zeit lang herumtreibt und über Alles schimpft, bis sein mitgebrachtes Geld verzehrt ist und er dann, empört über die traurigen Verhältnisse des Landes, nach Deutschland zurückkehrt, für das er Märchenstoff in Masse gesammelt hat. Er wollte mich heute besuchen, aber wie ich nur den schwarzen Frack, Seidenhut und die weißen Glacéhandschuhe durch's Fenster sah, hatte ich schon übrig genug und – ließ mir die Ehre auf ein anderes Mal ausbitten.«

»Wo mag er denn nur Quartier gefunden haben?« sagte Könnern, »die Häuser sind ja fast alle überfüllt.«

»Gott weiß es,« sagte der Director gleichgültig, »vielleicht doch noch im Hotel, denn Bohlos macht oft das Unglaubliche möglich. Ueberhaupt, lieber Könnern, glauben Sie gar nicht, was sich in einer solchen Colonie wie der unseren oft für wunderliche Subjecte und Charaktere ansammeln, und man könnte sie sich oft nicht bester assortirt für ein Naturalien-Cabinet zum Ausstopfen aussuchen. Aus allen Schichten der Gesellschaft bekommen wir die Proben, und der hohe Adel wie Künstler und Gelehrte liefern jederzeit die werthvollsten Exemplare. Unsern Baron haben Sie schon gesehen, die Gräfin werden Sie jedenfalls noch kennen lernen; außerdem treibt sich hier auch ein ganz tüchtiger Künstler herum, ein Mann, der wahrscheinlich in Deutschland seiner Kunst Ehre machen könnte und hier gerade so viel damit ausrichten wird, wie ein Holzhacker in den Pampas, oder ein Ackerbauer in den Schneebergen.«

»Ist es ein – Maler?« fragte Könnern.

»Nein,« lachte Sarno, »Sie brauchen keinen Concurrenten zu fürchten – es ist ein Clavierspieler. Aber auch ein anderer Musiker macht die Gegend unsicher, aus dem ich aber noch nicht recht klug geworden bin. Er nennt sich Randolph und scheint mir ein excentrischer Kopf, wie alle derartigen Künstler . . .«

In dem Augenblicke wurde draußen an die Thür geklopft und die alte Haushälterin meldete gleich darauf, der Schuhmacher Pilger wünsche den Herrn Director einen Augenblick zu sprechen.

»Ach,« sagte der Director, unzufrieden mit dem Kopfe schüttelnd, »immer wieder die alte Geschichte, aber ich kann ihm jetzt gute Nachricht geben, denn er wird seinen Quälgeist wenigstens auf einige Zeit los. Lassen Sie ihn nur hereinkommen.«

Pilger betrat gleich darauf das Zimmer. Er hielt den Hut in der Hand, sah aber todtenbleich aus und der Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn.

»Guten Abend, Herr Direktor!« stöhnte er, ohne auf den noch im Zimmer befindlichen Fremden weiter zu achten.

»Guten Abend, Pilger! Um Gottes willen, wie seht Ihr denn aus, Mann? Was ist vorgefallen?«

»Meine Frau ist mir davongelaufen, Herr Direktor,« sagte der arme Teufel und man sah es ihm an, wie er sich nur mit äußerster Gewalt zwang, seine Fassung zu bewahren.

»Eure Frau? Wann?« rief der Director erschreckt, und ein eigener Verdacht schoß ihm durch den Kopf.

»Heut Abend – vor einer Stunde etwa, vielleicht noch nicht so lange. Sie wollte auf den Ball kommen und hat das Haus verlassen, ist aber jetzt nirgends mehr zu finden.«

»Aber, bester Freund, wenn Ihr sie erst so kurze Zeit vermißt, kann sie ja auch zu einer Freundin gegangen sein, um die abzuholen.«

»Nein,« sagte der Mann ruhig, »sie hat ein Bündel mitgenommen und ist nach dem Flusse gegangen. Ich sprach Jemanden, der ihr begegnet ist.«

»Und habt Ihr keinen Verdacht, wer dabei die Hand im Spiele haben könnte?« fragte der Director.

»Verdacht? Nein,« sagte Pilger mit fest zusammengebissenen Zähnen, »aber die Gewißheit, daß es jener gottverfluchte Bleifuß, der Delegado, gewesen ist. Es giebt jetzt nur noch eine Möglichkeit,« fuhr er fort, während der Director leise vor sich hin mit dem Kopfe nickte, »daß die Flucht nach dem Flusse zu nur zum Schein gewesen und meine Grethe jetzt ruhig drüben im Hause des Delegado versteckt ist. Allerdings fuhr vor etwa einer Viertelstunde ein Boot stromabwärts, aber ich kann mir nicht denken, daß der Portugiese die Frau allein fortschicken wird, und deshalb komme ich her, Herr Director, und wollte Sie bitten, das Haus des Portugiesen augenblicklich durchsuchen zu lassen. Finden wir dort nichts, dann muß sie den Fluß hinunter sein und ich glaube, ich weiß ein Haus, wo sie sich möglicherweise Weise verborgen halten könnte.«

»Wart Ihr schon am Hause des Delegado?«

»Ja – es ist Alles stockfinster drin, aber das bedeutet nichts.«

»Wißt Ihr, daß der Delegado Urlaub von der Regierung und mir heut Abend schriftlich angezeigt hat, ich solle sein Amt hier für ihn versehen?«

Der Mann schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Dann ist's auch richtig,« stöhnte er – »dann ist er fort, und sie waren in dem Boot, das ich gesehen habe. Wollen Sie mir helfen, Herr Director?«

»Von Herzen gern, Pilger, aber wie?«

»Erst gehen wir jetzt nach seinem Hause und sehen, ob er fort ist, und finden wir das bestätigt, dann bitte ich Sie um weiter nichts als Ihr Boot – Leute schaff' ich schon herbei.«

»Aber keine Gewaltthätigkeit, Pilger!« warnte der Director; »Ihr macht die Sache dadurch nur noch schlimmer.«

»Ueberlassen Sie das mir, Herr Director. Ich habe den Eltern meiner Frau, braven, ordentlichen Leuten daheim, versprochen, über dieselbe zu wachen wie über meine Augen; ich darf die unglückliche Frau nicht den Händen dieses Buben überlassen, und darin werden mich doch hoffentlich die Gesetze schützen.«

»Das allerdings,« sagte Sarno, von seinem Stuhl aufspringend – »und dann wollen wir auch keine weitere Zeit mehr versäumen – kommt!«

Er griff seinen Hut auf, und von Könnern begleitet gingen die Männer rasch nach dem Hause des Delegado hinüber. Es war aber hier, wie es Sarno gefürchtet hatte: sie fanden das Haus nicht allein fest verschlossen, sondern auch leer. Dicht daneben wohnte ein deutscher Cigarrenmacher, der einen kleinen Stand nach der Straße zu hatte. Dieser konnte ihnen wenigstens die Nachricht geben, daß gleich nach Dunkelwerden mehrere brasilianische Matrosen Kisten und Koffer aus dem Hause die Straße hinabgetragen hätten. Weiter wußte er ebenfalls nichts, denn den Delegado hatte er mit keinem Auge gesehen.

»Dann bleibt mir nichts weiter übrig als das Boot,« stöhnte Pilger, als er mit seinen Begleitern wieder die Straße hinaufging – »darf ich es mir nehmen, Herr Direktor?«

»Geht mit Gott!« sagte Sarno, indem er ihm den kleinen Bootschlüssel gab – »Ihr wißt, wo es liegt?«

»Ja wohl – und Segel und Ruder?«

»Hat der Fischer gegenüber – der kann Euch auch wahrscheinlich gleich Leute zum Rudern nachweisen.«

Pilger dankte und flog mehr als er ging die Straße hinab und der Landung zu. –


Im Hause der Gräfin Baulen war die kleine Familie mit ihrem Gaste ziemlich spät beim Thee beisammen gewesen und hatte den Abend, so gut das eben gehen wollte, verplaudert. Herr von Pulteleben erzählte von seiner Familie daheim und dem kleinen Gute, auf dem er erzogen worden, von seinen Plänen und Hoffnungen und seinem Eifer, etwas Ernstliches zu beginnen, und die Frau Gräfin selber war ihm dabei mit Interesse gefolgt. Nur Oskar langweilte sich; aber er wußte, daß im Wirthshause Ball sei. Allerdings würde ihm seine Mutter nie die Erlaubniß gegeben haben, dem beizuwohnen, deshalb ersparte er ihr das Unangenehme einer Weigerung, verließ unbemerkt das Zimmer und ging ohne Erlaubniß.

Herr von Pulteleben erzählte jetzt von seiner Reise und den Abenteuern derselben, und da er wirklich gar nichts dabei erlebt, wurde die Frau Gräfin endlich müde und schlief ein.

Helene setzte sich auf kurze Zeit an's Clavier, aber ihr Gast war nichts weniger als musikalisch und da er auch keinen Geschmack an den kleinen, von ihr oft vorgetragenen reizenden Liedern fand und sie immer nur – oft mitten in einem Stücke – bat, einen Walzer oder Galopp zu spielen, ermüdete Helene ebenfalls.

Es war Zeit zum Schlafengehen geworden, das Mädchen wurde gerufen, um dem Fremden in sein Zimmer zu leuchten, und Helene ging in das ihrige, stellte das Licht auf den Tisch, stützte den Arm auf das offene Fenster, zu dem der balsamische Duft der Orangenblüthen voll hereinströmte und schaute träumend in die Nacht und auf die dunkeln Contouren der Gebirge hinaus.

Da zuckte sie plötzlich erschreckt empor, denn fast dicht unter ihrem Fenster erklangen wieder die leise klagenden Töne der Violine, die sie schon an jenem Abend so wunderbar ergriffen hatten. Es lag ein solcher Schmelz in der einfachen Melodie, daß es ihr unwillkürlich das Herz ergriff und sie stand auf, setzte sich auf das Sopha, um von unten aus nicht gesehen zu werden, und horchte mit angehaltenem Athem dem meisterhaften Spiele.

Herr von Pulteleben, der schrägüber ihrem Zimmer wohnte, hatte schon sein Licht ausgelöscht und sich eben niedergelegt, als der Spielende unten begann. Er stand wieder auf, lehnte sich in das offen stehende Fenster und hörte eine Weile zu, bis die Töne unten leise verhallten. Jetzt rief er von oben herunter:

»Bravo! Sehr hübsch! Wirklich allerliebst!«

Helene barg die Stirn in ihre Hand; es war wie ein Mißton in diese Harmonie hinein. Der Spielende unten aber schwieg. Sie löschte ihr Licht aus und trat verdeckt an's Fenster, um vielleicht den Schatten seiner hinweggleitenden Gestalt zu sehen, aber nichts regte sich – dunkel lag die Nacht auf dem Thale und nur von weit herüber schallten dann und wann, von einem gelegentlichen Luftzuge getragen, die munteren Töne der Violinen und Trompeten herüber, die dem jungen, lustigen Volk von Santa Clara zum Tanz aufspielten.



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