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Kordofan
Ein armer Mann namens Said war verheiratet. Er hatte zwei kleine Kinder, und es wurde ihm schwer, jeden Tag das Nötige zu verdienen. Der Mann hatte einen Ochsen. Eines Tages hatte der Mann nichts Rechtes zum Essen finden können. Da sagte seine Frau zu ihm: »Mein Said, wir haben diesen Ochsen, der uns nichts nütze ist. Ein Ochse kann unsern Kindern nicht täglich etwas zur Nahrung bieten wie Ziegen oder Schafe. Ich rate dir also, den Ochsen zu verkaufen und dafür einige Ziegen oder Schafe zu erstehen.« Said sagte: »Du hast recht; ich will den Ochsen forttreiben und einen Käufer suchen.« Said machte sich mit dem Ochsen auf den Weg, um den nächsten Marktplatz aufzusuchen. Als er aber ein Stück weit gekommen war, kamen ihm vierzig Räuber mit ihrem Schech an der Spitze entgegen. Der Räuberhauptmann sagte: »Du kommst uns gerade zu recht in den Weg; denn da ich heute abend meinen Leuten ein Essen geben soll, brauche ich ein Schaf. Dein Schaf ist mir nun sehr geeignet!« Said sagte: »Verzeih Herr, es ist ein Ochse!« Der Räuberhauptmann sagte: »Schweige; wenn ich dir sage, daß es ein Schaf ist, dann ist es so! Ich werde dir also den Preis für ein Schaf dafür zahlen.« Said sagte: »Herr, bedenke, daß ich ein armer Mann bin und Kinder habe. Zahle mir also den Ochsen.« Der Räuberhauptmann aber sagte: »Welches ist denn der Beweis, daß es ein Rind ist? Ich sehe nur ein Schaf!« Said sagte: »Herr, sieh doch nur den Schwanz an!« Der Räuberhauptmann lachte und sagte: »Wenn das alles ist, so soll dir schnell geholfen werden.« Er schnitt den Schwanz des Ochsen ab, warf ihn Said zu, zahlte vierzig Piaster als Preis für ein Schaf und ritt mit seinen vierzig Räubern und dem Ochsen von dannen.
Said nahm die vierzig Piaster und den Ochsenschwanz und machte sich auf den Heimweg. Nachdem Said ein Stück weit gegangen war, sagte er bei sich: »Es wird besser sein, ich sehe mich nach dem Wege um, den mein armes Schaf gegangen ist, damit ich nachher Bescheid weiß.« Er wandte sich also um und suchte die Fährte der Räuber. Er sah nun, daß sein Ochse infolge des Schwanzschnittes viel Blut verloren und so eine gute Spur gezeichnet hatte. Er folgte ihr, bis er in der Ferne das Haus des Räuberhauptmannes sah; dann kehrte er zu seiner nicht allzu entfernten eigenen Behausung zurück.
Als er daheim angekommen war, sagte er: »Zunächst habe ich unsern Ochsen verkauft, aber nur die Anzahlung im Preise eines Schafes erhalten.« Die Frau sagte: »Hast du denn von dem Käufer eine Sicherheit dafür erhalten, daß er auch den Rest zahlt?« Said sagte: »Gewiß, eine solche Sicherheit habe ich.« Dabei zog er den Schwanz des Ochsen heraus und zeigte ihn. Die Frau sagte: »Das ist eine merkwürdige Sicherheit.« Said sagte: »Warte nur! Du wirst schon sehen, daß der Mann gern ganz außerordentliche Summen zahlen wird. Komm nur heute abend mit mir.«
Als es Abend geworden war, zog Said die schönsten Kleider seiner Frau an, band sich aber darunter den Ochsenschwanz um den Leib. Dann sagte er: »Nun komm mit mir. Wir sind jetzt beide Frauen.« Die Frau begleitete ihren Mann, und als sie in die Nähe des Gehöfts des Räuberhauptmanns gekommen waren, sagte Said: »Mein Frau, nun halte dich hier versteckt. Du siehst dort drüben die große Seriba (Ansiedlung) mit dem großen Haus. Ich werde dort hineingehen und werde längere Zeit brauchen, um die zweite Zahlung für unsern Ochsen einzustreichen. Warte hier auf mich und hilf mir dann, das Geld heimzutragen.« Die Frau blieb also zurück.
Said ging aber in seinen Frauenkleidern bis zur Seriba des Räuberhauptmanns. Dort setzte er sich in der Stellung einer bittenden Frau am Tore nieder. Der Räuberhauptmann war gerade damit beschäftigt, das Fleisch des geschlachteten Ochsen unter seine Leute zu verteilen. Als er damit fertig war und sein Blick auf die fremde schöne Frau, als die Said sich verkleidet hatte, fiel, sagte er: »Frau, wer bist du? Was willst du?« Die Frau (Said) sagte: »Ich bin aus einer andern Gegend und wollte heimkehren. Ich verlor die Spur meines Mannes und finde mich im Dunkeln nicht mehr zurecht. Ich bin mit jedem Lager zufrieden, das du mir etwa für die Nacht anweisen kannst.« Der Räuberhauptmann sagte: »Wenn du still sein und kein Geräusch machen willst, so daß meine Frau nichts von deiner Anwesenheit hört, dann will ich dich wohl mit in meine Kammer nehmen.« Die fremde Frau sagte: »Ich werde sicher kein Geräusch machen, wenn du keines machst.« Darauf brachte der Räuberhauptmann die fremde Frau in die Kammer, in der er zu schlafen pflegte und in der außer seinem Angareb auch die Truhe mit seinen Schätzen stand und ging dann hinaus.
Der Räuberhauptmann ging zu seiner Frau hinüber und sagte: »Meine Gattin, schlafe du nur heute allein; ich werde dich nachts nicht besuchen können, da ich noch auswärts eine Sache einzurichten habe.«
Dann ging der Räuberhauptmann wieder in seine Kammer zu der fremden Frau zurück. Said hatte sich inzwischen umgesehen. Er hatte die eiserne Truhe betrachtet und hatte einen starken Strick entdeckt, der von der Decke ziemlich weit herabreichte und in einer Schleife endigte, die man heraufziehen konnte. Said setzte sich dann auf das Bett. Der Räuberhauptmann kam herein und sagte: »So, nun wird uns niemand mehr stören. Nun können wir ein wenig miteinander spielen.« Die fremde Frau sagte: »Das ist gut.« Dann zog Said das Tuch vom Gesicht. Said hatte aber ein schönes Gesicht. Der Räuberhauptmann wollte sich zu der fremden Frau auf das Angareb setzen. Die fremde Frau aber sagte: »Ich denke in einem fort darüber nach, wozu dieser Strick ist, der dort von der Decke herabhängt und in einer Schleife endet.« Der Räuberhauptmann sagte: »Dieser Strick ist dazu da, meine Leute, wenn sie einen Fehler machen, an den Beinen aufzuziehen und dann zu züchtigen.« Die fremde Frau sagte: »Das ist merkwürdig. Ich verstehe das nicht. Ziehe mich doch einmal daran empor.« Der Räuberhauptmann sagte: »Nicht doch! Du bist eine Frau. Aber wenn du es einmal sehen willst, so ziehe doch mich hinauf.« Die fremde Frau sagte: »Strafen dich deine Leute denn nicht auch, wenn du einen Fehler machst?« Der Räuberhauptmann lachte und sagte: »Nein, das wagt kein Mensch, mich zu strafen. Ich mache auch keine Fehler.« Die fremde Frau sagte: »Ich kann mir das nicht vorstellen.« Der Räuberhauptmann sagte: »Zieh mich nur ruhig einmal hinauf, dann siehst du die Sache.«
Da stand die fremde Frau auf. Der Räuberhauptmann legte sich auf die Erde und steckte die Füße in die Schlinge. Der Räuberhauptmann sagte: »Nun braucht nur ein starker Mensch den Strick in die Höhe zu ziehen. Du bist aber als Frau nicht stark genug.« Die fremde Frau ergriff aber den Strick und zog den Räuberhauptmann mit einem Ruck in die Höhe, so daß er in der Luft hing. Der Räuberhauptmann erschrak und sagte: »Langsam, das schmerzt.« Die fremde Frau sagte: »Und dann bekommen die, die einen Fehler begangen haben, auch noch Streiche?« Der Räuberhauptmann sagte: »So ist es!« Said warf die Frauenkleidung weg und zog den Ochsenschwanz heraus. Der Räuberhauptmann erschrak. Said sagte: »Etwa hiermit? Etwa so?« Der Räuberhauptmann erkannte Said und schrie: »Laß doch! Ich bitte dich! Laß doch! Ich will dir den Ochsen ja voll bezahlen.« Said aber schlug mit dem Ochsenschwanz, daß dem Räuberhauptmann der Schweiß und das Blut herabliefen.
Als der Räuberhauptmann nun so baumelte und sich an dem Strick hin und her wand, fiel aus seiner Brusttasche der Schlüssel zu der eisernen Truhe. Said sah es. Said nahm den Schlüssel auf und sagte: »So so! Du willst mir also meinen Ochsen gut bezahlen.« Said ging zur eisernen Truhe und schloß sie auf. Der Räuberhauptmann sagte: »Es war ja nur ein Ochse, und vierzig Piaster habe ich dir schon gezahlt.« Said sagte: »Mein Freund, du hast keine klare Vorstellung:
Heute morgen sagtest du, es sei ein Schaf. Heute abend sagst du, es sei ein Ochse. Morgen wirst du sagen, es sei eine Ochsenherde, übermorgen, es seien zwei Ochsenherden gewesen. Du weißt also nicht so genau damit Bescheid, und es ist einfacher, ich greife deiner Meinung von morgen vor und nehme gleich das Geld für die ganze Ochsenherde!« Damit nahm Said einen ganzen Sack voll Gold und hob ihn auf die Schulter. Er trug ihn aus dem Hause. Als er aus der Türe war, rief der hängende Räuberhauptmann ihm Schimpfworte nach. Said aber sagte bei sich: »Diese letzten Worte bezahlt er mir morgen.«
Said trug den Goldsack und seine Kleider zur Seriba hinaus. Er traf seine Frau. Seine Frau sagte: »Ich hörte einen Mann schreien.« Said sagte: »Das war mein Freund, der mir den Ochsen abgekauft hat und nun bezahlte. Beim Zahlen segnete er aber seine Münze und ich dankte ihm. Das machte einiges Geräusch, wie es bei allen Geschäftsverhandlungen mit dieser Art Leuten üblich ist. Merke dir übrigens den Weg. Du mußt morgen früh hierher zurückgehen und hören, was die Leute sprechen.« Dann gab Said seiner Frau die Kleider zu tragen, nahm selbst das Gold und den Ochsenschwanz über die Schulter und ging mit seiner Frau nach Hause.
Am andern Morgen war die Frau Saids früh an der Seriba des Räuberhauptmanns. Es waren schon viele Leute zusammengekommen und standen um das Haus. Sie banden ihren Schech los und sagten: »Wer tat das nur? Wie konnte das nur geschehen?« Der Räuberhauptmann sagte: »Das hat der Mann getan, dem ich gestern den Ochsen als Schaf abkaufte und der sich mit dem Ochsenschwanz gleich für eine ganze Herde bezahlen ließ.« Die Leute banden den Schech los. Der Schech war so zerschlagen, daß er kaum stehen konnte. Der Schech sagte: »Legt mich auf mein Angareb, und wenn ein Arzt vorbeikommt, ruft ihn herein und bittet ihn, nach mir zu sehen.« Die Frau Saids hörte das. Die Frau Saids ging heim und erzählte alles ihrem Manne.
Said kaufte sich in aller Eile im Basar die Kleidung eines Arztes. Dann machte er sich auf den Weg und ging am Hause des Räuberhauptmanns vorbei. Said hörte den Räuberhauptmann im Hause wimmern. Er trat mit einem Gruß herein und sagte: »Ich hörte hier einen Menschen klagen, und da er nun anscheinend leidend ist, ich aber Arzt bin, so will ich ihm helfen.« Der Räuberhauptmann sagte: »Komm her und sieh nur meine Wunden und Striemen.« Said besah sie und sagte: »Ich sehe, die Sache will ernst behandelt sein. Ich will nach Hause gehen und Medikamente bereiten. Mit Dunkelheit will ich wieder hier sein und kann dich dann dem Wesen der Sache entsprechend behandeln.«
Der Räuberhauptmann sagte: »Tu das, lieber Arzt. Wenn du mich so behandelst, wie es mein Zustand wünschenswert macht, will ich dich meinem Besitztum entsprechend bezahlen.« Said ging.
Said ging nach Hause. Er band sich den Ochsenschwanz unter den Rock, nahm einige Flaschen mit sich und ging zu dem kranken Räuberhauptmann zurück. Er trat bei ihm ein und sagte: »So, nun will ich dich deinem Zustand entsprechend behandeln. Vorher aber erzähle mir, wie diese Striemen und Wunden entstanden, denn je nachdem ob sie durch Stock oder Schnur oder Peitsche oder Kette entstanden sind, muß ich das Heilmittel auswählen.« Der Räuberhauptmann sagte: »Ich hatte mit meinen Genossen einem armen Mann seinen Ochsen weggenommen und ihn nur als Schafbock mit vierzig Piastern und dem abgehackten Schwanz des Ochsen bezahlt. Da kam der Mann gestern abend, hing mich auf und schlug mir die Wunden mit dem Ochsenschwanz!« Said riß den Ochsenschwanz unter den Kleidern hervor und sagte: »Ist es der hier?« Der Räuberhauptmann schrie auf. Der Räuberhauptmann sagte: »Ja, das ist er! Jetzt erkenne ich dich! Laß mich! Laß mich!« Said aber begann den Räuberhauptmann mit festen Streichen zu behandeln und sagte: »Warte, mein Freund, erst will ich dich behandeln, wie es dein Zustand wünschenswert macht. Außerdem hast du gestern hinter mir hergeschimpft.« Der Räuberhauptmann schrie: »Laß mich! Laß mich! Ich habe ja deine Ochsenherde bezahlt. Laß mich! Laß mich!« Said schlug aber weiter auf den Räuberhauptmann und sagte: »Wenn du genügend behandelt bist, sage es, dann kannst du mich deinem Vermögen entsprechend bezahlen!« Der Räuberhauptmann riß den Schlüssel zur Truhe aus der Tasche und sagte: »Nimm deine Bezahlung und geh!« Said sagte: »Endlich kommst du zur Vernunft! Ich habe mich auch ganz müde gearbeitet. Wenn du nun still liegst, wird dir bald Gesundheit werden.« Dann band sich Said wieder den Ochsenschwanz unter den Rock, ging zur Truhe, öffnete sie, nahm einen Beutel mit Gold heraus und sagte: »So, mein Freund, nun wird dir leichter ums Herz werden.« Said ging. Als er aus der Türe herausgegangen war, rief der Räuberhauptmann Schimpfworte hinter ihm her. Said sagte: »Diesem Manne muß noch viel Blut abgezapft werden, ehe er gesund wird!«
Said ging nach Hause, übergab seiner Frau das Gold zur Verwahrung und sagte: »Der Mann will morgen noch einmal mit mir sprechen. Gehe also in der Frühe hin und höre, was es gibt.«
Am andern Morgen ging die Frau Saids schon früh zu dem Hause des Räuberhauptmanns. Seine Kameraden drängten sich um ihn und fragten: »Wer hat das nur wieder getan? Wie hat das nur wieder geschehen können?!« Der Räuberhauptmann sagte: »Der Mann, dem ich den Ochsen weggenommen habe, ist gestern als Arzt wiedergekommen und hat mich mehr geschlagen. Seht nur, daß keine Frau und kein Arzt wieder in meine Nähe kommen. Bringt mich auf meinem Bett draußen hinter dem Garten ins Freie und stellt mein Angareb unter den Palmen auf, wo kein Mensch außer den Hirten vorbeikommt. Unter mein Kopfkissen legt aber den Beutel mit Edelsteinen, den wir als Preis für den Listigsten unter uns ausgewählt haben und der mir hier im Hause jetzt nicht sicher genug scheint.« Die Leute taten wie befohlen. Sie brachten den Räuberhauptmann auf seinem Angareb weit hinaus, stellten das Lager mit dem Kranken unter den einsamen Palmen auf und legten ihm den Beutel mit Edelsteinen unter den Kopf.
Die Frau Saids ging aber heim und erzählte ihrem Manne alles. Said ging darauf zu einem Freunde, der Schafhirt war, und sagte: »Leih mir nur heute für diesen Tag deine Kleider, deine Herde und deine Arbeit. Heute abend will ich dir alles wiedergeben und außerdem noch für ein gutes Geschenk sorgen.« Der Freund war damit einverstanden. Said nahm die Kleider des andern, band den Ochsenschwanz unter und trieb dann seine Herde dahin, wo der Räuberhauptmann auf dem Angareb unter den Palmen lag.
Als Said in die Nähe des Räuberhauptmanns kam, hörte er jenen wimmern. Said aber tat so, als ob er es nicht hörte. Er ging langsam mit der Herde weiter und sang: »Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die blutenden Wunden der Liebe heilen! Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die klaffenden Wunden der Faris (Krieger) heilen! Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die den Schmerz der sterbenden Könige stillen!« Der Räuberhauptmann hörte den Gesang. Der Räuberhauptmann rief: »Du, Hirte, komm! Raï (Hirte), komm doch!« Said tat so, als ob er es nicht höre; er ging hinter seiner Herde her und sang: »Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die blutenden Wunden der Liebe heilen! Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die klaffenden Wunden der Faris heilen! Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die den Schmerz der sterbenden Könige stillen!« Der Räuberhauptmann schrie: »Raï! Raï, so komm doch!« Said sagte: »Wer ruft da?« Der Räuberhauptmann sagte: »Komm hierher unter die Palmen!« Said sagte: »Ich fürchte mich!« Der Räuberhauptmann sagte: »Wie kannst du dich vor mir krankem Manne fürchten, wo du jung und stark, ich aber elend und zerschlagen bin!«
Said kam näher und sagte: »Was willst du? Ich kann meine Herde nicht lange allein lassen!« Der Räuberhauptmann sagte: »Ich bin zerschlagen. Ich bin ganz wund. Kannst du mir Kräuter auf die Wunden legen, daß sie heilen?« Said sagte: »Herr, ich bin jung und unerfahren.« Der Räuberhauptmann sagte: »Du hast selbst eben anders gesungen. Hilf mir. Es soll dir auch vergütet werden.« Said sagte: »Ich kann nur die rechten Kräuter bringen, wenn ich weiß, wie du zu den Wunden kamst.« Der Räuberhauptmann sagte: »Das kann ich dir nicht sagen.« Said sagte: »Siehst du, ich wußte, daß ich dir nicht helfen kann, weil du kein Vertrauen zu mir haben kannst, wo ich so jung bin.« Said wandte sich ab.
Der Räuberhauptmann rief hinter Said her: »Raï, bleib! Ich will dir alles erzählen. Ich hatte einem armen Manne einen Ochsen weggenommen; da hat er mich zweimal mit einem Ochsenschwanz geschlagen.« Said riß seinen Ochsenschwanz heraus und sagte: »Mit einem solchen?« Der Räuberhauptmann schrie: »Er ist es wieder. Nun muß ich sterben!« Said aber schlug heftig auf den Räuberhauptmann ein und brachte ihm eine große Reihe guter Schläge bei. Der Räuberhauptmann schrie zuletzt: »Laß sein! Laß sein! Nimm mir, was du willst, aber laß mich am Leben. Ich habe dir schon all deine Ochsenherden bezahlt, was willst du noch mehr!«
Said sagte: »Was ich noch mehr will? Vor allem, daß du nicht hinter mir herschimpfst, wenn ich gehe; dann, daß du zu einem ehrlichen Lebenswandel zurückkehrst, und endlich den Preis, den ihr für den Listigsten unter euch ausgesetzt habt.« Der Räuberhauptmann stöhnte. Er sah aber den Ochsenschwanz, zog also den Beutel mit Edelsteinen hervor und sagte: »Du bist wirklich der Listigste. Willst du mich nun aber in Frieden lassen?« Said nahm den Beutel und sagte: »Wenn du nicht mehr hinter mir schimpfst und zu einem ehrlichen Lebenswandel zurückkehrst, habe ich nichts mehr mit dir zu tun.« Danach band Said seinen Ochsenschwanz um, steckte den Beutel mit Edelsteinen in die Kleider und trieb seine Herde wieder nach Hause.
Erst brachte Said seinem Freund die Herde zurück, danach brachte er seiner Frau den Sack mit Edelsteinen und sagte: »Nun gehe morgen noch einmal hin, höre, was es gibt und berichte mir. Wenn der Räuberhauptmann jetzt noch einmal abgestraft wird, dürfte es genügen.«
Am andern Morgen ging die Frau in aller Frühe hin. Sie traf die Räuber, die ihren Schech umgaben und immer wieder fragten: »Wie kann das nur immer wieder geschehen? Wer hat das nun wieder getan?« Der Räuberhauptmann sagte: »Es ist immer wieder derselbe Mann, dem ich den Ochsen abnahm.« Dann beschimpfte der Räuberhauptmann Said und sagte: »Er hat mich gestern als Hirt überfallen. Dieser Mensch verlangt nun von mir, ich solle einen ehrlichen Lebenswandel anfangen. Wenn er aber hört, daß ich das nicht vorhabe, wird er mich wieder zu schlagen wissen. Sagt also aller Welt, daß ich gestorben sei und bringt mich und meine Schätze in eine Höhle, die hier in der Nähe ist, die als Grabkammer dienen und die man verschließen kann. Stellt mir Essen und Wein herein, daß ich einige Tage darin leben kann, und dann wird alle Welt, also auch der Mann mit dem Ochsenschwanz, glauben, ich sei gestorben.« Die Freunde sagten: »Es ist recht. So wollen wir es tun.« Die Frau Saids hörte das, lief nach Hause und erzählte alles ihrem Mann. Said ging darauf schnell hin, kaufte sich das Kleid eines Priesters und ein heiliges Buch. In dem Kleid mit dem Ochsenschwanz darunter und dem heiligen Buch in der Hand ging er dann zu dem Hause des Räuberhauptmanns. Die Leute hatten den Räuberhauptmann auf sein Angareb gelegt. Sie hatten ihn mit wertvollen Kleidern bedeckt. Sie hoben ihn auf und trugen ihn hinaus. Einige Leute hatten die goldenen Leuchter und die goldenen Schalen genommen, die der Räuberhauptmann einst erobert hatte. Andere schleppten die Truhe, in der das Gold des Schechs war, und wieder andere brachten Körbe mit Speise und Krüge mit Wein. Die Leute schrien alle: »Unser Schech ist tot! Unser Schech ist tot!« Es waren auch Weiber dazu gekommen, die klagten und schrien nach der Sitte.
Als alle Leute aufbrachen und den Schech forttrugen, kam Said im Priesterkleid mit dem heiligen Buch. Er sagte: »Dies ist ein Toter. Ich will für ihn lesen!« Einige Männer sagten: »Er braucht wohl keinen Priester!« Die Frauen schrien aber: »Was? Keinen Priester? Gewiß muß er einen Priester haben!« Der Priester trat also an die Spitze des Zuges, und der wanderte nun den Bergen zu. Am Berge wurde der Fels vom Eingang einer Höhle zurückgeschoben und das Angareb mit dem Räuberhauptmann hineingetragen. Das Angareb wurde niedergesetzt und die goldenen Schalen und Leuchter wurden rund herum gestellt und die Truhe mit Gold zur Seite und die Körbe mit Speise und Trank in die Nähe. Die Leuchter wurden angezündet, der Priester setzte sich auf die Truhe und schlug eine Stelle seines Buches auf und las.
Die Männer sagten: »Nun wollen wir Abschied nehmen und hinausgehen.« Sie gingen alle an dem Angareb vorüber und schritten hinaus. Die Männer sagten: »Der Priester muß auch herauskommen.« Die Frauen sagten: »Nein, laßt den Priester beten!« Die Männer sagten: »Der Fels muß aber vorgeschoben werden, damit die wilden Tiere nicht hinein können.« Die Frauen sagten: »Die wilden Tiere kommen erst nachts. Laßt die Höhle tagsüber offen und den Priester bei dem Räuberhauptmann.« Es gingen alle nach Haus.
Nachdem alle gegangen waren, blieb der Priester noch einige Zeit auf der Truhe über das Buch gebeugt sitzen. Dann aber richtete er sich auf und sagte: »Ich habe nun nachgerade Hunger und Durst. Die guten Leute haben, wie mir schien, allerhand Speise und Trank mit hereingebracht. Der arme Tote kann das nun nicht mehr genießen. Deshalb will ich mich ein wenig stärken.«
Der Piiester schlug sein Buch zu und legte es auf die Truhe. Dann ging er zu den Körben und nahm von den besten Speisen und vom Wein heraus. Er ging zur Truhe zurück, setzte sich neben den zugedeckten Räuberhauptmann hin und begann zu speisen und zu trinken. Der Priester sagte: »Diese Hammelkeule, dies Kisra und dieser Wein sind ausgezeichnet. Wie traurig ist es, daß der arme Mann hier das nun nicht mehr genießen kann!« Dann aß er wieder und trank eine Weile und sagte: »Die armen Toten haben es doch zu schlecht, daß sie an solchen Dingen keinen Genuß mehr haben.« Dann aß er wieder und trank eine Weile und sagte: »Dafür haben sie aber auch bei Mangel keinen Hunger und Durst. Die Toten leiden nicht, wenn sie einen guten Lebenswandel führten. Ich will nachher wieder lesen! Wie schmeckt das aber gut!«
Dann nahm der Priester noch einen Bissen, den er schmatzend verzehrte, und trank von dem Wein, so daß man es hörte. Der Räuberhauptmann hatte es am Morgen in der Eile unterlassen, gründlich zu speisen, hatte das vielmehr für die lange Zeit in der Höhle aufgespart. Außerdem lag er schon lange Zeit unter den wertvollen dicken Decken, und so ward ihm schwül und er hatte Durst und Hunger. Als der Priester nun laut und vernehmlich neben ihm eine Zeit gegessen und getrunken und die Trefflichkeit der Speisen gelobt hatte, konnte er sich nicht mehr versagen, einmal laut zu seufzen. Als er derart laut seufzte, setzte der Priester die Flasche, die er gerade zum Munde geführt hatte, ab und sagte: »Dieser Tote seufzt anscheinend über den schlimmen Lebenswandel, den er geführt hat. Wenn dem so ist, werde ich mehrere Tage an seiner Bahre lesen müssen, um ihm den Frieden im Jenseits zu erwirken. Es ist gut, daß die Leute so viel Speise und Trank hereingesetzt haben, daß es einige Tage für mich reicht!« Dann trank der Priester wieder.
Der Räuberhauptmann dachte: »Was? Dieser Priester will mehrere Tage hier bleiben? Dann werde ich vor Hunger und Durst sterben! Das ist unmöglich!« Der Räuberhauptmann erschrak. Der Räuberhauptmann warf die dicken wertvollen Stoffe von sich und richtete sich auf. Der Priester sagte: »Oho! Der Tote bewegt sich. Er muß eine große, schlimme Sache begangen haben, daß er nicht Ruhe im Tode finden kann. Sage mir, Toter, was dich bedrängt!« Der Räuberhauptmann fühlte nach der Bewegung die Schmerzen in den Gliedern. Er sagte: »Wie das schmerzt! Gib mir zu trinken!« Der Priester sagte: »Was schmerzt dich? Sage mir, Toter, was dich bedrängt! Denke, daß ich ein Priester bin.«
Der Räuberhauptmann sagte: »Ein Armer, den ich bestahl, schlug mich mit einem Ochsenschwanz!« Said riß den Ochsenschwanz unter dem Priesterkleid hervor und sagte: »Etwa mit dem da?« Als der Räuberhauptmann das sah, schrie er vor Angst auf. Said aber zog ihm einige harte Schläge über. Er sagte: »Hast du mich heute morgen nicht etwa wieder beschimpft? Nennst du diesen Betrug vielleicht den Anfang eines ehrlichen Lebenswandels?« Darauf stürzte der Räuberhauptmann vor Said auf die Knie und sagte: »Nimm mich mit dir. Teile mit mir alles, was ich habe und lehre mich einen ehrlichen Lebenswandel!«
Darauf hob Said den Räuberhauptmann auf. Er legte den Ochsenschwanz beiseite, führte ihn zu seinem Angareb und reichte ihm Speise und Trank. Dann rief er Leute aus der Nachbarschaft, die den Räuberhauptmann und alle seine Schätze in Saids Behausung trugen, so daß die Räuber, als sie abends zurückkamen, die Höhle leer und verlassen fanden. Der Räuberhauptmann ward von Said verbunden und von ihm und seiner Frau gepflegt, bis er gesund war. Said gründete mit ihm einen Handel und gewann ihn mehr und mehr zum Freund. Sie hatten sich zuletzt so aneinander gewöhnt, daß sie beide gemeinsam im hohen Greisenalter an einem Tage starben.