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Es erging nun von der Sonne aus jener einzige Strom, jene unendlich wundersame Einwirkung. Sie war garnicht mißzuverstehn. Haben Sie die Sonne erlebt, gefühlt, . . . gewollt? Die Wirkung der Sonne ist gut, sie ist göttlich, sie ist nicht mißzuverstehen. Und doch!
Und doch wird sie mißverstanden. Sie wird, sofort wie sie sich äußert, mißverstanden. Der Planet macht Tag und Nacht, Aufgang und Untergang daraus. Die einzige Sonne wird zwitterhaft in dieser Wirkung verschielt. Erde, kleines Dorf der Sonne! Welches Wunder, das du nicht spürst, weil du irdisch und nicht sonnig lebst, durchdringt deine Ängste, deine schrecklichen Quälereien! Ist Bildung, Gelehrtheit, Wissenschaft nötig, um Sonne in sich aufzunehmen? Nein, sie ist das Leben selber; wer nicht tot ist, erlebt sie. Dieser sonnige Äther, kraftströmende Duft, energischste Zartheit, göttlicher Anhauch! In welche Teufeleien wirst du von armen irdischen Teufeln, Menschen genannt, hineinverlebt! – Sie ist erhaben über Tag und Nacht, und Tag nur ihre andere Finsternis – sie, beide erleuchtend. –
Wir sind in den Gassen einer Erdstadt, einer Residenz. Goldner Abendsonnenschein flutet in das Fenster Nikanors, eines jungen Mannes, der die Sonne gern bis in sein Innerstes dringen ließ. Seine Seele schwelgte unaufhörlich in Sonnenbädern, sein Leib nicht minder. Schließlich hatte er sich ganz in diese Heliomanie verloren. Den Gesichtspunkt für alles, was er dachte, fühlte, wollte, in der Sonne nehmend, empfand er sogar seinen eigenen Menschen als unterhalb seines Sonnenselbstes, als bloßen Satelliten. –
Er schlug die blaßblaue Gardine zurück und stellte sich in die rote Sonnenglorie. Ein Geriesel lichter Flocken schien sich vor ihm zu verdichten; es nahm Gestalt an. Vor ihm stand in einem matten Schimmern ein Greis, durchsichtig wie aus Licht geronnen. Der Rumpf zeigte undeutliche 166 Konturen, aber das Haupt strahlte in leuchtender Deutlichkeit, erhaben weise mit beredten Lippen, und die Lippen öffneten sich zu folgender Ansprache:
«Endlich! Nikanor, endlich ist es uns gelungen, einen Menschen ganz für uns zu gewinnen. Endlich ein Mensch, der den Kopernikus nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch erlebt und sich, zur Führung seines irdischen Wandels, ganz und gar der Sonne überantwortet.»
Nikanor, voller Freude, sich so wunderbar bestätigt zu finden, wollte begeistert sprechen. «Sprich noch nicht», bat ihn der Greis. «Besuche uns diese Nacht, und du sollst erfahren, was wir mit dir beabsichtigen: um zehn Uhr erwartet dich ein Gefährt gegenüber deinem Hause. Du wirst kommen?» Kaum hatte Nikanor bejaht, als sich die Erscheinung in lichten Dunst auflöste. Die Sonne sank. Nikanor kleidete sich zum Ausgehen an. Also ein Signal, eine Verheißung der Sonne selber! Diese Obmacht aller irdischen Mächte wollte sich endlich mit der Ohnmacht des Geistes verbinden, der brutalen anscheinenden Übergewalt der geistlosen Mächte die echte Oberhoheit entgegenstellen. Gelang es, dem Geiste Tatkraft, der Tatkraft Geist zu geben: – gelang es, die Sonne des Geistes unmittelbar auf die materiellen Energien einwirken zu lassen, so hatte alle irdische Not ein Ende. Der Geist, mit der Sonne im Bunde, ist reich genug, um ein verschwenderisches Leben über die Erde auszugießen.
Gegenüber dem Hause sah Nikanor, als die Uhren zehn Schläge taten, einen Wagen halten. Er begab sich hinunter. Der gewöhnlich aussehende Kutscher, ihn kommen sehend, zog, vom Kutschbocke aus, die Tür mit einem Griffe auf und ließ die beiden braunen Pferde sofort anziehen, als wollte er Nikanorn jedes Wort abschneiden. Nikanor schwang sich in den Wagen. Es ging, etwa zwanzig Minuten lang, durch ein Gewirr von Gassen, der Peripherie der Stadt auf ein besseres Villenviertel zu. Der Kutscher hielt vor einem kleinen Hause mit grünlicher Holztür. Nikanor 167 stieg aus; der Kutscher fuhr wortlos ab, und sofort öffnete sich die Tür. Ein junger Mann empfing Nikanorn. Er führte ihn, über eine Art Diele, nach einem Raum, in dem sechs oder sieben Männer auf Sesseln Platz genommen hatten. Beim Eintreten Nikanors erhoben sie sich von ihren Sitzen und begrüßten ihn stumm; der junge Mann hatte sich entfernt.
Gegen elf Uhr öffnete sich eine bis dahin unbemerkte Tapetentür, und herein schritt jener Greis, jetzt vollkommen sichtbar, ein weiser Alter, gekleidet wie ein zivilisierter Mensch in Schwarz mit weißer Wäsche. Auf Nikanorn zuschreitend, begrüßte er ihn lebhaft und drückte ihm die Hand; seine Augen von allwissender Klarheit leuchteten erfreut: «Es ist schön, daß Sie gekommen sind! – Meine Herren», wandte er sich an die andern, «ich möchte jetzt nicht länger zögern, Ihnen den Plan vorzulegen. Es handelt sich dieses Mal um einen Eingriff, der vielleicht trotz allem einiges Aufsehen erregen könnte. Wir werden zwar keine eigentliche Katastrophe herbeiführen; sie würde ja, wie Sie wohl wissen, zwecklos sein, da wir ja nicht verwirren und betäuben, sondern ordnen und erwecken wollen. Aber immerhin! Leicht vergreift man sich hier in der Wahl des Mittels. Ich beabsichtige jetzt eine vorsichtige Neuregulierung.
Wie Sie wissen, haben wir diese Leute zu lange schon sich selbst überlassen. Die Sache hier schlottert und schielt bedenklich. Man könnte ja natürlich katastrophal eingreifen. Vielleicht gelingt es aber doch, indem man die Zügel straff anzieht, die Leutchen zur Raison zu bringen; das scheint mir eines Versuches wert!»
«Wie meinen Sie das?» fragte Nikanor.
«Meine Herren! Ich habe unseren Nikanor herkommen lassen, weil wir ja längst schon auf ihn aufmerksam gewesen sind. Es ist nicht mehr möglich, diese sogenannten Oberen hier in unseren Rat, ob auch noch so geheim, einzuweihen. Diese Menschen sind wackere Dorfschulzen, nichts weiter. Wir haben ja auch seit Immanuel Kant unser Augenmerk 168 auf diejenigen gerichtet, welche mehr sonnig als irdisch sind und ihre irdischen Angelegenheiten strikt von der Sonne aus betreiben. Sie wissen aber, wie schwer es uns geworden ist, nach und nach mit Nikanor ins Einvernehmen zu gelangen; er scheint auch jetzt noch nicht einzusehen, was ich meine. Nikanor, Sie wissen, daß die Sonne nie irrt?»
«Gewiß!» bestätigte Nikanor.
«Die Sonne ist unfehlbar, sie ist richtig, sie lügt nicht im geringsten. Und gerade darum führt die Äußerung eines so erlauchten Wesens in ein Labyrinth von Mißdeutungen, z. B. von Menschen. Denken Sie, Nikanor, was einem Kreis geschehen müßte, wenn dieser eines schönen Tages sein Zentrum – zwar nicht verlöre, aber vergäße. Wie würde er sich verzerren, sich selber karikieren. Kurzum, wir beschließen, den Kreis der verfahrenen menschlich-irdischen Angelegenheiten aus seiner Verschrobenheit rein wiederherzustellen, indem wir die Erinnerung ans Zentrum, an die Sonne, wieder wachrufen. Wir werden Sternheilkunde, Sternorthopädie betreiben müssen, wir Ärzte der Erde, und Sie, mein lieber Nikanor, sollen hierbei eine gewisse Vermittlerrolle zwischen uns und den Menschen übernehmen – Sie sind bereit?» «Soweit ich irgend kann.»
«Gut denn. Folgen Sie mir!» – Man begab sich in einen riesigen weißen Raum von elliptischer Form. Er war fensterlos und auf eine unerkennbare Weise künstlich beleuchtet. In der Mitte schwebte vollkommen frei eine Art Gestänge mit Hebelwerk. Aus einer metallenen Kapsel, welche darin hing, zuckten von Zeit zu Zeit feuerfarbene Radien von unregelmäßiger Form. Zuweilen spaltete sich die Kapsel auseinander, wobei die Strahlen sich noch krauser verzerrten. Es befand sich in diesem Raum nicht das allergeringste Möbel. Aber man erfreute sich einer sonderbaren Leichtigkeit der Glieder; man hatte das Gefühl zu schweben, das eine Müdigkeit gar nicht aufkommen ließ. «Nikanor», sagte der Greis, «treten Sie näher. Sie lernen hier, wie man durch das Kleine das Große regiert. Diese Kapsel steht mit dem 169 Erdzentrum in einer so genauen Funktionsbeziehung, daß, wenn ich die Kapsel willkürlich variiere, die Erde automatisch in einer proportionalen Entsprechung folgen muß.» «Aber auf diese Weise», sagte Nikanor, «könnten Sie ja mit einer verhängnisvollen Leichtigkeit – und ich wundre mich, daß noch kein Unfug geschehen ist – alles Irdische über den Haufen werfen, wie es Ihnen beliebt?» «Nein», erwiderte der Greis, während die übrige Gesellschaft lächelte, «Sie sind aus mehr als einem Grunde im Irrtum. Erstens kann hier nur die sonnenreinste Hand etwas ausrichten, der allerbeste Wille, der natürlich im Gegenteil auf die regelrechteste Ordnung aller Dinge gerichtet ist. Zweitens kann sogar dieser allerreinste Wille nichts ausrichten, wenn er sich nicht eines menschlich irdischen als Vermittler bedient – wir hoffen hierbei auf Sie, lieber Nikanor. Drittens wird es auch diesem Vermittler durchaus nicht leicht, sondern entsetzlich schwer werden und erst nach vielen Übungen und entschlossenster Befestigung im innersten Sonnenselbstvertrauen gelingen, durch diese kleine Kapsel die Erde zu konzentrieren und aufrecht zu stellen.» «Was verstehen Sie unter Aufrechtstellen?» – «Die Erdachse, also die Erde, steht nicht lotrecht, sondern schief zur Ebene ihrer Bahn. Und genau, gleichnisweise gesprochen, um den Winkel, in welchem sie gegen die Sonne geneigt ist, gehen alle Erdangelegenheiten schief.» «Das leuchtet mir intuitiv ein», sagte Nikanor, «obgleich es schwer sein möchte, es begreiflich zu machen.» «Es ist nicht so schwer, doch führt es uns zu weit ab. Wir werden es lieber zu praktizieren versuchen. Ich frage Sie nochmals im Namen aller Anwesenden: wissen, fühlen Sie, daß kein irdischer Wille, ohne den vorangängigen sonnigen, etwas Rechtes ausrichten kann; daß alle rein irdische Betriebsamkeit von Grund aus verfehlt und vergeblich ist? Wenn Sie dies wissen und fühlen, so wollen wir dann danach zu handeln versuchen.» «Ich weiß und fühle es», erklärte Nikanor einfach. Alle Anwesenden gaben ihm die Hand; der Alte umarmte ihn gerührt.
170 «So wenig», sagte er, «der irdische Wille allein etwas ausrichten kann, so wenig kann es der sonnige allein; sondern der irdische muß ihn vermitteln, ihm helfen. Das ist aber sehr selten. Wir hoffen, Nikanor, Sie können zwischen Sonne und Erde vermitteln.» «Ich möchte mir das gerne zutrauen», versprach Nikanor. «Sie würden erreichen, was noch kein Mensch erreicht hat: Sie würden die gesamte Erde zum Paradies machen. Studieren Sie nun die Kapsel. In diesem elliptischen Saal können Sie sich bewegen, in welcher Richtung Sie wollen, also auch vertikal und diagonal. Sie verspüren auch gewiß die Schwere Ihres Leibes ganz anders, viel mehr von Ihrem Willen abhängig, in den Gliedern als sonst?» «Es ist mir aufgefallen», bestätigte Nikanor. «Nun denn, schweben Sie getrost auf die Kapsel zu!» Nikanor tat es, und es gelang über Erwarten gut. Der Greis begleitete ihn. Die übrigen gruppierten sich schwebend um beide. «Diese Kapsel», erklärte der Greis, «ist, wenn Sie genau hinsehen, in Hälften, gespaltet. Beobachten Sie diese Hälften, und sagen Sie mir, was Sie denken.» Nikanor blickte mit gespannter Aufmerksamkeit hin. «Es ist,» sagte er nach einer Weile, «als ob diese Hälften einander krampfhaft suchten, als ob bald die eine, bald die andere triumphierte, während sie doch eigentlich harmonieren wollten, welches ihnen mißlingt. Ich bemerke auch, sobald auch nur annähernd eine Zentrierung dieser Gegenseitigkeit stattfindet, daß dann die Radien, welche aus der Kapsel zucken, eine reine Sphäre zu bilden scheinen.»
«Sie haben sehr gut beobachtet. Erkennen Sie aber die Bedeutung?» – «Nicht mit Sicherheit, ich vermute eine Analogie.» «Sie vermuten das mit Grund. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie durch Regulierung der Kapsel die Erde regulieren können. Die Erde ist krank. Ihr System von Gegenseitigkeiten, Hemisphäre gegen Hemisphäre, korresspondiert nicht rund und richtig, weil das Erdzentrum, von den Brennpunkten des Ellipsoids gleichsam gequält, zerrissen, überkreuzt, verschielt wird. Sie sehen die gewaltigen 171 Zerr- und Quetschkämpfe in der Gegenseitigkeit der Richtungen, in jedem Betrachte, intellektual, im Gemüte und im ethischen Willen. Sie sehen sie in der Natur, in der Kunst und in den menschlichen Beziehungen. Aller dieser Gegenseitigkeit fehlt die Mitte, die Harmonie, das Gleichgewicht, die Balance, das eindeutige Stimmen. Das aber kann nicht von der Erde selbst besorgt werden; es muß, vermittelst einer Transmission gleichsam, eines besten Willens, von der Sonne auf die Erde übertragen werden. Dieser gute Wille sind Sie, Nikanor, dieser Transmissionar; und hier, in der Kapsel, sehen Sie das Übertragungswerkzeug, welches aber nur unter der Bedingung, daß guter Wille sich seiner bedient, präzis funktioniert.»
«Was habe ich zu tun?» – «Konzentrieren Sie sich innerlichst in Ihrem Wesen absolut sonnig, welteinverstanden. Ergreifen Sie die eine Hälfte der Kapsel, – aber das wird nicht leicht sein!» Vergebens versuchte Nikanor, eine Kapselhälfte in die Hand zu bekommen, Von seinen Händen schien eine stark abstoßende Kraft auszugehen. Sowohl die eine wie die andere Hälfte prallten zurück, wenn er die Hand näherte. «Prüfen Sie sich», warnte der Greis, «vielleicht ist die Begierde, mit der Sie die Hände ausstrecken, zu heftig; vielleicht ist Ihr guter Wille so zitternd, daß gerade dieses Zittern Ihrer Güte die gute Wirkung verhindert. Sie müssen regungslos stille in Ihrem Willen werden!» –
Auf Nikanors Antlitz spielte sich ein Kampf und Krampf ab, auf einmal ward es von einer mystischen Schönheit durchleuchtet. Im selben Moment glückte es ihm, der einen Kapselhälfte habhaft zu werden; sie strahlte sonnenhell auf, indessen die andere in einem finstertrüben Dunkel beharrte.
«Halt!» rief der Alte, «jetzt oder niemals ist die Krisis da. Harren Sie aus! Bleiben Sie in sich selber ganz ruhig; ungeteilt, allein! Warten Sie ab! Die andere Hälfte muß jetzt magnetisch angezogen werden, wenn Sie nicht schwanken. Das aber mag Sie beruhigen; ist erst einmal das echte Komplement beider Hälften erzielt, so kostet es Sie von da an 172 unvergleichlich weniger Anstrengung, Ihren Willen konzentriert zu erhalten. Das erreichte Ziel des Willens hebt zwar nicht den Willen, aber dessen krampfhafte Anspannung auf.» Gleich darauf hatte man die Empfindung einer elektrischen Sensation. Die Kapselhälfte in der Hand Nikanors glühte gelborangen auf; die andere freie Hälfte begann in einem satten Blauviolett zu leuchten; zwischen beiden Hälften zuckte es bald purpurn, bald grünlich hin und her. Ein irisierender Strahlenbüschel loderte von den Kapselpolen aus durch den ganzen Raum. Nikanor stieß einen Schrei der Entzückung aus; er hielt die ganze, runde, volle Kapsel in den Händen, und durch seinen Körper ergoß sich ein Wohlgefühl sondergleichen, eine Wahrheit, welche Wollust war, und zugleich eine Willenstatkraft, welcher nichts auf Erden würde widerstehen können. «Wir huldigen dem ersten Gouverneur der Sonne auf Erden!» Alle Anwesenden waren begeistert und freuten sich mit Nikanor. «Sie lösen das alte Erdregiment ab, die alten Regentenfamilien und Präsidenten. Sie werden der erste . . . nachhistorische Fürst sein, und, da Ihre Macht nicht Konvention, sondern Natur oder vielmehr Wissen, Gemüt, Wille ist, Magier. Sie beherrschen, kraft der Sonne und kraft vor allem der Sonne in Ihnen, die Erde. Wir übergeben Ihnen diese Lokalität.» – Der Jüngling, der ihm geöffnet hatte, erschien auf einen Klingeldruck und reichte Nikanor einen Ring mit Schlüsseln. «Verabschieden Sie sich von uns. Sie werden von der Sonne aus unsere Weisungen erhalten. Die Kapsel nehmen Sie wohl in acht. Sie ist freilich nur ein Insignium; aber der Talisman, die Wappen und Zeichen der Magie des Willens sind wirklich das, wovon die irdische Heraldik nur der karikierende Vor- und Nachspuk ist. Vom Willen mit Kraft begabt, kräftigen sie rückwirkend auch wieder den Willen.» – Man begab sich mit Nikanor eine Wendeltreppe hinauf zu einer Plattform auf dem Dache. Nun ereignete sich etwas Sonderbares. Alle Anwesenden, bis auf Nikanor und den Jüngling, schwanden optisch dahin; lange goldene Garben 173 und Streifen in der Luft zurücklassend, verflimmerten die Gestalten zusehends. Der Jüngling sagte: «Ich bleibe vorläufig noch hier, um Sie in gewisse Äußerlichkeiten einzuweihen. Wundern Sie sich übrigens über diesen heliogäischen Verkehr nicht übermäßig: Der Leib, die physiologischen Funktionen sind nicht so winzig, wie sie für das Auge scheinen; sie sind, dynamisch empfunden, riesenhaft kosmisch, interastral. Der menschliche Leib ist nur die Eierschale, die Puppenhülle des echten, des zwischen Sternen mit leichter Mühe verkehrenden, dessen Schwungkraft Sie bald in Ihnen sich werden regen fühlen. – Sobald Sie jetzt aus dem Hause treten, wird man Sie unwillkürlich erkennen. Lassen Sie sich durch alle diese Sensationen nicht aus der Fassung bringen. Gehen Sie sogleich zum königlichen Schlosse und handeln Sie, wie wenn dieses zunächst Ihr Heim, Ihre Residenz sein sollte.» – Nikanor bestieg draußen eine Elektrische. Mittlerweile war es heller Morgen geworden. Das goldene Frührot eines Sommertages ätherisierte die Luft und alle Dinge in ihr. Aber wie hätten die guten Leute beim Anblicke Nikanors nicht sofort bis zur Angst erstaunen und dennoch einer geheimen Freude teilhaft werden sollen: Nikanor leuchtete und wirkte sofort wie ein sanfter Blitz. Jeder erkannte ihn auf der Stelle und fühlte sich von ihm erkannt. Jeden durchdrang sein Gedanke, sein Blick, sein Wille wie eine unmittelbar wirksame Orthopädie, welche Verrenktheiten, Verschrobenheiten, Verzerrungen rektifiziert. Einem Prisma gleich, das die sonst nur nüchterne Kontrastik von Hell und Dunkel farbig illuminiert zu verstehen nicht nur, sondern lebhaft anzuschauen gibt, zerspaltete er den Gegensatz, aus dem jeder einzelne, ohne es leicht zu merken, besteht, so empfindlich, daß er jeden in eine wohltuende Verwirrung brachte – wohltuend: denn mitten in dieser Gegensätzlichkeit meldete sich in jedem plötzlich das einheitliche Sonnenherz für deren Harmonie. Der böse Wille und Neid, woraus nach Goethe die empirische Welt sittlich besteht, empfing elektrische Schläge 174 heilsamer Natur. Nikanorn gelang es, durch seine bloße Erscheinung die Menschen sittlich zu elektrisieren. Es gibt sonderbare Schlaganfälle. Es gibt Nervenschläge der Gesundung, ja der Unsterblichkeit. Nikanor wirkte pandemisch wie eine negative Pest, eine Rekonvaleszenz sondergleichen. – So begab er sich, dynamisch armiert, mit der Waffe seines Willens allein, welche gefährlicher als jede andere, zugleich aber statt tötend immortalisierend ist, ins kgl. Schloß. Polizisten und Leibwachen, Lakaien, Kammerherren und Diener fuhren vor Nikanorn zusammen und auseinander wie Tiere vor dem Gewitter. Im Kristallsaal fand Nikanor die gesamte kgl. Familie mit dem Kreis der Intimen versammelt. S. M. erschrak vor Nikanorn bis ins innerste Herz, aber dieser tiefe Schreck führte zugleich eine fast ebenso intensive Reaktion mit sich, eine Empfindung, wie wenn Hölle und Himmel zusammengerieten. So sah es im Busen S. M. aus! In einer unwillkürlichen Regung retirierte der hohe Herr zum Thron, aber Nikanor, an ihm vorbei, stieg die Thronstufen empor und placierte sich, während der gesamte Hof mystisch erstarrte, auf dem roten Brokatsitze, der schon so manche königliche Beeindruckungen erfahren hatte. Dann zog er seine zauberhafte Kapsel hervor. Und kaum war das geschehen, als dröhnend und den Erdball durchschütternd eine Katastrophe ausbrach; aber eine Katastrophe der göttlichen in sich gegenseitigen Art, wie Nikanor kraft seiner magischen Sonnengewalt sie allein bewirken konnte. Man sollte nämlich über die Bedeutung von Katastrophen, seien es nun physische, gemütliche oder moralische, sonnenhaft umlernen! Wie die Symptome einer Krankheit zugleich deren Heilmittel abgeben, wenn der Arzt den Winken der Natur folgt, so sind alle Katastrophen Katastrophen der Überführung einer geringeren Harmonie in eine innigere, wenn man selber unverbrüchlich harmonisierender Wille, Orpheus in einem nur durch die Formel «Sonne» auszudrückenden Grade ist. Nikanor war dieses. Er zuerst inkarnierte auf Erden einen solchen orpheischen 175 Sonnenwillen. Daher auch fiel die Katastrophe, die er erregte, sich gleichsam selber in den fürchterlichen Arm. Das Schloß z. B. barst einen Moment lang auf und auseinander, zur uralten Ruine geworden. Um den Thron herum die Hofpersonen, in gräßlich modernde Leichen verwandelt, der König grün bis in sein Gerippe, umgrausten Nikanor. Doch dieser, thronend, aller Sensation geistesgegenwärtig überlegen, wartete unerschüttert ab. Und siehe da! Die Gegenkatastrophe, die «Antistrophe», die unerhört aufbauende Wirkung brach ebenso heftig herein wie vorher die zerstörende. Das Schloß erstand aus dem vormaligen wie die wunderbarste Blume aus einem Grabe. Die Menschen waren höhere Wesen geworden; Nikanor der Gott der Erde. S. M. waren der erste, der dies anerkannte. Irgendwelche Mißverständnisse gab es nicht mehr; sondern jeder kannte jeden, fühlte mit ihm mit, und sie handelten unwillkürlich mit der genauesten Grazie gegenseitiger Berücksichtigung. Schließlich richtete sich die Erdachse lotrecht zur Erdbahn auf. Eine allgemeine Tag- und Nachtgleiche, sonst etwas so Flüchtiges, erklärte sich in Permanenz, und zwar bedeutete sie die Harmonie nicht nur von Tag und Nacht, sondern aller Gegensätze aller Dinge. Bei dieser Gelegenheit stellte sich nun erst heraus, wie unecht, wie falsch bisher nicht nur Menschen, Tiere, Pflanzen, sondern sogar auch das Mineralreich gewesen war. Denn jetzt erst, als sich z. B. der chemische Gegensatz (die beschränkten, von Goethe nicht aufzuklärenden Gelehrten hatten die Welt unitaristisch, monistisch statt realdialektisch, differentistisch, polaristisch dual behandelt!!!) deutlich erklärte und harmonisch aussprach, kamen, aus den verschrobenen, verkrampften, verzerrten Stoffen die echten zum Vorschein – und echte Luft, daher Lungen und Leiber. –
Als man nun diese Januskatastrophe datieren wollte, entdeckte man kein Datum mehr; das Ende aller Kalender war angebrochen. «Nachhistorisch», hatte der Alte es prophezeit. Ist es ein Wunder? – Gibt es dann noch eine Zeit, wenn 176 der gegenwärtige Moment die Vermählung der Vergangenheit mit der Zukunft exakt bedeutet? Wenn die Gegenwart nicht mehr das Sieb der Danaiden ist? Dann verschwindet Zeit, ohne daß sie aufhörte, gegenwärtig zu sein: alle Geschehnisse, ob vergangen, ob künftig, stehen zur gegenwärtigen Bereitschaft Nikanors, des ersten Gottes der Erde, des Gouverneurs der Sonne auf Erden. 177