Mynona (Salomo Friedländer)
Rosa die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken
Mynona (Salomo Friedländer)

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Die langweilige Brautnacht

«Wer möchte sich nicht gern verwandeln? – In ein edles Kavalleriepferd, in ein schönes Mädchen, einen Husarenoberst, in Walter von der Vogelweide, in eine Ameise oder einen Bergkristall? – Ist es nicht entsetzlich, immerfort dieselbe Form mit geringen Variationen beibehalten zu sollen? Ist Proteus nicht das beneidenswerteste aller Wesen? Oh, dieser eigne Leib, dieses Gefängnis, diese Isolierzelle! Diese stehenbleibende Grimasse und Fratze! Wenn einem derselbe Tropfen immer wieder auf den Schädel fällt; man denselben Ton unaufhörlich hört; und sei es die schönste Melodie, man kriegt sie endlich satt, wenn sie sich tagtäglich wiederholt. Wie hält man das aus! Ah, man hält es eben nicht aus – man stirbt: dies ist gewiß der eigentliche Grund des Todes. Man würde nie sterben, wenn man sich in immer neuen Gestalten tummeln dürfte; vielleicht ist der sogenannte Tod nur Metamorphose, aber unkontrollierbare, unwillkürliche, in finstres Geheimnis getauchte?» –

Der Herr, der so grübelte, saß in einem hellgelben Nankinganzug auf einem mausgrauen Biedermeiersofa. Die Wände des Zimmers waren lila tapeziert. Auf einem runden Tischchen stand ein Rauchservice, aber Bolko rauchte nicht; er quälte sich mit derartigen Gedanken. Aus dem Glasscheibenschrank blitzte golden seine Märchenbibliothek. Seine Phantasie hatte sich gegen drei Jahrzehnte mit Wundern überfüttert, und nun fand er sein Leben immer monotoner; er sehnte sich verzweifelt nach Abwechslung, Verwandlung, Überraschung. Er ging zu sogenannten Zauberern, in deren Vorstellungen; in Läden, wo Zauberapparate feilgeboten wurden; in Jahrmarktsbuden mit magischen Theatern. Er besuchte Hypnotiseure, hysterische Frauen, Irrenhäuser und Kultusstätten. Er las die Mystiker und Mythologen. Schließlich ging er auf Reisen, welche ihn bis Indien und Tibet führten; mit dem Resultate, daß er allen Zauber 138 faul, hokuspokerig, schwindelhaft fand. Ein alter Mann, der es gut mit ihm meinte, weil er die Not seines Herzens erkannt hatte, verwies ihn auf das Studium der Physik. Aber von dort aus verlor er sich leider in müßige Spielereien, zuletzt in alchemistische Fiktionen. Schließlich wußte er sich keinen Rat mehr; er resignierte, stagnierte, wurde spleenig. Mitunter schlief er eine Woche lang ein. Er zitierte oft Leopardis: «Nichts lebt, was würdig wäre deiner Regungen!» Und nur der Gewohnheit folgend, ging er noch mitunter in ein Variété oder eine ähnliche Veranstaltung.

Auch heute, um die neunte Abendstunde, griff er nach Stock und Hut, um sich wenigstens eine imaginäre Abwechslung zu gönnen. Als er melancholisch durch die Straßen schlenderte, in der Hoffnung, etwa ein neues Kino, einen neuen Schwindel zu entdecken, fühlte er sich plötzlich an seinem Rockärmel gezupft. Ein blutjunges Mädchen von verhungertem Aussehen sah ihn flehentlich an, ohne etwas zu sagen. Bolko, erotisch längst blasiert, wollte seinem Geldbeutel eine Münze entnehmen – allein, das Mädchen wehrte ab. «Wie?» fragte er, «ist es etwa zu wenig?» – «O nein, ich danke Ihnen sehr, mein Herr», versicherte das Mädchen, «aber mein Vater bemerkte Sie soeben und schickte mich zu Ihnen, damit ich Sie zu ihm hole. Er ist gelähmt. Er hat viel von Ihnen gehört, und als er, am Fenster sitzend, Sie unten vorbeigehen sah, bestand er so heftig darauf, daß ich Sie zu uns hinauf bäte, daß ich mich dazu entschließen mußte. Bitte enttäuschen Sie den alten Mann nicht; kommen Sie mit mir. Es ist ungewöhnlich; aber mein Vater behauptet, Sie lieben gerade das Ungewöhnliche, und Sie würden bei ihm noch viel Ungewöhnlicheres finden!» Bolko war eigentümlich berührt, fast unangenehm. Was ihn aber bewog, die Aufforderung nicht unwirsch abzulehnen, war die unter dem betrachtenden Blicke sich immer überwältigender hervortuende Schönheit des Mädchens, schöner noch dadurch, daß sie durch Elend verkümmert schien und die Phantasie zur idealisierenden Vollendung 139 zwang. «Woher kennt mich denn Ihr Vater?» fragte er, indem er sich schon zu folgen anschickte. «Mein Vater ist Optiker gewesen; er kam früher oft mit einem älteren Herrn, einem ihrer besten Freunde, dem Professor B. zusammen, dem bekannten Physiker. Ich erinnere mich, daß Ihr Name öfters erwähnt wurde. Der Professor fand Sie phantastisch, während mein Vater sich Ihrer annahm, Sie gegen ihn verteidigte. Um was es sich handelte, habe ich nicht verstanden. Mein Vater beschäftigte sich besonders mit der Fabrikation von Spiegeln.»

Sie langten vor einem schmalen, niedrigen Häuschen an, das zwischen riesigen Mietskasernen stand. Über ein Fenstersims des ersten Stockwerks hatte sich ein alter Mann gebeugt. Er winkte hinunter. «Mein Vater», sagte das Mädchen, und öffnete die mit Eisenstäben vergitterte Glastür. Sie schritt mit leichter Anmut voran. In einem geräumigen Wohnzimmer am Fenster saß der Alte auf einem hohen Lehnstuhl. Er grüßte freundlich: «Meine Tochter wird mich entschuldigt haben, daß ich Ihnen nicht entgegengehe.» Bolko reichte dem Alten die Hand und rückte sich einen Stuhl in seine Nähe. Welches merkwürdige Greisenantlitz! Voller Geist, Gemüt und Energie. Aus den hellen, klaren Augen sprach erfinderischer Verstand. «Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen?» fragte Bolko. Der Greis schickte seine Tochter hinaus: «Bringe uns eine Aufwartung, Melitta! – Ich habe Ihren väterlichen Freund, den Professor B., gekannt», begann der Greis. «Er erzählte mir manchmal von Ihren Ideen, Ihren Träumen und Wünschen. Wir kamen darauf, weil ich mich mit ähnlichen Ideen, aber mehr physikalisch, trug und noch trage. Mir ist auch einiges gelungen, was ich Ihnen anvertrauen möchte. Ich sah Sie früher oft, ohne daß Sie von mir wußten. Wäre nicht unser Unglück gekommen, mein Bankrott (ich lebe von dem, was unsere Gläubiger mir bewilligen, da sie auch jetzt noch auf eine Erfindung hoffen), der Tod meiner Frau, meine Lähmung, so wären wir längst miteinander bekannt. Sie haben 140 wohl Ihre alten Hoffnungen auf die Möglichkeit leiblicher Verwandlung längst ad acta gelegt?» «Ach!» sagte Bolko, «es scheint so, als ob wir resignieren könnten. Aber wie erwachen sofort wieder alle scheintoten Illusionen, wenn man uns, wie soeben Sie, mit dem Schatten einer Erfüllung winkt. Haben Sie denn wirklich etwas gefunden?» –

Die Zimmertür öffnete sich. Melitta servierte lieblich – sie hatte eine zierliche weiße Schürze umgebunden – Tee und Keks. «Melitta», bat der Greis, «ich möchte in die Werkstatt; aber jetzt wollen wir uns erst erfrischen.» «Bitte mein Fräulein.» Bolko erhob sich und bot Melitta einen Stuhl an, «wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?» Melitta setzte sich lächelnd. Der Alte blickte von Bolko zu Melitta. Man genoß eine Weile schweigsam den Tee. «Ohne Melitta», rief dann der Alte, «wäre ich verloren. Glauben Sie ja nicht, daß sie mir nur mechanisch zur Hand geht. Sie ist meine richtige Mitarbeiterin, hat tüchtige, wenn auch mehr praktische als theoretische Kenntnisse in der Physik, besonders Katoptrik.» «Nun», meinte Bolko, «eine junge Dame beschäftigt sich gewiß gern mit Spiegeln, besonders wenn sie ähnlich wie Narziß von ihrem Abbilde angezogen wird.» «Ach», sagte Melitta, «was Vater aus Spiegeln hervorzuzaubern versteht, ist so interessant, daß ich gar nicht auf die gewöhnlichen eitlen Gedanken verfallen kann.» «Ich möchte offen gegen Sie sein!» sagte der Alte bedächtig und stellte seine ausgeleerte Tasse hin, «ich begehe ein Unrecht, wenn ich Melittas sehr zarte Gesundheit meinen Experimenten aufopfere; das ist mit ein Grund, weswegen ich Sie zu interessieren suchen mußte. Denn sehen Sie, wie es zu gehen pflegt; unsere Unterstützung reicht nicht hin, um zugleich meine Sache und unser leibliches Wohl zu fördern. Meine Versuche kosten mehr Geld, als ich verantworten kann. Sehen Sie, daher hoffe ich, wenn Sie das bißchen Erreichte anerkannten, daß Sie vielleicht zu mäzenatischer Beihilfe geneigt sein möchten?» «Mein Herr» – Melitta kam Bolkos Antwort rasch zuvor, – «nehmen Sie Vaters Worte 141 nicht so ernst! Es ist schon eine typische Wendung bei ihm geworden. Er möchte natürlich gern wie früher im größten Stil operieren und fahndet immer auf Möglichkeiten.» «Mit Recht, Fräulein Melitta! Ich finde es empörend, daß die Gläubiger, da sie doch Hoffnungen auf Ihren Vater setzen, ihn unzulänglich finanzieren; möglicherweise sind sie mehr seine als er ihr Schuldner; ich wenigstens habe das günstige Vorurteil, daß es sich um eine unerhörte Erfindung handelt.» «Sie sollen aber nicht», sagte der Alte, «vorurteilen, sondern urteilen. Melitta, rolle mich ins Laboratorium!» «Gestatten Sie» – Bolko sprang auf und ergriff die Rückenlehne des Armsessels. «Wohin ist der Stuhl zu transportieren?» Melitta öffnete eine Tür, die auf einen kleinen Korridor führte. «Hier gegenüber ist unser Arbeitsraum.»

Bolko, der den Stuhl vor sich herrollte, empfing einen eigentümlich trostlosen und zugleich feierlichen Eindruck. Der Raum, von der Größe eines kleinen Saales, war schwarz getüncht; auch Decke und Fußboden. Eine einzige Scheibe aus Kristallglas bildete vorhanglos das Fenster. Man unterschied im übrigen einen Tisch mit milchweißer Platte auf schwarzen Beinen, einige schwarze Schemel, ein schwarzes Regal und einige Apparate von der Form eines Skioptikons oder einer photographischen Kamera. Aus der Mitte des Plafonds über der Tischplatte ragte eine schwarze Röhre. «Das ist nach meinen Angaben eingerichtet. Ich wollte, man könnte die Luft in diesem Raume schwarz färben. Für optische, besonders katoptrische Experimente ideal! Läßt sich rasch total verfinstern, total erhellen; nichts stört, nichts lenkt ab. Bitte setzen Sie sich an den Tisch. Und Melitta, du bist so gut und rollst den Spiegel herauf.» Melitta ergriff eine metallene Kurbel und drehte sie wiederholentlich um, man hörte ein surrendes Geräusch in der Tiefe. Aus dem Fußboden, parallel zum Fenster an der Wand gegenüber, stieg langsam eine ungeheure Spiegeltafel bis zur Decke empor; auch an den Wänden schloß sie dicht an. Der Raum hatte sich verdoppelt. Bolko stieß einen 142 Ruf des Entzückens aus. Er galt der makellosen Reinheit des Spiegels, einer so durchsichtigen Reinheit, daß sie substanzlos schien, ein spiegelblankes Nichts, eine ätherische Reflexion. «Gib einen Hammer, Melitta», forderte der Alte, «gib ihn dem Herrn.» Bolko war erwartungsvoll; er empfing aus Melittas Händen einen schweren, eisernen Hammer. «Versuchen Sie nun», rief der Alte, «den Spiegel zu zertrümmern!» «Was?» zögerte Bolko, «nie und nimmer! Das wäre ein Verbrechen! Es kann nicht Ihr Ernst sein?» «Mein vollster Ernst! Vertrauen Sie mir: Es ist unmöglich, daß Sie den Spiegel zerbrechen. Versuchen Sie's!» Bolko tippte vorsichtig an den Spiegel; man hörte keinen Ton. «Ach bitte», sagte Melitta, «schlagen Sie getrost so kräftig wie möglich zu; es macht nichts.» Bolko holte zum Schlage aus; der Hammer flog ihm mit voller Wucht aus der Hand, fuhr in den Spiegel hinein, man hörte ihn hinter der Spiegelfläche niederpoltern; er war verschwunden; aber der Spiegel glänzte in unversehrter Blankheit. Unwillkürlich hatte sich Bolko vorgebeugt, um den entglittenen Hammer zu erhaschen, dabei verlor er sein Gleichgewicht und stürzte vornüber mitten in den Spiegel hinein. Er hatte die Empfindung einer elastisch flüssigen Masse. Melitta zog ihn resolut zurück. Der Spiegel, in dem sich ein tüchtiges Loch gebildet hatte, schloß seine zerrissene klare Haut zusehends wieder zusammen, er gerann gleichsam wieder, seine Fläche zitterte ein paarmal wellenartig hin und her, dann spannte sie sich wieder in unberührter Reinheit aus. Bolko war tief entzückt. «Aus was ist der Spiegel», fragte er. «Seien Sie von jetzt an gänzlich unbesorgt. Ich bin so durchdrungen von der Wichtigkeit und Wirksamkeit Ihrer Experimente, daß ich Ihnen mein Vermögen mit Freuden zur Verfügung stelle. Aber weihen Sie mich ein! Aus was ist dieser Spiegel?» «Ich danke Ihnen», sagte der Alte, «ich fühlte, daß es Ihnen um die Sache geht, und gewiß sollen Sie eingeweiht werden. Aber Geduld! Es handelt sich hier um sehr schwierige chemische Analysen, um einen zähflüssigen, gummiartigen 143 Stoff, mit welchem das Quecksilber amalgamiert wird, ein Nonplusultra zugleich an Elastizität, wie Sie sehen. Das ist aber noch lange nicht alles. Unser Spiegel leistet mehr, viel mehr. Bevor ich Ihnen die Wunder erkläre, will ich sie Ihnen erst zeigen. Diese seifenblasendünne elastische Spiegelhaut kann ebenfalls wie eine Seifenblase irisieren. Melitta, verfinstere das Zimmer.»

Während unter Melittas Händen eine schwarze Wand sich dicht vor das Fenster schob, klagte der Alte beweglich, daß er gelähmt wäre. «Ohne alle diese gräßlichen Hemmungen, bester Herr – wie hätte ich längst meine Erfindungen, welche auf einer bestimmten Linie, in einer gewissen Richtung, akkurat nämlich der leiblichen Selbstverwandlung auf künstlichem Wege, vermittels Spiegels, liegen, vervollkommnet!» Das verfinsterte Zimmer war jetzt künstlich beleuchtet, und zwar in farbloser Helle. «Nunmehr», sagte der Alte, «färben wir den Spiegel.» Er hantierte an einigen am Tischrande befestigten Knöpfen. Der Spiegel glühte prächtig in bunter Schillerung auf. Sodann durchlief er sämtliche Färbungen der Reihe nach vom dunkelsten Indigo über Blau, Grün, Purpur, Orange hinweg, bis zum blassesten Gelb. «Sie sehen, der Spiegel nimmt sämtliche Farben mit Leichtigkeit an. Indessen kann auch ein und dieselbe Farbe verschieden sein, je nachdem sie an verschiedenen Stoffen erscheint; und auch diese Verschiedenheit, diese Skala der Textur, ist der Spiegel imstande, nachzuahmen. Schauen Sie her!» Die Spiegelfläche schien aus rotem Atlas, sie verwandelte sich in roten Samt, rotes Leder, rotes Leinen, roten Marmor, kontinuierlich in jede nur mögliche Nuance der Textur. «Ganz herrlich! Meisterhaft!» bewunderte Bolko. «Aber bitte», wehrte der Alte ab, «das ist ja noch gar nicht erstaunlich! Farbige Beleuchtung – es gab, es gibt Ähnliches, wenn man auch die Technik der Texturimitation dabei vernachlässigte. Gesetzt, Sie hätten die armseligste Zimmereinrichtung, das proletarischste Interieur, so könnte diese Beleuchtung seidene Tapeten, Sammetgardinen, 144 goldenes Tafelgeschirr auf Damastgedeck hervorzaubern, marmornen Fußboden, Ebenholzplafond. Es wäre etwas für Bühnenregisseure, nicht wahr? – Immerhin aber ist es nicht das, was ich als Verdienst für mich in Anspruch nehme. Ich berücksichtige die Variationen der Färbung und Textur eigentlich nur der Form zuliebe; ich variiere die Gestalt des Spiegels und dadurch diejenige der Spiegelbilder. Melitta, den Proteus!» Melitta rückte den skioptikonähnlichen Apparat heran, der eine Tastatur mit Zeigerwerk aufwies. «Schalte den Spiegel an», kommandierte der Alte. «Nun sehen Sie, hierdurch beherrsche ich jeden nur möglichen Formenreichtum, sei es in kopierender, sei es in frei erfindender Manier. Ein schöpferischer Künstler, der sich, statt des Pinsels oder Meißels, dieses Apparates bediente, würde im ätherischen Material der Reflexion sein Werk hervorzaubern.» «Oh, da ist mir noch vieles dunkel», sagte Bolko. «Das glaube ich gern», stimmte der Alte zu, «es soll Ihnen aber bald deutlich werden. So zahlreich die möglichen Formen sind, so gibt es doch nur wenige Elemente. Der Raum ist uns gegeben, und die Arten, ihn zu begrenzen, sind leicht übersehbar. Ich wölbe den Spiegel oder platte ihn ab, und kann dieses beides auf zahllose Weise tun. So beherrsche ich Farbe, Form, Textur und damit das gesamte Reich des Gesichts. Dieser Apparat nun hier, welchen ich Proteus nenne, ist empfänglich, sensibel, für alle, auch für die Gesichtsempfindungen. Studieren Sie den Kantianer Ernst Marcus! Dieser bewundernswürdige Erkenntnistheoretiker weist mit überzeugender Schärfe nach, daß die Sinnesempfindung nicht etwa nur von den äußeren Gegenständen aus in der Richtung auf unser Gehirn, sondern mit ebensolcher Energie vom Gehirne aus nach außen hin, in der Richtung auf die Gegenstände erfolge. Von unserem Leibe, unserem Gehirn, speziell also auch vom optischen Nervenzentrum aus, flutet ein ätherischer Empfindungsstrom ins Weltall, z. B. bis zur Sonne, also auch bis zur Sonne im Spiegel. Dieser Empfindungsstrom durchbricht die Schädelkapsel ebenso 145 leicht wie die Materie des Spiegels. Mein ‹Proteus› nun leitet diesen Strom zum Spiegel hin, und der Spiegel gehorcht minutiös genau der ihm dadurch erteilten Direktive. Tastatur und Zeigerwerk dienen der eventualen Fixation aller erscheinenden Gebilde. Inwiefern es aber möglich sein sollte, das Gebiet der Optik zu überschreiten und sämtliche Sinne in den Wirkungsbereich des Apparates einzubeziehen, werden wir später sehen. Was wünschen Sie erscheinen zu lassen?» – «Das ist ja toll! Ich kann es kaum für möglich halten. Wenn ich Sie recht verstanden habe, kann ich meine eigenen Phantasievorstellungen vermittels des Apparates in den Spiegel projizieren?» «Gewiß! Der Spiegel reflektiert, was Sie wollen, wenn Sie es nur gehörig anschaulich wollen. Geben Sie acht!» Die weiße Tischplatte bedeckte sich plötzlich bunt mit dem beweglichen Miniaturbilde der Außenwelt. Der Alte hatte an einer Schnur gezogen; die Röhre am Plafond über dem Tisch erwies sich als ein Linsensystem enthaltend, wie man es von der Camera obscura her kennt. Er stellte nun den Empfänger seines ‹Proteus› genau auf das Bild ein, und sofort erschien dieses . . . aber man konnte nicht mehr sagen: im Spiegel, sondern der Spiegel, der Reflex nahm körperlich die Form der abgebildeten Dinge an. Es war zauberhaft. Eine frei im Raum schwebende kleine Welt. Bolko war begeistert. Seine Augen suchten die Melittas, und beide fanden sich in einem Blicke der Bewunderung, der unwillkürlich ein Gran Erotik enthielt.

«Ich rate Ihnen», sagte der Alte, «Ihr eigenes Spiegelbild zu variieren. Ich erinnere Sie, daß Sie die Selbstverwandlung beabsichtigten.» Bolkos Ebenbild erschien in lebendig wallenden Konturen. «Wie wünschen Sie es alteriert?» fragte der Alte, «das ganze Menschen-, Tier-, Pflanzen-, ja Mineralreich steht Ihrer Auswahl zur Verfügung.» «Ich wähle das Fräulein Melitta», sagte Bolko und griff leidenschaftlich nach Melittas Hand. Melitta wich erschreckt zurück. «Was soll das?» stieß der Alte hervor. «Suchte ich denn nicht mein anderes Ich?» erregte sich Bolko. «Hier in 146 Melitta habe ich es gefunden. Vergeben Sie mir beide! In diesem Rausch der Begeisterung fühlt meine Sehnsucht sich endlich am Ziel. Ich fühle, daß ich Melitta will. Ich will sie, d. h. ich möchte sie selber sein! Ich möchte mich in nichts verwandeln als in Melitta. Wie könnten Sie mir das verargen?» «Ist es so gemeint?» rief der Alte. «Ei, das ist ein sonderbares Experiment. Aber wie denkt meine Melitta darüber?» – «Oh, Fräulein Melitta, ich hätte nicht den Mut gefunden, mich zu offenbaren, wenn ich ihn nicht aus jenem Blicke des Einverständnisses hätte schöpfen dürfen. Ich bitte Sie im Beisein Ihres Vaters um Ihre Hand.» Melitta, statt aller Antwort, umarmte ihren Vater; dieser aber gab sie mit sanfter Gewalt in die sich öffnenden und um das Mädchen zusammenschließenden Arme Bolkos. Die Lippen fanden sich im ersten Kuß. Dann umarmten die beiden den Vater. «Und ich will Ihr gehorsamster Lehrling sein, lieber Vater», gelobte Bolko. «Gut denn! Aber Kinder, experimentieren wir doch weiter! Sie wollen die Hand meines Mädchens, lieber Bolko? Und doch hatten Sie etwas Besseres, etwas Vollendeteres im Sinn, als dieses konventionelle Sichkriegen in einer Ehe. Sagten Sie nicht, Sie wollten Melitta sein, und willigte Melitta nicht in diese Vereinigung – möchtest auch du nicht lieber er sein als du?» «Vater! Vater! du hast immer nur Experimente im Kopf, auch wenn es sich um mein Glück handelt. Ich darf es sagen, ich hätte dich, Bolko, nicht so formlos von der Straße geholt, wenn es mir nicht längst um dich zu tun gewesen wäre; ich kenne dich längst.» Bolko jauchzte. «Aber trotzdem möchtest du nicht lieber ich sein als du; während ich so gern in dir aufgehe und den Bolko in dich verwandeln möchte.» «Ach, Bolko, doch! Solche Wünsche sind, wenn man liebt, immer gegenseitig.» «Und glücklicherweise», erklärte der Alte geheimnisvoll, «sind sie hier einmal vollends zu verwirklichen.» «Wie das, bester Vater?» erkundigte sich Bolko. «Genau so!» gab der Alte zurück und machte sich am Apparate zu schaffen. Bolkos Spiegelbild nahm immer deutlicher 147 Melittas Gestalt und Züge an. Bolko lachte vor Freude. «Nun umgekehrt», lächelte der Alte, und transfigurierte Melittan wieder in Bolko. «Genug jetzt, Vater», bat Melitta, «wir feiern heut unser Verlöbnis.» Der Alte aber bestand mit eigensinniger Hartnäckigkeit auf Beendigung des Experimentes, und Bolko sekundierte ihm gegen Melitta, so daß sie sich fügte. «Denn es lief doch», eiferte der Alte, «auf die wirkliche leibliche Selbstverwandlung hinaus. Zu diesem Zwecke genügt das rein optische Darstellen nicht; wir müssen alle anderen Empfindungen, besonders das Getast, hinzuziehen. Und dieses Experiment verspricht um so eher zu glücken, als in unserem Falle ja die innerste Gemütsempfindung sein Gelingen herbeisehnt. Haben Sie, lieber Bolko, jemals den Einfall gehabt, die Rückwirkung des Spiegelbildes auf das Original zu bedenken? Jawohl, das Aussehen des Menschen wäre ohne den Spiegel gewiß ein anderes. Der Spiegel übt eine drastische, das Original verändernde Wirkung aus. Ich habe diese Wirkung gründlich erforscht und bin dadurch in den Stand gesetzt worden, die Ursache in ihrer Energie vielfach zu intensivieren. Alle Empfindungen sind die spiegelhaften Reflexe unserer eigenen Projektionen. Und wer in das Geheimnis dieser Reflexion nicht nur optisch, sondern auch akustisch, osphresiologisch, in jedem Sinne, bis in das Getast eingedrungen ist, der vermag durch die erhöhte Wirksamkeit des Reflexes das Original selber zu ändern. Das ist mir gelungen. Das erst ist meine eigentliche Erfindung, mit der ich euch vertraut machen möchte.»

Melitta, in einer bangen Ahnung, widerriet diesen versucherischen Versuch. Aber der Alte und Bolko ließen nicht locker, bis sie ihre Zustimmung gab. Im Spiegel verschmolzen jetzt Melitta und Bolko zu wundersamer Vereinigung in einem Geschöpf, das, in sich selber hin und her schwingend, bald mehr Bolko, bald mehr Melitta zu sein schien. Der Alte drehte ein paar Schrauben am Apparate und bewegte ein paar Griffe. Melitta seufzte tief auf, sie näherte 148 sich, wie magnetisch angezogen, dem Bolko. Ein sonderbarer Angstschrei aus zwei Kehlen rann in einen Wonnelaut zusammen. Die völlige Vereinigung der Liebenden in einem einzigen Leibe ereignete sich vor den Augen des entzückten Alten. Die Kleidungsstücke des vormaligen Paares bildeten eine grotesk entstellende Verwirrung. «Meine Kinder», sagte der Alte, «werdet ihr mir vergeben, wenn ich euch eine (vielleicht aber für euer Heil nicht nur nicht schlimme, sondern notwendige) Verlegenheit eingestehe: ich kann euch nicht mehr trennen.» «Himmlisch!» rief die Gestalt, von der es unbestimmbar bleibt, ob sie Melitta oder Bolko heißen darf. Die glücklichste Vermählung war vollzogen, eine unter Menschen unerhörte Hochzeit. Aber wie langweilig war die Brautnacht, welche darauf folgte! Die gegenseitige Begierde ist nett neutralisiert, wenn man in der Tat eins geworden ist. Gibt es keine eigentliche Wollust der Vereinigung, so gibt es aber dafür auch keinerlei Schrecknis der Entzweiung. –

Der alte Vater erfreut sich des gehorsamsten Kindes. Großvaterfreuden sind ihm freilich versagt. Sehr lachten die drei oder vielmehr zwei über die Formalitäten des Polizeiausweises und des Standesamtes. Der Fall war einzig, er kam vor den Reichstag. Der ärztliche Sachverständige, Herr Dr. Wilhelm Gließ, behauptete, das Geschlecht dieses neuen Hermaphroditen wechsle ähnlich ab wie die Phasen des Mondes; er sei bald Bolko, bald Melitta. Die Bürokratie verzichtet gern auf solche Nuancen; man fertigte für Bolko den Totenschein aus, und der Alte freute sich wie ein Kind mit seinem Kinde. 149

 


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