Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Zweites Kapitel

Vor der Entscheidung

Die Rinder brüllten und die Glöckchen der Schafherde läuteten, in den schossenden Halmen der grünen Saat wogte der Wind. Durch Haus und Garten schritt wieder das älteste Kind des Gutes, umgeben von den Geschwistern. Wo ist der frohe Glanz deiner Augen geblieben und dein herzliches Kinderlachen, Frau Ilse? Ernst ist das Antlitz und gemessen die Gebärde, prüfend mißt dein Blick die Menschen und die Wege, auf denen du gehst, und ruhiger Befehl tönt aus deinem Munde. Die Heimat hat dir das Herz nicht leicht gemacht, und nicht wiedergegeben, was du in der Fremde verloren.

Aber eifrig übt sie ihr Recht, Liebe zu fordern und zu erweisen, vertraute Bilder sendet sie in deine Seele, und alte Erinnerungen weckt sie bei jedem Schritt. Die Menschen, die dich in ihrem Herzen treu gehegt, Tiere, die du gezogen, Bäume, die du gepflanzt, sie neigen sich grüßend vor dir und arbeiten geschäftig, mit heiteren Farben zu überdecken, was dir finster im Innern liegt.

Der erste Abend war schwer. Als Ilse in das Haus trat, geleitet von den Nachbarn, eine Flüchtige, die zu verbergen sucht, was sie quält, da warfen bei dem Schreck des Vaters, unter den neugierigen Fragen der Geschwister noch einmal Zorn und Angst schwarze Schatten über ihr Haupt. Aber an der Brust des Vaters, unter dem Dach des festen Hauses, drang mit dem Gefühl der Sicherheit wieder die alte Kraft des Bodens in die Glieder der Landfrau, und sie vermochte den Augen ihrer Lieben zu verbergen, was nicht allein ihr Geheimnis war.

Noch eine schwere Stunde kam. Ilse saß am späten Abend wie vor Jahren auf ihrem Stuhl, gegenüber dem Vater. Nach ihrem Bericht sah der starke Mann ängstlich vor sich hin, sprach ein hartes Wort über ihren Gatten und Fluch gegen einen andern. Als er ihr sagte, daß auch im Vaterhaus noch Gefahr drohe, als er ihr Vorsicht befahl für Schritt und Tritt, und als er erzählte, wie in ihrer Kindheit ein dunkles Gerücht gegangen, daß schon einmal ein Mädchen vom Steine, ein Kind des früheren Besitzers, das Opfer vornehmer Herren geworden sei, da rang sie noch einmal die Hände zum Himmel. Aber der Vater hatte ihre Hände gefaßt und sie zu sich in die Höhe gezogen. »Unrecht begehen wir, daß wir über unsicherer Zukunft vergessen, wie gnadenvoll die Vorsehung dich behütet hat. Ich halte dich an der Hand, du stehst auf dem Grunde deiner Heimat. Wir tun, was der Tag fordert, und stellen alles andere größerer Macht anheim. Um die Reden Fremder sorgen wir nicht, schnell wechselt das Wetter. Halte still und vertraue.«

Die jüngeren Kinder plaudern sorglos, sie fragen nach dem schönen Leben in der Residenz, sie wollen genau wissen, was die Schwester geschaut, und vor allem, wie der Herr des Landes gegen Ilse war, er, den sie sich denken wie den heiligen Christ, als den unermüdlichen Spender von Freude und beglückender Gunst. Aber die älteren wehren dieser Rede, ohne selbst zu wissen warum, mit dem zarten Gefühl, das Kinder für die Lage solcher haben, die sie lieben. Ilse begleitet die Schwester Klara durch den Oberstock, sie richtet Zimmer ein für die Gäste, welche erwartet werden, und stellt einen Riesenstrauß ihrer Gartenblumen in die Stube, welche Herr Hummel bewohnen soll. Die Brüder ziehen sie durch den Obstgarten in das enge Tal, sie zeigen ihr den hohen Steg über das Wasser, welchen der Vater weiter oben zu der Grotte gelegt hat und der eine Freude für Ilse sein soll, weil er den Zugang zu ihrem Lieblingsplatz bequem macht. Ilse geht längs dem hochgeschwollenen Bach, das Wasser zieht gelb und trübe über die Felsblöcke, es hat den schmalen Wiesenstreif an den Ufern überschwemmt und fließt in starker Strömung talwärts auf die Stadt zu. Ilse sucht den Platz, wo sie einst unter Laub und wilden Wegpflanzen verborgen lag, als sie in den Augen ihres Felix das Bekenntnis seiner Liebe gelesen. Auch die heimliche Stelle ist überflutet, undurchsichtig rinnt der Strom darüber hin, die Blütendolden sind geknickt und übergossen, die Erlenbüsche bis an die oberen Zweige bedeckt, Rohrhalme und mißfarbiger Schaum hängen um die Blätter; nur der weiße Stamm einer Birke ragt aus der Zerstörung hervor, und um die tiefsten Äste wirbelt die Flut. »Der Schwall verläuft,« klagt Ilse; »in wenig Tagen taucht der Boden wieder an das Licht, und wo das Grün verdorben ist, treibt der milde Sonnenstrahl ein neues hervor. Wie aber soll es mit mir werden? Mir fehlt das Licht, solange er nicht bei mir ist, und wenn ich ihn wiedersehe, wie wird er gewandelt sein? Wie wird er, der Ernste und Eifrige, ertragen, was feindlich in mein Leben gedrungen ist und in das seine?«

Der Vater bewacht sorglich ihre Schritte, er spricht öfter im Hause ein als sonst; sooft er vom Felde zurückkehrt, erzählt er ihr von der Arbeit des Gutes, er denkt immer daran, daß seine Rede nicht an einen Gedanken rühre, der ihr Schmerzen macht, und die Tochter fühlt, wie zart und liebevoll die Aufmerksamkeit des Vielbeschäftigten um sie waltet. Jetzt winkt er ihr schon von weitem zu, neben ihm schreitet eine untersetzte Gestalt mit großem Kopf und wohlhäbigem Aussehen. »Herr Hummel!« ruft Ilse freudig und eilt mit beflügeltem Fuß auf ihn zu. »Wann kommt er?« fragt sie ihm erwartungsvoll entgegen.

»Sobald er frei ist«, versetzte Hummel.

»Wer hält ihn noch dort?« sagt die Frau traurig vor sich hin.

Herr Hummel erzählt. Bei seinem Bericht glätten sich die Falten auf Ilses Stirn, und sie führt den lieben Gast in die alten Mauern. Herr Hummel steht erstaunt unter dem hohen Geschlecht, das auf dem Steine wächst, er sieht bewundernd auf die Mädchen und achtungsvoll auf die Köpfe der Knaben. Heut vergißt Ilse nicht, was einer guten Hausfrau gegen den willkommenen Gast ziemt. Herr Hummel aber wird fröhlich unter dem Landvolk, er freut sich über den Blumenstrauß in seiner Stube, er zwingt den drallen Buben Franz, sich auf seine Knie zu setzen, und läßt ihn aus seinem Glase trinken bis zum Übermaß. Dann geht er mit dem Landwirt und Ilse durch die Wirtschaft, klug ist sein Urteil, der Wirt und er, jeder erkennt in dem andern bedächtigen Verstand. Zuletzt fragte ihn Ilse herzlich, wie ihm ihre Heimat gefalle. »Alles großartig,« erklärte Hummel, »Wuchs, Kopf, Strauß, Viehstand und Häuslichkeit. Es steht zu dem Geschäft von H. Hummel wie ein Kürbis zu einer Gurke. Alles tüchtig und voll, nur für meinen Geschmack zu viel Stroh.«

Der Landwirt ruft Ilse beiseite: »Der Prinz will wieder abreisen, er hat den Wunsch geäußert, dich vorher zu sprechen. Willst du ihn sehen?«

»Heut nicht. Dieser Tag gehört euch und dem Gast. Aber morgen«, sagt Ilse.

 

Am Morgen des nächsten Tages trat Professor Raschke, zur Reise bereit, in das Zimmer des Freundes. »Der Magister soll verschwunden sein?« fragte er ängstlich.

»Er hat getan, was er mußte,« versetzte Werner finster, »wie er auch lebe, wir haben ihn gestern bestattet.«

Raschke sah unruhig in das gefurchte Antlitz des andern. »Gern sähe ich Sie auf dem Wege zu Frau Ilse, am liebsten mit ihr vereint auf dem Rückwege zu uns.«

»Kein Zweifel, Freund, ich werde beide Wege suchen, sobald ich Recht dazu habe.«

»Frau Ilse zählt die Stunden,« mahnte Raschke in größerer Sorge, »erst wenn sie den Geliebten bei sich festhält, wird sie ruhig sein.«

»Mein Weib hat die Ruhe lange entbehrt, während sie an meiner Seite war«, sprach der Gelehrte. »Ich habe nicht verstanden, sie zu schützen, ich habe sie den Krallen wilder Tiere überlassen, bei Fremden hat sie den Trost gefunden, den ihr der eigene Mann verweigerte. Die Nichtachtung des Gatten hat sie da geschädigt, wo die Frau am schwersten verzeiht. Ich bin zu einem schwachen Träumer geworden,« rief er, »unwert der Hingabe dieses reinen Lebens, und ich fühle, was ein Mann nie fühlen sollte, ich fühle Scham, mein gutes Weib wiederzusehen.« Er wandte sein Angesicht ab.

»Zu hoch gespannt ist dies Empfinden,« entgegnete Raschke, »zu hart der Vorwurf, den Sie jetzt zürnend gegen sich selbst erheben. Sie wurden durch listige Winkelzüge Weltkluger getäuscht. Sie selbst haben ausgesprochen, daß es ruhmlos leicht ist, uns da zu hintergehen, wo wir nicht viel klüger sind als die Kinder. Werner, noch einmal bitte ich, reisen Sie mit mir zugleich ab, wenn auch auf anderem Wege.«

»Nein,« versetzte kurz der Gelehrte. »Ich habe mein Lebelang die Beziehungen zu anderen Menschen reinlich behandelt. Halbheit in Neigung und Abneigung ist mir unerträglich. Fühle ich Neigung, so soll mein Händedruck und das Vertrauen, das ich gebe, den andern keinen Augenblick im Zweifel lassen, wie mir ums Herz ist. Muß ich ein Verhältnis lösen, auch da habe ich die Rechnung stets ganz und voll geschlossen. Jetzt kann ich nicht aufbrechen wie ein Flüchtling.«

»Wer fordert das?« fragte Raschke, »nur wie ein Mann, der die Augen abwendet von häßlichem Gewürm, das vor ihm auf dem Boden kriecht.«

»Hat das Gewürm den Mann geschädigt, so ist ihm Pflicht zu verhüten, daß das Schädliche auch andern gefährlich wird, und kann er andere nicht behüten, er wird sich selbst genug tun, wenn er seinen Weg säubert.«

»Wenn ihm aber der Versuch neue Gefahr bringt?«

»Er wird doch tun, was er vermag, sich selbst zu genügen,« rief Werner. »Das Recht, welches ich erhalten habe gegen einen, ich lasse mir's nicht rauben. Die Kränkung meines Weibes mahnt, es mahnt das verlorene Leben eines Gelehrten, um welches wir beide trauern. Sagen Sie mir nichts mehr. Freund, mein Selbstgefühl hat in diesen Tagen große Schädigung erfahren, und mit Recht. Ich fühle meine Schwäche mit einer Bitterkeit, die gerechte Strafe ist für den Stolz, mit dem ich auf das Leben anderer gesehen. Ich habe an Struvelius geschrieben, ich habe ihn um Verzeihung gebeten, daß ich die kleine Unsicherheit, die einst ihn störte, so hochmütig empfand. Hier ist der Brief an den Kollegen; ich bitte Sie, die Zeilen abzugeben und ihm zu sagen, wenn wir uns wiedersehen, dann soll kein Wort über das Vergangene von unsern Lippen fallen, nur er soll wissen, wie schwer ich dafür gebüßt habe, daß ich gegen ihn hart war. Aber wie sehr ich die Geduld und Nachsicht anderer bedarf, ich würde das letzte verlieren, was mir den Mut gibt, die Augen aufzuschlagen, wenn ich von hier gehen wollte, bevor ich mit dem Schloßherrn dort oben abgerechnet habe. Ich bin kein Weltmann, der gelernt hat, seinen Zorn hinter einem höflichen Gruß zu verbergen.«

»Wer solche Abrechnung sucht,« warnte Raschke, »muß auch die Mittel haben, den Gegner dabei festzuhalten, sonst mag eine neue Demütigung werden, was Genugtuung sein soll.«

»Diese Genugtuung gesucht zu haben bis zum Äußersten,« versetzte Werner, »auch das ist Befriedigung.«

»Werner,« rief der Kollege, »ich will nicht hoffen, daß Ihr erregter Zorn Sie hinabzieht in die gedankenlose Rachsucht der Schwachen, welche ein rohes Spiel mit dem eigenen Leben und dem des andern Genugtuung nennen.«

»Er ist ein Fürst,« sagte der Professor mit finsterm Lächeln, »ich trage keine Sporen, und der letzte Versuch, den ich mit meiner Kugelform anstellte, war Nüsse darin zu quetschen. Wie mögen Sie mich so verkennen? Aber es gibt Forderungen, welche deutlich ausgesprochen sein wollen, damit sie zur Tat werden. Noch wohnt in dem Wort eine heilende Kraft, wenn nicht für den, der die Rede hört, doch für den, der sie spricht. Ihm sagen muß ich, was ich von ihm heische. Er mag zusehen, wie er das Wort hinunterwürgt in sein freudloses Herz.«

»Er wird weigern, Sie zu hören«, warf Raschke ein.

»Ich werde suchen, ihn zu sprechen.«

»Er hat der Mittel viele, Sie zu hindern.«

»Er gebraucht sie auf seine Gefahr, denn er nimmt sich dadurch den Vorteil, den er hätte, mich ohne Zeugen zu hören.«

»Er wird das ganze Rüstzeug gegen Sie in Bewegung setzen, das ihm seine hohe Stellung gibt, er wird seine Gewalt rücksichtslos gebrauchen, Sie zu bändigen.«

»Ich bin kein schreiender Wahrsager, der den Cäsar auf offener Straße anfällt, um vor den Idus des März zu warnen. Daß ich weiß, was ihn demütigt vor sich selbst und seinen Zeitgenossen, das ist meine Waffe. Und ich versichere Sie, er wird mir Gelegenheit geben, sie zu gebrauchen, wie ich will.«

»Er verreist«, rief Raschke ängstlicher.

»Wohin kann er reisen, wo ich ihm nicht nachkomme?«

»Ihn wird die Besorgnis, welche Sie in ihm erregen, zu finsterer Tat treiben.«

»Er wage sein Ärgstes, ich will tun, was mir Frieden gibt.«

»Werner,« rief Raschke, die Hände erhebend, »ich darf Sie in dieser Lage nicht verlassen, und doch machen Sie dem Freunde fühlbar, wie ohnmächtig sein ehrlicher Rat gegen Ihren starren Willen ist.«

Der Professor ging auf ihn zu und küßte ihn. »Leben Sie wohl, Raschke. So hoch als ein Mann in der Achtung eines andern stehen kann, stehen Sie in meinem Herzen. Zürnen Sie nicht, wenn ich in diesem Fall mehr dem Drang des eigenen Wesens folge, als der milden Weisheit des Ihren. Grüßen Sie von mir Frau Aurelie und die Kinder.«

Raschke fuhr sich über die Augen, zog seinen Rock an und steckte den Brief an Struvelius in die Rocktasche. Dabei fühlte er einen andern Brief, er zog ihn heraus und las die Aufschrift. »Ein Brief meiner Frau an Sie,« sagte er, »ich weiß nicht, wie er mir in die Tasche kommt.«

Werner öffnete, wieder flog ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. »Frau Aurelie bittet mich für Ihr Wohlbefinden zu sorgen. Der Auftrag kommt zu guter Stunde; ich begleite Sie zur Stelle Ihrer Abfahrt, wir wollen auch Mütze und Mantel nicht vergessen.«

Der Professor führte den Freund zu der Reisegelegenheit, die Männer sprachen in der letzten Stunde über die Vorlesungen, welche beide im nächsten Halbjahr zu halten wünschten. »Denken Sie des Briefes an Struvelius«, war das letzte Wort Werners, als der Freund im Wagen saß.

»Ich denke daran, sooft ich Ihrer gedenke,« rief Raschke, die Hand zum Wagen hinausstreckend.

Der Professor ging nach dem Schloß zur großen Abrechnung mit dem Mann, der ihn in seine Hauptstadt gerufen. Ihn empfing die Dienerschaft mit verlegenen Blicken. »Der Herr ist im Begriff zu verreisen und wird erst in einigen Tagen zurückkehren. Wohin er reist, weiß man nicht«, sagte der Hausmeister bekümmert. Der Professor forderte, ihn doch bei dem Fürsten zu melden, sein Anliegen sei dringend; der Diener brachte die Antwort, der Fürst sei vor der Rückkehr nicht zu sprechen, der Gelehrte möge seine Wünsche einem der Adjutanten mitteilen.

Werner eilte zu dem abgelegenen Hause des Obersthofmeisters. Er wurde in die Bücherstube geführt, sah flüchtig auf den verschossenen Teppich des Bodens, auf die alte Tapete, welche durch Kupferstiche in dunkeln Rahmen verdeckt war, auf große Bücherschränke mit Glastüren, von innen verhängt, als wollte der Eigentümer selbst was er las fremdem Auge entziehen. Der Obersthofmeister trat eilig herein.

»Ich suche vor der Abreise des Fürsten eine Unterredung mit ihm,« begann der Professor, »ich bitte Exzellenz um gütige Vermittlung für die Audienz.«

»Verzeihen Sie die Frage, wozu?« fragte der Obersthofmeister. »Wollen Sie mit einem Leidenden noch einmal über seine Krankheit sprechen?«

»Der Kranke versieht ein hohes Amt und hat Gewalt und Recht eines Gesunden; er ist seinen Mitlebenden verantwortlich für sein Tun. Ich halte für Pflicht, nicht von hier zu gehen, ohne ihm auszusprechen, daß er nicht mehr in der Lage ist, die Pflichten seiner Stellung zu üben, und ich halte für ein Gebot meiner Ehre, zu bewirken, daß er aus dieser Stellung scheidet.«

Der Obersthofmeister sah den Gelehrten erstaunt an. »Und darum müssen Sie auf dieser Unterredung bestehen?«

»Die Erfahrungen, welche ich seit meiner Rückkehr vom Lande hier gemacht, zwingen mich dazu; ich muß vor anderm die Unterredung suchen durch jedes Mittel, welches mir erlaubt ist, was auch die Folge sei.«

»Auch die Folge für Sie selbst?«

»Auch diese. Der Fürst kann mir nach allem, was geschehen, ein persönliches Zusammentreffen nicht versagen.«

»Was er nicht sollte, wird er doch versuchen.«

»Er tut es auf seine Gefahr«, versetzte der Professor.

Der Obersthofmeister stellte sich vor den Professor und begann nachdrücklich: »Der Fürst will noch heut nach Rossau abreisen. Der Plan ist Geheimnis, ich erfuhr zufällig die Befehle, welche für den Marstall erteilt wurden.« Der Gelehrte fuhr zurück. »Ich danke Ew. Exzellenz von Herzen für diese Mitteilung,« sprach er mit erzwungener Fassung, »ich werde versuchen, vorher eine schnelle Warnung hinzusenden. Ich selbst reise ebenfalls dorthin, doch nicht eher, bis Exzellenz meinen Versuch unterstützt haben, den Fürsten vor seiner Abreise zu sprechen.«

»Wenn Sie durch mich um eine Audienz nachsuchen,« sagte der Obersthofmeister überlegend, »so will ich als Beamter des Hofes und aus persönlicher Hochachtung für Sie Ihren Wunsch dem Fürsten sogleich vortragen. Aber ich verberge Ihnen nicht, daß ich eine Kritik vergangener Ereignisse durch Sie, Herr Professor, nach jeder Richtung für bedenklich erachte.«

»Ich aber bin von der Überzeugung durchdrungen, daß in diesem Fall nicht nur die Kritik geübt, auch eine Forderung gestellt werden muß«, rief der Professor.

»Nur in das Ohr des Fürsten? Oder auch vor andern Menschen?« fragte der Obersthofmeister.

»Wenn mir Ohr und Sinn des Fürsten verschlossen bleibt, dann vor jedermann. Ich erfülle damit eine ernste Pflicht gegen alle, welche unter den finstern Einfällen eines zerrütteten Geistes leiden könnten, eine Pflicht, der ich mich als ehrlicher Mann nicht entziehen darf. Ich werde sein Ankläger vor Fürsten und Volk, wenn stille Vorstellung ihn nicht bestimmt. Denn es ist nicht zu dulden, daß die Zustände des alten Roms in unserer Nation gespenstig aufleben.«

»Das ist entscheidend«, versetzte der Obersthofmeister. Er ging zu seinem Schreibtisch, hob ein Schriftstück hervor und bot es dem Gelehrten. »Lesen Sie. Werden Sie auf eine persönliche Unterredung mit dem Fürsten verzichten, wenn dies Papier von seiner Hand unterzeichnet ist?«

Der Professor las und neigte sein Haupt gegen den Obersthofmeister. »Sobald er aufhört, zu sein, was er bis jetzt war, darf ich ihn als Kranken betrachten. In diesem Fall würde meine Unterredung mit ihm zwecklos. Unterdes wiederhole ich meine Bitte, mir vor Abreise des Fürsten die erbetene Audienz zu erwirken.«

Der Obersthofmeister nahm das Papier zurück. »Ich werde versuchen, Ihr Anwalt zu sein. Aber vergessen Sie nicht, daß der Fürst in den nächsten Stunden nach Rossau reist. Sehen wir uns wieder, Herr Werner,« schloß feierlich der alte Herr, »so sei es an einem Tage, wo unser beider Haupt frei ist von der Sorge um etwas, das man selbst zuweilen gering achtet, wie Sie in diesem Augenblick tun, das man sich aber nicht gern durch den Einfall eines dritten rauben läßt.«

Der Professor eilte zu dem Gasthof und rief seinen Diener. »Heut beweisen Sie mir Ihre Treue, Gabriel, nur ein reitender Bote kann zu rechter Zeit in Bielstein eintreffen. Versuchen Sie das mögliche, nehmen Sie Kurierpferde, schaffen Sie einen Brief in die Hände meiner Frau, bevor die Hofwagen dort ankommen.«

»Zu Befehl, Herr Professor,« sagte Gabriel in kriegerischer Haltung, »es ist für einen gedienten Husaren ein starker Ritt; wenn der Pferdewechsel mich nicht aufhält, so traue ich mich wohl den Brief zu rechter Zeit zu besorgen.« Der Professor schrieb in fliegender Eile und fertigte Gabriel ab; dann bestellte er sich selbst Postpferde und eilte in die Wohnung des Obersthofmeisters zurück.

Der Fürst lag in seinem Sessel, die Wangen bleich, die Augen erloschen, ein schwer erkrankter Mann; müde hing ihm das Haupt vom Nacken. »Ich hatte sonst doch andere Gedanken und vermochte, wenn ich auf die Tasten drückte, mehr als eine Melodie zu spielen; jetzt wandelt sich alles in eine mißtönende Weise: sie ist fort, sie ist in der Nähe des Knaben, sie lacht des törichten Werbers. Nichts sehe ich vor mir als das Gleis der Landstraße, welche zu ihr führt. Eine fremde Gewalt hämmert in mir ewig dieselben Noten, ein schwarzer Schatten steht neben mir und weist mit dem Finger unablässig auf denselben Pfad, ich vermag mich nicht zu wehren, ich höre die Worte, ich sehe den Weg, ich fühle die dunkle Hand über meinem Haupt.«

Der Kammerdiener meldete den Obersthofmeister.

»Ich will ihn nicht sehen,« herrschte der Fürst den Diener an. »Sagen Sie Sr. Exzellenz, ich sei im Begriff aufs Land zu reisen.«

»Exzellenz bitten, es handle sich um eine dringende Unterschrift.«

»Der alte Tor,« murmelte der Fürst. »Führen Sie ihn herein. – Ich bin leider pressiert, Exzellenz,« rief er dem Eintretenden zu.

»Ich wünsche die Zeit meines Durchlauchtigsten Herrn nicht lange in Anspruch zu nehmen,« begann der Hofmann, »Professor Werner bittet, daß Ew. Hoheit geruhe, ihn vor seiner Abreise zu empfangen.«

»Was soll die Zudringlichkeit?« rief der Fürst, »er war bereits hier, ich habe ihn abweisen lassen.«

»Ich erlaube mir die ehrfurchtsvolle Bemerkung, daß nach allem, was vorausgegangen, ihm die Ehre einer persönlichen Verabschiedung nicht wohl verweigert werden kann. Ew. Hoheit werden der letzte sein, welcher so auffallende Verletzung schicklicher Rücksicht loben würde.«

Der Fürst sah feindselig auf den Obersthofmeister. »Gleichviel, ich will ihn nicht sprechen.«

»Außerdem aber ist nicht ratsam, demselben diese Unterredung zu verweigern,« fuhr der alte Herr nachdrücklich fort.

»Darüber bin ich der beste Richter,« versetzte nachlässig der Fürst.

»Derselbe ist Mitwisser einiger Tatsachen geworden, deren Bekanntwerden man im Interesse fürstlicher Würde selbst mit schweren Opfern vermeiden muß, denn derselbe ist nicht verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren.«

»Niemand wird auf den einzelnen Träumer achten.«

»Desselben Aussage wird nicht nur Glauben finden, auch gegen Ew. Hoheit einen Sturm erregen.«

»Geschwätz aus den Bücherstuben reicht nicht bis zu meinem Haupt.«

»Derselbe ist ein hochgeachteter Mann von Charakter und wird seine Beobachtungen benutzen, um vor der ganzen gebildeten Welt zu fordern, daß am hiesigen Hofe die Möglichkeit ähnlicher Beobachtungen aufhöre.«

»Er tue, was er wagt,« rief der Fürst mit ausbrechendem Grimm, »man wird sich zu hüten wissen.«

»Noch kann die Niederlage verhütet werden: es gibt dagegen aber nur ein letztes und gründliches Mittel.«

»Sprechen Sie, Exzellenz, ich habe Ihr Urteil stets geachtet.«

»Was jenen Professor aufregte,« fuhr der Hofmann bedächtig fort, »das wird, zu allgemeiner Kenntnis gebracht, allerdings Geräusch und gefährliche Nachrede hervorbringen; schwerlich mehr. Es war eine persönliche Wahrnehmung, die ihm am Fuß des Turmes aufgenötigt wurde, es war eine Vermutung, die er unter dem Dach desselben Turms hervorgeholt hat. Nach seiner Behauptung sind zwei Versuche gemacht, welche nicht zu folgenschwerer Tat wurden. Auf solcher Grundlage ein öffentliches Urteil der gesitteten Welt herauszufordern, ist mißlich. Wie redlich der Berichterstatter sei, er mag sich selbst getäuscht haben. Ew. Hoheit bemerkten richtig, der Eifer eines einzelnen Gelehrten würde unliebsames Geschwätz veranlassen, nichts weiter.«

»Vortrefflich, Exzellenz,« unterbrach der Fürst.

»Leider tritt ein bedenklicher Umstand hinzu. Für jene persönliche Wahrnehmung am Fuß des Turms hat derselbe Gelehrte einen Zeugen. Und dieser Zeuge bin ich. Wenn er sich auf mein Zeugnis beruft, will sagen, auf meine persönliche Wahrnehmung, so werde ich erklären müssen, er hat recht, denn ich bin nicht gewohnt, halbe Wahrheit für Wahrheit zu achten.«

Der Fürst fuhr in die Höhe.

»Ich war es, der die Hand festhielt,« bemerkte der Hofmann leise. »Und weil jener Gelehrte recht hat, und weil ich desselben Ansicht über das Befinden meines gnädigen Herrn bestätigen müßte, sage ich, es gibt nur ein letztes und gründliches Mittel.« Der Obersthofmeister hob die Urkunde aus der Mappe. »Mein Mittel ist, daß Ew. Hoheit durch einen großen Entschluß dem Unwetter zuvorkomme und hochgeneigt geruhe, dies zur Willenserklärung zu machen.«

Der Fürst warf einen Blick in das Papier und schleuderte es von sich. »Sind Sie unsinnig, alter Mann?«

»An mir ist diese Eigenschaft noch nicht bemerkt worden,« versetzte der Obersthofmeister traurig. »Möge mein gnädigster Herr die Angelegenheit mit gewohntem Scharfsinn erwägen. Es ist leider unmöglich geworden, daß Ew. Hoheit die Anstrengungen eines hohen Berufes in bisheriger Weise ertragen. Selbst wenn Ew. Hoheit dazu bereit wären, hat sich die Schwierigkeit erhoben, daß getreue Diener in der peinlichen Lage sind, diese Auffassung nicht zu teilen.«

»Diese treuen Diener sind mein Obersthofmeister.«

»Ich bin einer davon. Wenn Ew. Hoheit nicht geruhen wollten, jenem Entwurf Höchstihren Beifall zu geben, so würde mir die Rücksicht auf etwas, das mir teurer sein muß, als Ew. Hoheit Gnade, verbieten, ferner im Dienst zu bleiben.«

»Ich wiederhole die Frage: Sind Sie kindisch geworden, Obersthofmeister?«

»Nur bewegt, ich meinte nicht, jemals wählen zu müssen zwischen meiner Ehre und meinem Dienst.« Er holte ein anderes Dokument aus der Mappe.

»Ihre Entlassung?« rief der Fürst lesend. »Sie hätten dazusetzen können: in Gnaden.« Der Fürst ergriff die Feder. »Hier, Freiherr von Ottenberg, Sie sind Ihres Amtes quitt.«

»Es ist kein freudiger Dank, den ich Ew. Hoheit dafür sage. Demnach aber spreche ich, Hans von Ottenberg, die ehrfurchtsvolle Bitte aus, daß Ew. Hoheit noch in dieser Stunde auch das andere Schriftstück zu unterzeichnen geruhe. Denn falls Hochdieselben zögern wollten, die flehende Bitte eines früheren Dieners zu erfüllen, so würde dieselbe Bitte von jetzt ab mehrfach Ew. Hoheit Ohr belästigen und von Seiten, denen Hochdieselben nicht soviel Nachsicht zu beweisen pflegen, als seither mir. Bis jetzt war's einer, der bat, ein Professor, jetzt sind's zwei, er und ich, in den nächsten Stunden wird die Zahl Ew. Hoheit lästig werden.«

»Ein früherer Obersthofmeister als Aufwiegler!«

»Nur als Bittender. Ew. Hoheit haben recht, daß der Höchste Entschluß, welchen ich zu beeinflussen suche, durchaus freiwillig sein muß. Aber ich flehe nochmals an, zu erwägen, daß er nicht mehr zu vermeiden ist. Ew. Hoheit Hofstaat wird in der nächsten Stunde vor derselben Entscheidung stehen wie ich; denn die Rücksicht auf die Ehre dieser Herren und Damen wird mich zwingen, sämtliche Gründe, welche mich bestimmten, auch ihnen nicht zu verschweigen. Ohne Zweifel werden die Herren des Hofes gleich mir Ew. Hoheit bittend nahen und gleich mir um Enthebung nachsuchen, falls ihr Flehen erfolglos bleibt; und ohne Zweifel werden Ew. Hoheit neue Diener finden. Die Rücksicht auf Ehre und Amt Ihrer Beamten wird mich verpflichten, Ew. Hoheit Ministern dieselbe Mitteilung zu machen. Auch diese mögen durch weniger bedenkliche Staatsdiener ersetzt werden. Ferner würde ich mich ans Ehrfurcht und Ergebenheit gegen dies Hohe Haus, aus Sorge um Leben und Wohlfahrt des Erbprinzen und seiner erlauchten Schwester sowie aus Anhänglichkeit gegen dies Land, in welchem ich ergraut bin, genötigt sehen, verwandte Regierungen um eine energische Wiederholung dieser meiner Bitte anzugehen. Solange ich am Hofe diente, zwang mich Eid und Pflicht zur Verschwiegenheit und zur Rücksicht auf Ew. Hoheit persönliche Interessen. Dieser Verpflichtung bin ich enthoben, und ich würde von jetzt für das allgemeine Wohl gegen Ew. Hoheit stehen. Ew. Hoheit mögen selbst ermessen, wohin das führen muß. Jene Unterschrift kann hinausgeschoben, nicht mehr vermieden werden. Jede Zögerung verschlechtert die Lage; die Unterschrift würde nicht mehr als freiwillige Tat eines hohen Entschlusses erscheinen, sondern als abgedrungene Notwendigkeit. Endlich erwägen Ew. Hoheit, der Professor hatte am Turmschloß eine aufregende Beobachtung gemacht, eine andere am Leben eines gewissen Magisters; mein Schicksal ist, mehreres zu wissen, was nicht Dienstgeheimnis war.«

Der Fürst lag in seinem Sessel, das Haupt abgewandt, er schlug die Hände vor das Antlitz. Es wurde eine lange, unheimliche Stille.

»Sie waren mein persönlicher Feind vom ersten Tage meiner Regierung,« fuhr der Fürst endlich auf.

»Ich war meines gnädigen Herrn getreuer Diener; persönliche Freundschaft wurde mir nie zuteil und ich habe sie nie geheuchelt.«

»Sie haben von je gegen mich intrigiert.«

»Ew. Hoheit ist wohl bewußt, daß ich als ein Mann von Ehre gedient,« versetzte der Freiherr stolz. »Auch jetzt, wenn ich noch einmal bitte, dieses Schriftstück in der gebotenen Form zu unterzeichnen, stütze ich mich nicht auf die Rechte, welche mir Ew. Hoheit vieljähriges Vertrauen gibt; ich berufe mich auch nicht, um dieses wiederholte Drängen zu entschuldigen, auf die Teilnahme, die ich an dem Ansehen und Wohlergehen dieses Hohen Hauses zu nehmen berechtigt bin. Ich habe noch einen andern Grund, von Ew. Hoheit die letzte Demütigung, das heißt ein öffentliches Besprechen Höchstihrer Gesundheit fernzuhalten. Ich bin ein loyaler und monarchisch gesinnter Mann. Wer noch Ehrfurcht vor dem hohen Amt eines Fürsten in sich bewahrt, gerade dem ist dringend geboten, zu verhüten, daß dies Amt in den Augen der Nation erniedrigt werde. Dies soll er verhüten, nicht dadurch, daß er Unzuträgliches verschleiert, sondern dadurch, daß er es austilgt. Deshalb steht seit jenem Ereignis am Turm zwischen Ew. Hoheit und mir der Streit so, daß ich, um Ew. Hoheit erhabenes Amt zu schützen, Ew. Hoheit Person opfern muß. Ich bin dazu entschlossen, und deshalb bleibt Ew. Hoheit nur die Wahl, ob Höchstdieselben das Unvermeidliche tun wollen: freiwillig und vor den Augen der Welt in Ehren, oder auf übermächtiges Drängen Fremder in Unehren. Die Worte sind gesprochen, ich bitte um kurzen Entscheid.«

Der alte Herr stand dicht vor dem Fürsten, fest und kalt blickte er in die unsicheren Augen seines früheren Gebieters und wies mit dem Finger unverrückt auf das Pergament. Es war der Wächter, der seinen Kranken bemeistert.

»Nicht jetzt, nicht hier,« rief der Fürst außer sich. »In Gegenwart des Erbprinzen will ich beraten und mich entscheiden.«

»Gegenwart und Unterschrift der Minister sind für das Dokument nötig, nicht die Gegenwart des Prinzen. Da Ew. Hoheit vorziehen, vor den Augen des Erbprinzen zu unterzeichnen, so werde ich mir die Ehre geben, Ew. Hoheit nach Rossau zu folgen, und einen der Minister bitten, zu diesem Zweck mich zu begleiten.«

Der Fürst sah nachdenkend vor sich hin. »Noch bin ich Fürst,« rief er aufspringend, ergriff die unterschriebene Entlassung des Freiherrn und zerriß sie: »Obersthofmeister von Ottenberg, Sie werden mich in meinem Wagen nach Rossau begleiten.«

»Dann wird der Minister in meinem Wagen Ew. Hoheit folgen,« sagte der alte Herr ruhig; »ich eile, ihn davon zu benachrichtigen.«


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