Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Die feindlichen Nachbarn

In künftigen Zeiten wird, wie man hört, auf dem Erdball eitel Freude und Liebe sein. Die Menschheit wird in wassergrünem und himmelblauem Gewande einhergehen, Sandalen an den Füßen und Palmzweige in der Hand, um den letzten Haß und der letzten Bosheit Salz auf den Schwanz zu streuen und diese Nachtvögel für das große Museum der Zukunft auszustopfen. Bei solcher Jagd wird man finden, daß das letzte Nest der Unholde zwischen den Wänden zweier Nachbarhäuser hängt. Denn zwischen Nachbar und Nachbar nisten sie, seit der Regen vom Dach des einen Hauses in den Hof des andern rieselt, seit der Sonnenstrahl durch eine Hausmauer der andern vorenthalten wird, seit Kinder die Hände durch den Zaun stecken, um Beeren zu naschen, seit der Hausherr nicht abgeneigt ist, sich selbst für besser zu halten als seine Mitmenschen. Und es gab zu unsern Tagen wenig Gebäude im Lande, zwischen denen Widerwille und feindliche Kritik so arg wirtschafteten als zwischen den beiden Häusern am großen Stadtpark.

Viele erinnern sich der Zeit, wo die Häuser der Stadt noch gar nicht bis an den waldigen Talgrund reichten. Damals hatte die Talgasse nur wenige kleine Menschenwohnungen, dahinter lag ein wüster Raum, Frau Knips, die Wäscherin, trocknete dort Bürgerhemden und ihre beiden unartigen Jungen warfen einander mit Holzklammern. Da hatte Herr Hummel einen Trockenplatz am letzten Ende der Straße gekauft und hatte darauf sein schönes Haus gebaut in zwei Stockwerken mit steinernen Stufen und eisernem Gitter, und dahinter ein einfaches Arbeitshaus für sein Geschäft, denn er war Hutfabrikant und trieb die Sache sehr ins Große. Und wenn er aus seinem Hause trat und die Vorsprünge des Daches und die Gipsarabesken unter den Fenstern musternd überschaute, so sah er von allen Seiten Licht und Luft und freie Natur und empfand sich als den vordersten Pfeiler der Zivilisation gegen den Urwald.

Da begegnete ihm, was manchem Pionier der Wildnis die Ruhe stört: sein Beispiel fand Nachahmung. An einem finstern Morgen des März kam ein Wagen mit alten Brettern an den Wäscheplatz gefahren, der ihm gegenüber lag, schnell wurde ein Plankenzaun zusammengeschlagen, Tagelöhner mit Haue und Handkarren begannen Grund zu graben. Das war ein harter Schlag für Herrn Hummel. Aber sein Leid wurde größer. Als er zornig über die Straße schritt und den Maurermeister nach dem Namen des Mannes fragte, der gegen Licht und Ruhm seines Hauses feindlich arbeiten ließ, da erfuhr er, daß sein künftiger Nachbar der Fabrikant Hahn sein sollte. Von allen Menschen auf der Welt war dieser der größte Tort, den ihm das Schicksal antun konnte. Nicht eigentlich als Bürger betrachtet, er war nicht unreputierlich, es ließ sich gegen die Familie nichts Schweres einwenden, aber er war Hummels natürlicher Gegner, denn das Geschäft des neuen Ansiedlers bewegte sich auch um Hüte, und zwar um Strohhüte. Diesen leichten Plunder zu verfertigen ist nie für eine ernste Männerarbeit gehalten worden, es war nie ein zünftiges Handwerk, es hat nie das Recht gehabt, Lehrlinge freizusprechen, es ist sonst nur von italienischen Bauern betrieben worden, es hat sich als eine Neuerung mit andern schlechten Sitten erst spät in der Welt verbreitet, es ist im Grunde gar kein Geschäft, man kauft Strohbänder und läßt sie durch zusammengelaufene Mädchen im Wochenlohn aneinandernähen. Und es besteht eine alte Feindschaft zwischen Filzhut und Strohhut. Der Filzhut ist eine historische Macht, durch Jahrtausende geheiligt, nur die Mütze duldete er neben sich, als gemeine Einrichtung für Werkeltage. Da erhob der Strohhut seine Anmaßungen gegen verbrieftes Recht und beanspruchte frech die Hälfte des Jahres. Seit der Zeit schwanken die Wagschalen des irdischen Beifalls zwischen diesen beiden Attributen des Menschengeschlechts. Wenn der unstete Sinn der Sterblichen nach dem Stroh zuschwankt, bleibt der schönste Filz, Felbel, Seide und Pappe unbeachtet stehn, von der Luft ausgezogen, von Motten zerbissen. Hinwiederum wenn die Neigungen der Menschen nach dem Filz hinfluten, trägt alles Geborne, Frauen, Kinder und Kindermädchen, kleine Männerhüte, dann liegt das Stroh kläglich, kein Herz schlägt dafür und die Hausmaus nistet in dem schönsten Geflecht.

Das war für Herrn Hummel ein starker Grund zum Zorn. Aber es wurde noch ärger. Er sah täglich, wie das feindliche Haus aus dem Boden wuchs, er beobachtete die Gerüste, die aufsteigenden Mauern, die Zieraten der Gesimse, die Fensterreihen, – es war zwei Fenster länger als sein Haus. Das Erdgeschoß hob sich in die Höhe, ein zweiter Stock, zuletzt gar ein dritter – alle Fabrikräume des Strohmanns wurden dem Wohnhaus einverleibt. Das Haus des Herrn Hummel war zu einem unbedeutenden Dinge herabgedrückt. Da schritt er zu seinem Advokaten und forderte Rache wegen entzogenem Licht und verschlechterter Aussicht. Natürlich zuckte dieser die Achseln. Das Recht Häuser zu bauen gehörte zu den Grundrechten der Menschheit, es war auch gemeines deutsches Herkommen in Häusern zu leben, und es war voraussichtlich hoffnungslos zu beantragen, daß Hahn auf seinem Grundstück nur ein. Leinwandzelt errichten dürfe. So war durchaus nichts zu tun als sich mit Geduld zu fügen, und Herr Hummel hätte sich das selbst sagen sollen.

Seitdem waren Jahre vergangen. Zu derselben Stunde vergoldete das Sonnenlicht die Parkseite der beiden Häuser, stattlich und bewohnt standen sie da, beide gefüllt mit Menschen, welche täglich aneinander vorbeigingen. Zu derselben Stunde trat der Briefträger über beide Türschwellen, die Tauben flogen von dem einen Dach auf das andere, die Sperlinge an den beiden Hausrinnen traten in die gemütlichsten Beziehungen; um das eine Haus roch es zuweilen ein wenig nach Schwefel, um das andere nach versengten Haaren, aber derselbe Sommerwind trieb vom Walde den Harzgeruch und den Duft der Lindenblüten durch beide Haustüren. Und doch, die tiefe Abneigung der beiden Häuser hatte sich nicht verringert. Das Haus Hahn empfand einen Widerwillen gegen versengte Haare, und die Familie Hummel hustete in ihrem Garten zornig, sooft eine Spur von Schwefel in dem Sauerstoff der Luft geargwöhnt wurde.

Zwar wurde das anständige Verhalten zu der Nachbarschaft nicht ganz mit Füßen getreten, wenn auch der Filz eine Neigung zu bärbeißigem Verhalten hatte, das Stroh war biegsamer und bewies in mehreren Fällen seine Nachgiebigkeit. Beide Hausherren hatten eine bekannte Familie, in welcher sie zuweilen zusammentrafen, ja beide hatten einmal vor demselben Täufling gestanden und darauf geachtet, daß einer nicht weniger Patengeld gab als der andere. Deshalb entstand ein unvermeidliches Grüßen, so oft man ihm nicht aus dem Wege gehen konnte. Aber dabei blieb es. Zwischen dem Markthelfer, welcher die Strohhüte schwefelte, und den Arbeitern, welche über den Hasenhaaren walteten, bestand glühender Haß. Und die kleinen Leute, welche in den nächsten Häusern der Straße wohnten, wußten das und taten redlich das Ihre, um das bestehende Verhältnis aufrecht zu erhalten. Auch konnte in der Tat das Wesen der beiden Hausherren schwerlich zusammenstimmen. Der Dialekt war verschieden, die Bildung hatte einen andern Strich, was der eine an Leibgerichten und andern Einrichtungen des Lebens lobte, mißfiel dem andern; Hummel war aus einem Baumstamm des nördlichen Deutschland an das Licht geflogen, Hahn aus einer kleinen Stadt in der Nähe herzugeflattert.

Wenn Herr Hummel von seinem Nachbar Hahn sprach, so nannte er ihn das Strohfeuer und den Phantasten. Herr Hahn war ein sinniger Mann, still und fleißig über seinem Geschäft, in den Freistunden aber ergab er sich ausfallenden Liebhabereien. Unleugbar waren diese darauf berechnet, dem wandelnden Publikum, welches zwischen den beiden Häusern nach der Waldwiese und den grünen Bäumen hinauszog, einen guten Eindruck zu machen. In dem kleinen Garten hatte er nacheinander die meisten Erfindungen gehäuft, durch welche moderne Gartenkunst die Erde verschönert. Zwischen den drei Fliederbüschen erhob sich ein Felsen aus Tuffstein gemauert mit schmalem und steilem Pfade zur Höhe, daß nur feste Bergsteiger ohne Alpenstock die Expedition nach dem Gipfel wagen konnten, auch sie in Gefahr, mit der Nase in den zackigen Tuffstein zu fallen. Im nächsten Jahre wurden, nahe am Gitterzaun, in kurzen Entfernungen Stangen errichtet, an denen Schlinggewächse hinaufliefen; zwischen je zwei Stangen hing eine bunte Glaslampe. Wenn die Lampenreihe an festlichen Abenden angezündet war, warf sie einen magischen Glanz auf die Strohhüte, welche unter dem Fliederbusch zusammensaßen und die Urteile der Vorübergehenden einsammelten. Den Glaskugeln folgte das Jahr der Papierlaternen. Wieder im nächsten Jahre erhielt der Garten ein antikes Aussehen, denn eine weiße Muse glänzte, von Efeu und blühendem Lack umgeben, bis weit in den Wald hinein.

Gegenüber solcher Neuerungssucht hielt Herr Hummel fest an seiner Vorliebe fürs Wasser. An der Hinterseite seines Hauses zog sich eine schmale Wasserader nach der Stadt. Alljährlich wurde sein Kahn mit derselben grünen Ölfarbe angestrichen, er setzte sich in seinen Freistunden am liebsten allein in den Kahn und ruderte sich ein wenig auf den Häusern in den Park, nahm seine Angel zur Hand und ergab sich dem Vergnügen, Weißfische und anderes kleines Wasservolk zu fangen.

Ohne Zweifel war das Haus Hummel legitimer, das heißt eigensinniger, wunderlicher, schwerer zu behandeln. Von allen Hausfrauen der Straße erhob Frau Hummel die größten Ansprüche, durch seidene Kleider, durch eine goldene Uhr an goldener Kette. Sie war eine kleine Dame mit blonden Locken, immer noch recht hübsch, sie war im Theater abonniert, gebildet und zartfühlend und konnte sehr böse werden. Sie sah aus, als wenn sie sich aus nichts etwas mache, aber sie wußte alles, was auf der Straße vorging. Nur den eigenen Gatten vermochte ihre Regierungskraft nicht immer zu bewältigen. Doch bewies Herr Hummel, tyrannisch gegen alle Welt, seiner Frau große Rücksicht. Wenn sie ihm im Hause zu stark wurde, ging er stillschweigend in den Garten, und wenn sie ihm auch dahin folgte, verschanzte er sich in der Fabrik hinter einem Bollwerk von Haaren.

Aber auch Frau Hummel war einer höheren Gewalt unterworfen, und diese Macht übte ihr Töchterchen Laura. Von mehreren Kindern war ihr nur dies eine geblieben, alle Zärtlichkeit und weiche Empfindung der Mutter war ihm zuteil geworden. Und es war ein prächtiger kleiner Balg, die ganze Stadtgegend kannte sie, seit sie die ersten roten Schuhe trug, schon auf dem Arm der Wärterin war sie oft angehalten und beschenkt worden. Lustig wuchs es auf, ein dralles Mädchen mit zwei großen blauen Augen und roten Bäckchen, mit dunkelm Kraushaar und einem schlauen Gesicht. Wenn die kleine Hummel die Straße entlang spazierte, ihre Händchen in den Taschen der Schürze, war sie die Freude der ganzen Nachbarschaft. Keck und kurzab wußte sie sich in alle zu schicken und blieb mit dem kleinen Mäulchen niemand etwas schuldig. Sie gab dem Holzhacker vor der Tür ihre Buttersemmel und trank mit ihm aus seiner Schale den dünnen Kaffee, sie begleitete den Postboten die ganze Straße entlang, und ihr größtes Vergnügen war, mit ihm die Treppen hinaufzulaufen, zu klingeln und seine Briefe zu übergeben; ja sie hatte sich einst am späten Abend aus der Stube geschlichen, saß neben dem Nachtwächter auf einem Ecksteine und hielt sein großes Horn in ungeduldiger Erwartung des Stundenschlages, zu welchem das Horn ertönen würde. Frau Hummel schwebte in einer unaufhörlichen Angst, daß ihre Tochter einmal gestohlen werden müsse, denn mehr als einmal war sie auf viele Stunden verschwunden, dann war sie mit fremden Kindern in ihre Wohnung gegangen und hatte mit ihnen gespielt; sie war die Vertraute vieler kleiner Straßenjungen, wußte sich bei ihnen in Respekt zu setzen, gab ihnen Pfennige und empfing als Zeichen der Achtung Brummteufel und kleine Schornsteinfeger, die aus gebackenen Pflaumen und Holzstäbchen zusammengesetzt waren. Sie war ein gutherziges Kind, das lieber lachte als weinte, und ihr lustiges Gesicht machte das Haus des Herrn Hummel wohnlicher als die Efeulaube der Hausfrau und das mächtige Brustbild des Herrn Hummel selbst, welches recht eigensinnig auf Lauras Puppenstube heruntersah.

»Das Kind wird unerträglich,« rief Frau Hummel zornig und trat, die betrübte Laura an der Hand, in das Wohnzimmer. »Sie quirlt den ganzen Tag auf der Straße umher. Jetzt, als ich vom Markte kam, saß sie neben der Brücke auf dem Stuhl der Obstfrau und verkaufte ihr die Zwiebeln. Jedermann blieb stehen und ich mußte mein Kind aus dem Gedränge herausholen.«

»Das Wurm wird gut,« versetzte Herr Hummel lachend, »warum willst du ihr die Jugend nicht gönnen?«

»Sie muß aus dem ordinären Verkehr heraus. Es fehlt ihr aller Sinn für das Feinere, sie kennt noch kaum die Buchstaben und sie hat einen Abscheu vor dem Lesen. Auch ist Zeit, daß mit den französischen Vokabeln ein Anfang gemacht wird. Die Betty der Regierungsrätin ist nicht älter und sie weiß ihre Mutter schon so zierlich chère mère zu nennen.«

»Die Mutter Schere und Möhre und den Vater Kohlrabi,« versetzte Herr Hummel. »Die Franzosen sind ein artiges Volk. Wenn du so besorgt bist, deine Tochter für den Markt abzurichten, dann ist das Türkische immer noch besser als das Französische. Der Türke bezahlt dir Geld, wenn du ihm das Kind verhandelst, die andern wollen alle noch etwas dazu haben.«

»Sprich nicht so ruchlos, Heinrich!« rief die Gattin.

»Und du bleib mir mit deinen verdammten Vokabeln vom Leibe, sonst verspreche ich dir, ich lehre das Kind alle französischen Redensarten, die ich kenne, es sind ihrer nicht viele, aber sie sind kräftig. Baisez moi, Madame Ümmel.« Damit ging er trotzig aus dem Zimmer.

Das Ergebnis dieser Beratung war aber doch, daß Laura in die Schule ging. Es wurde ihr sehr schwer, zu schweigen und zu hören, und längere Zeit waren die Fortschritte wenig befriedigend. Endlich kam auch in die kleine Seele der Ehrgeiz, sie klomm die untere Staffeln der Bildung bei Fräulein Johanne heran, dann wurde sie in das berühmte Institut von Fräulein Jannette befördert, wo die Töchter anspruchsvoller Familien das höhere Wissen erhielten. Dort lernte sie die Nebenflüsse des Amazonenstromes, viel ägyptische Geschichte, tippte auf den Deckel eines Elektrophors, sprach Französisch über das Wetter, las Englisch in einer kunstvollen Weise, welche sogar dem gebornen Briten die Anerkennung abnötigte, daß in dem Institut eine neue Sprache erfunden werde, und wurde endlich in allen Feinheiten eines deutschen Aufsatzes gebildet. Sie schrieb kleine Abhandlungen über den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen, über die Gefühle der berühmten Cornelia, Mutter der Gracchen, über die Schrecken eines Schiffsbruchs und die wüste Insel, auf welche sie sich gerettet hatte. Zuletzt erwarb sie Kenntnisse in der Abfassung von Strophen und Sonetten. Bald stellte sich heraus, daß Lauras Hauptstärke nicht in der französischen, sondern in der deutschen Sprache lag, ihr Stil wurde die Freude der Anstalt, ja sie begann ihre Lehrerinnen und die liebsten Mädchen in Gedichten anzusingen, welche den schwierigen Versbau des großen Schiller vom Kranze aus goldenen Ähren bis zur Form aus Lehm gebrannt sehr glücklich nachahmten. Jetzt war sie mit achtzehn Jahren ein hübsches rosiges Fräulein, immer noch rund und lustig, immer noch die Gebieterin des Hauses, und bei allen Leuten auf der Straße beliebt.

Die Mutter, stolz auf die Bildung der Tochter, hatte ihr nach der Konfirmation ein Oberstübchen geräumt, das auf die Bäume des Parkes hinaussah, und Laura richtete sich ihr kleines Heimwesen zu einem Feenschloß ein, mit Efeu, mit einem kleinen Blumentisch, mit einem allerliebsten Schreibzeug aus Porzellan, auf welchem Schäfer und Schäferin nebeneinander saßen. Dort oben verlebte sie ihre schönsten Stunden bei Feder und Löschblatt, denn sie schrieb vor jedermann verborgen ihre Memoiren.

Aber auch sie teilte die Abneigung ihrer Familie gegen das Nachbarhaus. Schon als kleines Ding war sie bei dieser Haustür schmollend vorübergegangen, noch nie hatte ihr Fuß den Hausflur betreten, und wenn die gute Frau Hahn einmal einen Handschlag von ihr forderte, so dauerte es lange, bevor sie die kleine Hand aus der Schürze zog. Von den Bewohnern des Nachbarhauses war ihr aber der junge Fritz Hahn am peinlichsten. Sie traf selten mit ihm zusammen, und dann wollte das Unglück, daß sie immer in einer Verlegenheit war und Fritz Hahn ihren Gönner spielen konnte. Als sie noch gar nicht in die Schule ging, hatte der älteste Sohn der Frau Knips, schon ein erwachsener Schlingel, welcher hübsche Bilder und Geburtstagswünsche malte und an die Leute in der Nachbarschaft verkaufte, sie einmal zwingen wollen, das Geld, das sie in der Hand hielt, für einen Teufelskopf auszugeben, den er gemalt hatte und den niemand auf der Straße haben wollte. Recht widerwärtig und boshaft behandelte er sie und sie geriet gegen ihre Gewohnheit in Angst, gab ihre Groschen hin und hielt weinend das greuliche Bild zwischen den Fingern. Da kam Fritz Hahn seines Weges, fragte nach dem Handel, und als sie ihm die Gewalttat des Knips klagte, entbrannte er von einem so heftigen Zorn, daß sie wieder über den Fritz erschrak. Er fuhr auf den Burschen los, der sein Mitschüler war und schon eine Klasse höher saß, und begann auf der Stelle eine Prügelei, welcher der jüngere Knips, die Hände in der Tasche, lachend zusah. Und Fritz drängte den garstigen Buben an die Wand und zwang ihn, das kleine Geldstück herauszugeben und seinen Teufel wieder zu nehmen. Aber diese Begegnung half gar nicht dazu, ihr den Fritz lieb zu machen. Sie konnte nicht leiden, daß er schon als Primaner eine Brille trug und daß er immer so ernst vor sich hinsah. Wenn sie aus der Schule kam und er mit seiner Mappe in die Vorlesung ging, suchte sie ihm jedesmal aus dem Wege zu gehen.

Noch später einmal stieß sie mit ihm zusammen – sie saß unter den ersten Mädchen im Institut, der älteste Knips war bereits Magister und der jüngere Lehrling im Geschäft ihres Vaters und Fritz Hahn sollte gerade Doktor werden –, da hatte sie sich auf dem Kahn zwischen die Bäume des Parkes gerudert, bis der Kahn an eine Wurzel stieß und ihr Ruder in das Wasser fiel. Und als sie sich danach bückte, gingen Hut und Sonnenschirm denselben Weg, und Laura sah verlegen um Hilfe nach dem Ufer. Da kam wieder Fritz Hahn in tiefen Gedanken daher, er hörte den leisen Schrei, welchen Laura bei dem Unfall ausstieß, sprang sofort in das schlammige Wasser, fischte Hut und Sonnenschirm und zog den Kahn an das Ufer. Hier bot er Laura die Hand und half ihr auf festen Grund. Laura war ihm wohl Dank schuldig, auch hatte er sie mit Achtung behandelt und Fräulein genannt. Aber er sah doch sehr lächerlich aus, die hagere Gestalt verbeugte sich ungeschickt und die Gläser waren starr auf sie gerichtet. Und als sie darauf erfuhr, daß er von dem Sprung in den Sumpf einen schrecklichen Katarrh davongetragen hatte, da wurde sie heißzornig auf sich selbst und auf ihn, weil sie geschrien hatte, wo gar keine Gefahr war, und weil er zu so unnötigem Ritterdienst gestürmt war; sie würde sich schon allein geholfen haben, und jetzt dächten die Hahns, sie sei ihnen wer weiß welchen Dank schuldig.

Darüber hätte sie ruhig sein können, denn Fritz hatte sich still umgezogen und die Kleider in seiner Stube getrocknet.

Freilich, daß die beiden feindlichen Kinder einander mieden, war natürlich, denn Fritz war eine ganz andere Natur. Auch er war das einzige Kind und auch er war von einem gutherzigen Vater und einer übersorglichen Mutter weich erzogen. Von klein auf ein stiller, in sich gekehrter Knabe, anspruchslos, fleißig in den Büchern, hatte er sich neben dem Haushalt der Eltern seine eigene Welt in der Wissenschaft ausgebaut, welche von der großen Heerstraße seitab lag. Während um ihn das Leben lustig summte, saß er über die Grundstriche und Haken des Sanskrit gebeugt und untersuchte die Familienverwandtschaft zwischen dem wilden Geisterheer, das über der Teutoburger Schlacht dahinfuhr, und zwischen den Göttern der Weda, welche über Palmenwälder und Bambusrohr in das heiße Gangestal hinabschwebten. Auch er war Freude und Stolz seines Hauses, die Mutter ließ sich nicht nehmen, jeden Morgen selbst den Kaffee hinaufzutragen, dann setzte sie sich mit ihrem Schlüsselbund ihm gegenüber und sah schweigend zu, während er sein Frühstück verzehrte, schalt leise über sein Nachtarbeiten am letzten Abend und sagte ihm, daß sie nicht ruhig einschlafe, bis sie über sich den Stuhl rücken höre und die Stiefel klappern, die er zum Reinigen vor die Tür stellte. Nach dem Frühstück bot Fritz dem Vater guten Morgen, und er wußte, daß es dem Vater Freude war, wenn er einige Minuten mit ihm durch den Garten schritt, das Wachstum der Lieblingsblumen betrachtete und vor allem, wenn er dem Vater zu einer Verschönerung seine Zustimmung geben konnte. Das war der einzige Punkt, wo Herr Hahn mit seinem Sohne zuweilen in Gegensatz geriet. Und da er den Gründen des Sohnes nicht zu widerstehen vermochte und den eigenen starken Verschönerungstrieb auch nicht bändigen konnte, so schlug er gern den Weg ein, der selbst von größeren Politikern für nützlich erachtet wird, er bereitete seine Pläne heimlich vor und überraschte durch Tatsachen.

Bei solchem Stilleben war dem jungen Gelehrten der Verkehr mit dem Professor das beste Vergnügen des Tages, seine Erhebung, sein Stolz. Er hatte noch als Student die ersten Vorlesungen gehört, welche Felix Werner an der Universität hielt. Allmählich war eine Freundschaft entstanden, wie sie vielleicht nur unter hochgebildeten und wackern Gelehrten möglich ist. Er wurde der hingebende Vertraute für die umfangreiche Tätigkeit seines Freundes. Jede Untersuchung des Professors und ihre Erfolge wurden bis auf Einzelheiten besprochen, jede Freude, die ein neuer Fund machte, teilten die Nachbarn. Täglich sahen sie einander, viele Abende vergingen ihnen in der schönen Art der Unterhaltung, welche den Deutschen eigentümlich ist, in einem Gespräch, das zwischen Erörterung und Geplauder schwebt, wo zwei Geister, welche beide die Wahrheit suchen, sich im Austausch ihrer Ansichten gegenseitig fördern. Dann rührte in jedem, angeregt durch das feine Verständnis und die Einwürfe des andern, eine schöpferische Kraft kräftig die Schwingen, und blitzschnell und ungeahnt öffneten sich dem Sprechenden und dem Hörer neue Gesichtspunkte, ein tieferes Verständnis. Mit dem besten Teil ihres Lebens wuchsen beide zusammen. Freilich war Fritz als der Jüngere auch der, welcher sich am meisten der feurigen Natur des Freundes bequemte, er war mehr Empfänger als Gebender. Aber gerade deshalb wurde das Verhältnis so fest und innig. Nicht ohne kleine Störungen, wie das bei Gelehrten natürlich ist, denn beide waren von schnellem Urteil, beide hochgespannt in den Forderungen, die sie an sich selbst und an die Menschen machten, beide von seiner, leicht erregter Empfindung. Aber solche Gegensätze wurden bald überwunden, sie trugen nur dazu bei, die liebevolle Rücksicht, mit welcher die Freunde einander behandelten, zu vergrößern.

Durch diese Freundschaft wurde das schwierige Verhältnis der beiden Häuser ein wenig gemildert. Auch Herr Hummel konnte nicht umhin, dem Doktor eine kleine Rücksicht zu gönnen, da sein hochverehrter Mieter den Sohn der Feinde auffallend auszeichnete. Denn auf seinen Mieter ließ Herr Hummel nichts kommen. Durch dunkles Gerücht war ihm verkündet, daß der Professor in seiner Art ein berühmter Mann sei, und er war geneigt, irdischen Ruhm besonders hochzuachten, wenn dieser bei ihm zur Miete wohnte. Auch war der Professor ein vortrefflicher Mieter, er protestierte nie gegen eine Maßregel, welche Herr Hummel als oberste Polizeibehörde des Hauses verfügte; er hatte Herrn Hummel einst wegen Anlage eines Kapitals um Rat gefragt, er hielt nicht Hund nicht Katze, gab keine Tanzgesellschaften, sang nicht zum Fenster hinaus und spielte auf keinem Flügel Bravourstücke. Und was die Hauptsache war, er bewies gegen Frau Hummel und Laura, wenn er ihnen einmal begegnete, eine ritterliche Artigkeit, welche dem gelehrten Herrn sehr wohl stand. Frau Hummel war von ihrem Mieter begeistert, und Hummel hatte gut befunden, die letzte notwendige Erhöhung der Miete nicht vorher im Familienkreise zu besprechen, weil er einen Widerspruch seiner gesamten weiblichen Bevölkerung voraussah.

Jetzt hatte der Kobold, welcher zwischen beiden Häusern hin und her lief, Steine in den Weg werfend und den Menschen Eselsohren bohrend, auch die beiden freien Seelen seines Reviers gegeneinander aufgeregt. Aber sein Versuch blieb kümmerlich: die wackern Männer waren nicht fügsam, nach seiner mißtönenden Pfeife zu tanzen.

Früh am nächsten Morgen trug Gabriel einen Brief seines Herrn zum Doktor hinüber. Als er in den feindlichen Hausflur trat, kam ihm eilig Dorchen, das Dienstmädchen der Familie Hahn, entgegen, einen Brief ihres jungen Herrn an den Professor in der Hand. Die Boten tauschten die Briefe und zu gleicher Zeit lasen die Freunde ihre Zuschriften.

Der Professor schrieb: »Mein lieber Freund, zürne mir nicht, daß ich wieder einmal heftig wurde, die Veranlassung war so abgeschmackt als möglich. Was mich verstimmte, war, ehrlich gesagt, daß Du so unbedingt verweigertest, einen Lateiner mit mir herauszugeben. Denn die Möglichkeit, Verlorenes zu finden, welche wir im gefälligen Traume durch einige Augenblicke annahmen, war mir doch auch darum so lockend, weil sie uns beiden eine gemeinsame Tätigkeit in Aussicht stellte. Wenn ich versuche, Dich in den engern Kreis meiner Wissenschaft zu ziehen, so wirst Du voraussetzen, daß ich dabei nicht nur durch persönliche Empfindungen, sondern weit mehr durch den naheliegenden Wunsch bestimmt werde, für die Wissenschaft, auf welche ich mich beschränken muß, Deine Kraft zu gewinnen.«

Fritz dagegen schrieb: »Lieber teurer Freund, ich trage das peinliche Gefühl mit mir herum, daß meine Empfindlichkeit von gestern uns beiden einen schönen Abend verdorben hat. Meine nur nicht, daß ich Dir das Recht bestreiten will, mir die Weitschweifigkeit und Systemlosigkeit meiner Arbeiten vorzuhalten. Gerade weil Deine Äußerungen eine Saite berührten, deren stillen Mißklang ich selbst zuweilen empfinde, verlor ich für einen Augenblick die Unbefangenheit. Du hast sicher in vielem recht, nur das eine bitte ich Dich zu glauben, daß meine Weigerung, mit Dir eine große Arbeit zu übernehmen, weder selbstsüchtig noch unfreundschaftlich war. Ich bin mir bewußt, daß ich ein, wenn auch für meine Kraft zu umfangreiches, Gebiet nicht verlassen, am wenigsten aber mit einem neuen Kreis von Interessen vertauschen darf, in welchem mein mangelhaftes Konnex Dir nur zur Last sein würde.«

Beide waren nach Empfang dieser Briefe doch etwas beruhigt. Da aber einzelne Äußerungen derselben jedem von ihnen eine weitere Auseinandersetzung notwendig machten, so setzten sie sich beide hin und schrieben einander wieder kurz und gedrungen, wie gedankenvollen Männern ziemt. Der Professor antwortete: »Für Deinen Brief, mein teurer Fritz, danke ich Dir von Herzen. Nur das eine muß ich wiederholen, Du hast von je Deinen eigenen Wert zu niedrig angeschlagen, und wenn ich Dir einen Vorwurf machen darf, so ist es nur dieser.«

Fritz endlich antwortete: »Wie tief und gerührt empfinde ich in diesem Augenblick Deine Freundschaft für mich. Nur das eine will ich Dir noch sagen, unter vielem, was ich von Dir zu lernen habe, ist mir nichts nötiger als Deine bescheidene Beschränkung. Und wenn Du mit diesem Worte Deine umfassende und resultatvolle Tätigkeit bezeichnest, so zürne nicht, daß auch ich für meine Arbeit danach ringe.«

Der Professor ging nach Absendung seines Briefes unruhig in die Vorlesung und hatte das Bewußtsein, daß er zerstreut vortrage, Fritz eilte auf die Bibliothek und suchte emsig alle Notizen zusammen, welche über Schloß Bielstein aufzutreiben waren. Am Mittag nach der Heimkehr las jeder den zweiten Brief des Freundes, dann sah der Professor oft nach der Uhr, und als es drei schlug, setzte er schnell seinen Hut auf und ging mit großen Schritten über die Straße in das feindliche Haus. Während er den Türgriff an der Stube des Doktors faßte, fühlte er von innen einen Gegendruck, kräftig riß er die Tür auf, Fritz stand vor ihm, ebenfalls den Hut auf dem Kopf, im Begriff, zu ihm hinüberzugehen. Ohne ein Wort zu sagen, umarmten einander die beiden Freunde.

»Ich bringe gute Nachricht vom Antiquar«, begann der Professor.

»Und ich vom alten Schlosse«, rief Fritz.

»Höre zu,« sagte der Professor, »der Antiquar hat das Buch des Fraters von einem Kleinhändler gekauft, der im Lande umherzieht, Gerät und alte Bücher zu sammeln. Der Mann wurde in meiner Gegenwart herbeigeholt, er hat das Büchlein in der Stadt Rossau selbst aus dem Nachlaß eines Tuchmachers erstanden, mit einem alten Schrank und einigen geschnitzten Schemeln. Es ist also wenigstens möglich, daß die handschriftlichen Bemerkungen am Ende, die sich ohnedies ungeübtem Blick entziehen, seit dem Tode des Fraters niemals Aufmerksamkeit erregt und niemals Nachforschungen veranlaßt haben. – Vielleicht gewährt noch ein Kirchenbuch von Rossau Nachricht über Leben und Tod des Mönches Tobias Bachhuber.«

»Wohl,« bestätigte Fritz vergnügt, »es besteht dort eine Gemeinde seiner Konfession. Schloß Bielstein aber liegt eine halbe Stunde von der Stadt Rossau auf einer waldigen Anhöhe – sieh hier die Karte. Es war früher Eigentum des Landesherrn, im vorigen Jahrhundert ist es in Privatbesitz übergegangen. Das Gebäude aber dauert noch, es wird in dieser Landeskunde als altes Schloß aufgeführt, welches gegenwärtig Wohnhaus eines Herrn Bauer ist. – Auch mein Vater weiß von dem Hause, er hat es auf einer Geschäftsreise von der Landstraße gesehen und schildert es als ein langgestrecktes Gebäude mit Erkern und hohem Dach.«

»Die Fäden verflechten sich zu einem guten Gewebe«, sagte der Professor, sich behaglich zurechtsetzend.

»Halt, noch eins«, rief der Doktor geschäftig. »Die Sagen dieser Landschaft sind von einem unserer Freunde gesammelt. Der Wackere ist zuverlässig. Laß sehen, ob er eine Erinnerung aus der Umgebung von Rossau ausgezeichnet hat.« Er schlug eilig nach, sah in das Buch und blickte den Freund sprachlos an.

Der Professor ergriff den Band und las die kurze Notiz: »In der Umgegend von Bielstein erzählt man, daß vor alten Zeiten die Mönche einen großen Schatz im Schlosse vermauert haben.«

Wieder stieg die alte unheimliche Handschrift vor den Freunden aus dem Boden, deutlich sichtbar, mit den Händen zu greifen.

»Unmöglich ist ja nicht, daß die Handschrift dort noch versteckt liegt«, bemerkte endlich der Professor mit künstlicher Ruhe. »An Beispielen für dergleichen Funde fehlt es nicht. Es ist noch nicht lange her, da wurde in dem alten Hause eines Gutsbesitzers meiner Heimat eine Zimmerdecke durchgeschlagen, es war eine Doppeldecke, der leere Raum dazwischen enthielt eine Anzahl Urkunden und Papiere über Eigentumsrechte, daneben einigen alten Schmuck. Der Schatz war auch zur Zeit des großen Krieges versteckt worden, und durch Jahrhunderte hatte niemand auf die niedrige Decke der kleinen Stube geachtet.«

»Natürlich«, rief Fritz, sich die Hände reibend, »auch in den Bekleidungen der alten Rauchfänge sind zuweilen leere Räume; ein Bruder meiner Mutter fand beim Umbau seines Hauses an solcher Stelle einen Topf mit Münzen.« Er zog seinen Beutel. »Hier ist eine davon, ein schöner Schwedentaler. Der Oheim gab mir ihn bei der Einsegnung als Heckgroschen, und ich trage ihn seit der Zeit in der Börse. Ich habe manchmal harte Versuchung, ihn auszugeben, bekämpft.«

Der Professor untersuchte genau den Kopf Gustav Adolfs, als ob dieser ein Nachbar des versteckten Tacitus gewesen wäre und in seiner Umschrift eine Kunde von dem verlorenen Buch brächte. »Es ist richtig,« sagte er nachdenkend, »wenn das Haus auf einer Anhöhe liegt, können selbst die Kellerräume trocken sein.«

»Allerdings«, erwiderte der Doktor. »Häufig wurden auch die dicken Wände doppelt gemauert und der Zwischenraum mit Schutt ausgefüllt. Es ist in solchen Fällen leicht, durch kleine Öffnung einen hohlen Raum im Innern der Mauer hervorzubringen.«

»Für uns aber«, begann der Professor sich aufrichtend, »erwächst jetzt die Frage: Was haben wir zu tun? Denn eine solche Kunde, wie groß oder gering ihre Bedeutung auch werden möge, legt dem Finder doch die Pflicht auf, alles mögliche zu tun, was die Entdeckung fördern kann. Und diese Pflicht haben wir ungesäumt und vollständig zu erfüllen.«

»Wenn du öffentliche Mitteilung von dieser Überlieferung machst, so gibst du die Aussicht, die Handschrift selbst zu entdecken, und alles, was sich daran knüpfen mag, aus den Händen.«

»In dieser Sache muß jede persönliche Rücksicht schwinden«, entschied der Professor.

»Und wenn du jetzt die gefundenen Klosternotizen bekanntmachst,« fuhr der Doktor fort, »wer steht dir dafür, daß nicht die behende Tätigkeit eines Antiquars oder eines Ausländers allen weiteren Nachforschungen zuvorkommt? In solchem Falle mag der Schatz, selbst wenn er gefunden wird, nicht allein für dich, auch für unser Land, ja für die Wissenschaft verlorengehen.«

»Das letzte wenigstens darf nicht geschehen«, rief der Professor. – »Und auch, wenn du dich an die Staatsregierung jener Landschaft wendest, ist sehr zweifelhaft, ob dir Verständnis und guter Wille entgegenkommt«, erörterte der Doktor siegreich.

»Es fällt mir nicht ein, die Angelegenheit fremden Beamten zu überlassen«, erwiderte der Professor. »Wir haben aber ganz in der Nähe jemand, dessen Glück und Scharfsinn im Aufspüren von Seltenheiten wunderbar sind. Ich habe Lust, dem Magister Knips von der Handschrift zu sagen: er mag seine Korrekturen auf einige Tage beiseitelegen, für uns nach Rossau reisen und dort das Terrain untersuchen.«

Der Doktor fuhr in die Höhe: »Das darf niemals geschehen. Knips ist nicht der Mann, dem man ein solches Geheimnis anvertrauen darf.«

»Ich habe ihn doch stets zuverlässig gefunden«, entgegnete der Professor. »Er ist bei vieler Wunderlichkeit geschickt und wohlunterrichtet.«

»Mir wäre eine Entweihung deines schönen Fundes, den trödelhaften Mann dafür zu verwenden,«versetzte Fritz, »und ich werde es nie billigen.«

»Dann also«, rief der Professor, »bin ich entschlossen. Die Ferien sind vor der Tür, ich gehe selbst in das alte Haus. Du aber, mein Freund, auch du wolltest dir einige Reisetage gönnen, du mußt mich begleiten: wir reisen zusammen, schlag ein.«

»Von Herzen«, rief der Doktor, die Hand des Freundes fassend. »Wir dringen in das Schloß und zitieren die Geister, welche über dem Schatze schweben.«

»Wir sprechen zuerst ein verständiges Wort mit dem Eigentümer des Hauses. Was dann zu tun ist, wird sich finden. Unterdes bewahren wir die Angelegenheit als Geheimnis.«

»So ist es recht«, stimmte Fritz bei; die Freunde stiegen vergnügt in den Garten des Herrn Hahn hinab und berieten, um die weiße Muse gelagert, die Eröffnung des Feldzuges.

Fest eingedämmt durch methodisches Denken war die Phantasie des Gelehrten, aber in der Tiefe seiner Seele strömte doch reichlich und stark dieser geheimnisvolle Quell aller Schönheit und Tatkraft. Jetzt war in den Damm ein Loch gerissen, lustig ergoß sich die Flut über seine Saaten. Immer wieder flog ihm der Wunsch zu der rätselhaften Handschrift. Er sah die Maueröffnung vor sich und den ersten Schein der Leuchte, der auf die grauen Bücher in der Höhlung fiel; er sah den Schatz in seinen Händen, wie er ihn herantrug und nicht mehr von sich ließ, bis er die unleserlichen Seiten entziffert hatte. – Seliger Geist des Fraters Tobias Bachhuber! wenn du etwa deine Ferienzeit im Himmel dazu verwendest, auf unsere arme Erde zurückzukehren, und wenn du dann bei Nacht durch die Räume des alten Schlosses gleitest, deinen Schatz hütend und unberufene Neugierige schreckend, o so winke freundlich dem Manne zu, der jetzt naht, dein Geheimnis ins Sonnenlicht zu tragen, denn er sucht wahrhaftig nicht für sich Gewinn und Ehren, sondern er beschwort dich als ein Redlicher im Dienst guter Gewalten.


 << zurück weiter >>