Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von Terr, ein Mensch, der sich, er wußte selbst nicht, wie lange, seines Todes erfreute, hatte das gespenstische Spuken, das bekanntlich Gestorbenen selten erspart zu werden pflegt, redlich satt. Über das Wiedergeborenwerden dachte er viel zu skeptisch, als daß er Anstalten dazu getroffen hätte. Auch war es, selbst wenn es glückte, mit viel zu vielen Beschwerden für Mutter und Kind verbunden. Von Terr zog es vor, sich so kräftig wie möglich zu verstellen und sich durchaus den Anschein des blühendsten Jünglings zu geben. «Da das Menschenleben» meinte er ziemlich griesgrämig, «so wie so eine Tartüfferie zu sein scheint – warum sollte ein toter Herr nicht den echtesten Tartüff des Lebens vorstellen können?»
Von Terr ging die lange Allee hinaus, die nach der Stadt führte. Das hagere, unfrohe Skelett, das er war, bewegte sich knöchern und blechern über die Erde, und die Morgensonne skizzierte die spinnenartige Arabeske seines Schattens auf die von Pferdespuren verunglimpfte Chaussee. Gar mancher Bauer sah ihm verwundert nach, auch verfehlte kein Tier, seine Haare ziemlich zu sträuben. Aber die energische Selbstverständlichkeit, mit der hier eine tote Paradoxie wie eine lebendige Trivialität daher schritt, hypnotisierte Bauern und Tiere dermaßen, daß Terr sich der Unauffälligkeit seiner Erscheinung gemächlich erfreute. «Der Tod», schnatterte er gräßlich laut mit seinen Schädelkiefern, «bedarf gar keines besonderen Übermaßes von Verstellung, um im Leben als Leben zu erscheinen. Fast fragt er sich: bin ich wirklich tot?» Erst zwei weibliche Wesen, offenbar Mutter und Kind, blieben, als sie seiner ansichtig wurden, wie vom Donner gerührt stehen. Das Weib jedes Jahrgangs hat kolossale Instinkte, Leben von Tod zu unterscheiden – und hier witterte es, trotz der rasselndsten Lebendigkeit, den Tod. Von Terr sah nicht so bald sein Inkognito 32 gelüftet, als er die Notwendigkeit fühlte, sich besser zu verstellen. Anstatt eines Skelettes stand also jetzt ein charmanter Stadtherr vor den Erschrockenen, ordentlich zivil gekleidet, faßte an die Hutkrempe und fragte höflich, wie weit es noch nach der Stadt wäre. Das kleine Mädchen schlug, während die Mutter verdutzt dastand, heftig nach der fein behandschuhten Totenhand und schrie: «Mutter, komm weiter, der tut nur so, das ist ein Schelm, der ist gar nicht richtig.» Die Mutter, ein dralles hübsches Landweib, verwies das dem Kinde, gab dem Fremden mit ängstlicher Stimme Auskunft und nahm dankend die kleine Münze in Empfang, die von Terr ihr bot. «Es ist unglaublich», sagte Terr weiterpromenierend, «wie Kinder jede Verstellung zu durchschauen wissen; glücklicherweise gibt es keine reinen Kinder; sonst könnte ich nur grade wieder weiterverwesen – und was man auch sagen möge: totsein langweilt!» Bekanntlich braucht ein Toter, der sich verstellen will, vermöge der intensiven suggestiven Illusionskraft, die er ausübt, keinerlei äußeren Behelf; sondern eben bloß die allerdings recht anstrengende und erschöpfende Fähigkeit der Verstellung. Der Tote zum Beispiel kann dir, wenn du Kellner bist, sein Trinkgeld von 0,0 so treuherzig massiv in die Hand drücken, daß du schwörst, es seien allermindestens fünfzig Pfennig. Das bleibt natürlich individuell: der tote Goethe täuscht stichhaltiger als der tote Kulike. Von Terr mietete sich in der Residenz eine elegant möblierte Etage und ging auf Abenteuer aus, die alle durch seine Unbesonnenheit und Zerstreutheit geschmacklos endeten. In dem Bestreben, seinen Tod zu vergessen, tat er oft des Guten zu viel, bis er zur Unzeit und zum nicht geringen Befremden der Lebendigen skelettartige Intermezzi spielte. Zu spuken, zu gespenstern ist für Tote freilich Kinderspiel, fällt aber auch so schwach aus, daß fast kein Lebender was davon merkt; und merkt einer was, zum Beispiel die Amme Lehmann oder das Pferd Sirius, so glauben es ihm wieder bloß Ammen und Pferde. Das ist ja die Tragödie des 33 Wunderbaren, daß es vom Gewöhnlichen ersehnt, aber nie erlebt werden kann! Um von ihm erlebt zu werden, muß es ihm gleichen, aber dadurch wird es unauffällig.
Das bißchen Stutzen der Ammen und Pferde kann Gespenster nicht über den Stumpfsinn der allermeisten trösten. Daher eben strengen moderne Gespenster sich viel mehr an – bis zur völligen Mimicry und Ununterscheidbarkeit vom Leben. Ja, es gibt einen äußerst merkwürdigen Ausspruch eines Gespenstes, das wegen dieser Indiskretion seine ganze Beliebtheit bei den Kommilitonen eingebüßt hat. Es ließ nämlich durchblicken, daß man unfreiwillig bis zur greifbaren Illusion spuken könne; und daß vielleicht – (man lächle ob dieses diplomatischen Vielleichts!) – also daß vielleicht alle tot wären, weil sie es würden!! Es ist nichts peinlicher, als wenn Tote aus der Schule plaudern. – Der allerböseste Streich von Terrs war, daß er ein argloses Mädchen in sich verliebt zu machen verstand, bis es ihm blindlings in seine bel étage folgte. Liebe ist bekanntlich für tote Leute der feinste Leckerbissen. Sie haben Kreuze gern, Kränze gern, Gebetlein gern; überhaupt alle Gräber-Annehmlichkeiten, welche die Lebendigen ihnen gönnen – aber von Terr gehörte zu den anspruchsvollen Toten, die ein echtes Furioso der Liebe verlangen, und so freute er sich, daß Fräulein Pietsch ihm bevorstand. Er nahm sie also mit sich, und wie verstellte Kadaver nun mal sind, überbot er sich dermaßen in Galanterien, daß er sich im Vorsaal bereits wieder Skelett werden fühlte: gibt es zur Liebe etwas Ungeeigneteres als ein Knochengerüst? Aber die Liebe tut ja Wunder, bis in das Rückgrat hinein – wie hätte sie nicht hier, wo sie es so leicht hatte, eins zeitigen sollen! Die Pietsch rühmte Herrn von Terrs feste Gebeine, ihr war aber nicht allzu wohl dabei. Endlich riet sie ihm, sich besser zu pflegen, sie empfahl ihm eine Mastkur; sie war der ahnungsloseste Engel, in Armen ruhend, die sich merklich verknöcherten. Da seufzte von Terr auf und lispelte ihr ins Ohr:
34 «Ist nicht ein Skelett das wahre Filigran der Zärtlichkeit? Ist nicht die Plastik das hemmendste Hindernis der Vereinigung? Entzückend ist der Kuß zweier Schädel ohne diese garstige Einschaltung der widerlich fleischernen Lippen. Ach mein Kind, diese Maske aus rinnendem und geronnenem Blut von den Knochen werfen zu können – ist das nicht der Triumph der Liebe? Tod ist nackte Wollust!» Während er so dozierte, wo er entschieden der Pietsch anders hätte dienen sollen, tat er mehr und mehr, was er sagte: man stelle sich gefälligst die Gefühle der Pietsch vor, als sie sich die Braut eines Gerippes erkennen mußte –! Sie stieß . . . das heißt sie wollte einen jener entsetzlichen Schreie ausstoßen, wie er kunstgerecht von enttäuschten Jungfrauen fabriziert zu werden pflegt; aber erstlich erstickte ihr die Stimme in der Kehle, sodann gab ihr Entsetzen dem Heuchler neue Verstellungskräfte, und ihr ganz passabler schlanker Kavalier von vorhin fragte, was ihr sei, und verbat sich energisch alle Hysterie. Die Pietsch erholte sich mühsam, sie stöhnte und sprach etwas von Alpdruck und dergleichen. «Was reden Sie auch für törichtes Zeug», schalt sie mit schüchterner Schelmerei, «ich bin so wahnsinnig suggestibel, ich sah Sie wahrhaftig einen Augenblick lang als Schädel – puhhh!»
«Na? Und das hätte Sie wohl gestört? Wie?» erkundigte sich von Terr malitiös genug, und mit dem Mut zur furchtbarsten Deutlichkeit vollzog er blitzschnell die praktische Osteologie, um sofort wieder der hagere Amoroso zu sein. Jetzt hatte die Pietsch gar keine Zeit gehabt, sich sonderlich zu entsetzen, sie war dermaßen – wie sagt man? – paff, daß sie regungslos erstarrte, und zwar in der komischsten Pose von der Welt, mit zum Kuß gespitzten Lippen, dabei lauter Grausen in den Mienen. Von Terr gab sich weiter keine Mühe mit ihr und sich, er lüftete permanent sein beinernes Inkognito, erfaßte ihre Hand und röchelte klappernd:
«Schau ich nicht Aug in Auge dir?
Und drängt nicht alles nach Herz und Busen dir? 35
Und webt, in ewigem Geheimnis, unsichtbar, sichtbar neben dir?»
Da gab das Herz der Pietsch die zurückgetretenen Blutwellen langsam zurück, das brennende Rot weiblicher Empörung drang in ihre Kreidewangen:
«Ich bin das Opfer eines Elenden geworden», zeterte sie halbohnmächtig. In leichtestem Kostüm begab sie sich zu ihrer Mama. Schweigsam ging sie ihren Pflichten nach. Selbst Mama erhielt auf tausend leicht begreifliche Fragen keine Antwort, und von Terr wären alle Unannehmlichkeiten erspart geblieben – wenn nicht . . . wenn die Pietsch nicht nach knapp dreiviertel Jahren einem kleinen Tode das Leben gegeben hätte, der vom Vater ganz gewiß mindestens die Statur hatte! Ja, da brach sie ihr rätselhaftes Schweigen, und von Terr, auf Alimentierung verklagt, zuckte reuig seine anspruchslosen Achseln; es floß auch ein bißchen Rhetorik über seine dürren Kiefern.
«So rächt sich jede Ehrlichkeit in der Liebe und im Leben; jede Minute, wo man sich kein Fleisch auf die Knochen lügt, jede Nacktheit wird sofort mit dem Tode gebüßt, und gerade das unverstellteste Leben ist ein totgeborenes Kind.» 37