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Am 21. August 1910 wurde der bejahrte Schauspieler Giselher Nesselgrün so sentimental, wie er es sonst nur Weihnachten war, und mit einer von der Theatromanie begünstigten Einbildungskraft versetzte er sich in eine so festliche Stimmung, daß er beim Gärtner ein Tannenbäumchen erstand und alles irgend Nötige zur Ausschmückung und gehörigen Bescherung einkaufte. «Das ist doch geradezu lächerlich», knurrte er, «die Feste zu feiern wie sie fallen! Die Natur ist nur eine Art unbequemes Theater mit unübersehbarer Regie – ach! und mit lumpiger Gage. Corrigeons la nature!» Gegen Abend entzündete Nesselgrün die ganze Pracht, sein Phonograph ließ einen herrlichen Choral ertönen. Der alte Herr schellte, seine Wirtin kam und geriet über das Ungewöhnliche in einige Besorgnis. «Ihre Kinderchen, bitte!» rief der alte Herr. «Ja, aber Herr Nesselgrün, mit Weihnachten hat es doch noch Zeit – fühlen Sie sich wohl?» – «Ich danke, Frau Julke; also bitte, die Kinder!» Die Kinder erschienen, von Frau Julke ängstlich behütet, zwei Buben, ein noch ganz kleines Mädchen. Sie brachen in ein gräßliches Halloh aus, als im Moment ein kleines Tischfeuerwerk losprasselte und abbrannte. Frau Julke seufzte und fuhr mit der Hand nach dem Herzen. Dann sagte sie: «Mir freut es gewiß, Herr Nesselgrün, wenn Sie meine Kinders so'ne Überraschung machen – das muß ich Sie aber doch sagen: so alt als wie ich geworden bin» –
«Julke!» unterbrach sie der alte Herr streng, «Sie verstehen nichts von Regie, und Ihr Kaffee schmeckt wie Langeweile mit Ekel drin – jehn Sie hinter die Kulisse, das rate ich Ihnen!» Die Kinder weinten, Frau Julke riß sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. «Eine schlimme Weihnacht», brummte Giselher. Er sah aus dem Fenster, weil es ihm unten nicht geheuer schien. Eine Menge 42 Menschen starrten zu ihm hinauf, unter ihnen stand Frau Julke, gestikulierte stark und hielt eine Rede. Die Leute lachten und johlten. Giselher stellte den Phonographen ins Fenster. «Stille Nacht, heilige Nacht» ertönte es in den Lärm hinein. Die Leute führten jetzt vor Vergnügen wahre Veitstänze auf. Nesselgrün wurde wütend: «Das Spiel ist vortrefflich», schrie er hinunter, «die Regie bewährt sich vollkommen. Daß das Publikum aus der Rolle fällt und den dürftigen prosaischen Umstand, daß heute außerhalb unseres Spiels Ende August ist, nicht vergißt» – mit eins entstand unten tiefe Stille, alles hielt den Atem an, unwillkürlich gefesselt – «daß das Publikum», fuhr Nesselgrün ingrimmig fort, «nicht so viel Illusionskraft hat, sich im Sommer den Winter vorzustellen, kommt mir bedenklich vor. Es ist ein Mangel an künstlerischer Kraft. Müßt ihr immer erst ins Theater gehen, Leute, oder auf Traum und Fastnacht, auf Rausch und Irrsinn warten, ehe ihr so kühn werdet, die Natur zu dirigieren? Ist nicht Weihnachten ein so schönes, erquickliches Fest, daß man es mindestens einmal in jedem Monat feiern sollte? Glaubt mir altem, ausgedienten Manne!» Damit schleuderte er Konfetti und künstlichen Schnee auf die Straße, und in einem Nu steckte er das kindliche Volk mit seiner Begeisterung an. Die allezeit zu Scherz, Fest und Freude aufgelegte Jugend riß die Eltern mit sich fort. Alle Gärtnerläden wurden geplündert. Bald flammten Lichtbäume an allen Fenstern; man sang heilige Lieder. Der kleine Ort war die ganze Nacht hindurch voller Fröhlichkeit. «Es ist der schönste Erfolg, den jemals ein Schauspieler errungen hat!» seufzte Nesselgrün. «Da leben sie nun, ganz in meine Illusion gehüllt. Ach! aber wer andere hineinversetzen will, darf selber nicht darin sein.» Er zog seinen Schlafrock eng um seine alten Glieder. «Frau Julke!» brüllte er. Die Frau steckte ihre Nase durch die Tür. «Welches Datum haben wir heute?» – «Außerhalb oder sonstwo?» replizierte die Julke. Nesselgrün lachte: «Sehen Sie, Frau Julke», belehrte er sie, «dem Theater gegenüber muß man 43 vorsichtig sein. Wäre die Regie noch besser gewesen, dann hätte es heute auch außerhalb geschneit.» «Oh, du mein Gott», jammerte die Julke, «Sie machen alle Welt verrückt. Einen vons Theater nehme ich nie wieder!» 45