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Ilse war am Morgen dieses Tages von dem Abschiedsgruß des Gatten erwacht, sie saß an ihrem Lager und horchte auf die rollenden Räder. »Das war eine bangsame Nacht,« sagte sie, »nach den Tränen und der Angst kamen die Träume. Ich hing über einem Abgrund, tief unten im Nebel rauschte ein Wassersturz, Felix hielt mich von oben an einem Tuch, seine Kraft ließ nach, ich fühlte das an dem Tuche, aber ich hatte im Traume keine Sorge, es war mir lieb, daß Felix mich losließ und nicht mit mir hinabsank. Schwebe in Frieden abwärts, mein Traum, zu deiner Pforte von Elfenbein, du warst ein guter Traum, denn sonst habt ihr einen Hang zum Schlechten, und manchmal muß man sich euer schämen.
»Er fährt dahin, und ich bin allein. Nein, mein Felix, du weilst bei mir, auch wenn ich deine Stimme nicht höre. Ich war gestern heftig gegen dich, das tut mir sehr leid. Ich trage dich doch in mir herum, ganz nach deiner Lehre vom Geist des Menschen, der in den andern übergeht. Das Stück Felix, welches ich mir bewahre, wollen wir heut in Ehren halten und still ausdauern in dem häßlichen Hause.«
Sie öffnete die Vorhänge. »Es wird wieder ein trüber Tag, die Finken sitzen schon am Fenster und schreien nach der säumigen Frau, die heut das Frühstück ihrer Kleinen verschlief. Draußen blüht es, und die großen Blätter des Rhabarbers blähen sich vor Behagen in der feuchten Luft. Dem Vater aber muß des Regens zu viel werden, die Saat leidet. Nicht jedem kann es der liebe Gott zugleich recht machen, begehrlich sind wir alle.
»In der Heimat schwatzen sie über mich. Die Nachbarin sagte nicht das Ärgste, was sie wußte. Dergleichen bin ich nicht gewohnt. Als ich das Weib meines Felix wurde, da meinte ich enthoben zu sein über jede Niedrigkeit der Erde, jetzt aber fühle ich die Stiche in meiner Seele.«
Sie hielt die Hand über die Augen. »Keine Träne heut!« rief sie aufspringend. »Wenn die Gedanken mir wild umherziehen, ich will mir selbst beweisen, daß auch ich etwas von einem Gelehrten habe, ich will ruhig auf mein eigenes Herz sehen und sein Pochen stillen durch kluges Nachdenken. Als er zuerst zu uns kam und der schöne Inhalt seiner Rede mich aufregte, da verfolgte mich sein Bild in meine Kammer; ich nahm ein Buch, aber ich wußte nicht, was ich las, ich ergriff eine Rechnung, aber ich konnte nicht mehr zusammenzählen, ich merkte, daß es stürmisch in mir werden wollte. Und es war doch ein Unrecht, so an einen Mann zu denken, der mir derzeit noch ein Fremder war. Da ging ich mit meiner Angst in die Kinderstube, räumte allen Geschwistern ihre Sachen auf und sah nach, ob die Kinder etwas zerrissen hatten. Ich war damals ein sehr hausbackenes Ding. Ach, ich bin's immer geblieben; ich hoffe, heut soll es mir helfen. Ich suche den leichten Kram zusammen. Denn mir ist doch, als wäre mir die Reise nahe, dafür ist gut, wenn alles gerüstet ist.« Sie öffnete Schrank und Kommode, zog ihren Koffer hervor und packte ein.
»Wohin?« fragte sie leise, »in die Weite? Wie lange ist's her, da hatte ich große Flügel wie eine Schwalbe und flog mit meinen Gedanken froh in die Fremde, und jetzt sind dem armen Schwälbchen die Schwingen gelähmt, ich sitze allein auf meinem Zweig, ich möchte mich tief verstecken in die Blätter und ich fürchte mich vor dem Flattern und Schwatzen der Nachbarn.« Sie stützte das Haupt müde in die Hand. »Wo soll ich hin?« seufzte sie, »zum Vater soll ich nicht, wie soll ich jetzt Berge und alte Säulen mit Freude schauen? wie kann man ein Herz haben für die Bilder der Natur und für das Treiben vergangener Völker, wenn das eigene Leben nicht in Ordnung ist?
»Man soll sich immer betrachten als das Kind des ganzen Menschengeschlechts, sagt mein Felix, und das Haupt frei halten für den hohen Gedanken, daß die Millionen Gestorbener und Lebender mit uns verbunden sind zu einer unauflöslichen Einheit. Wer aber nimmt mir ab von denen, die waren und um mich sind, was mir durch die Seele stürmt und was stets aufs neue quälend in mir aufsteigt? wer löst mich von der Unzufriedenheit mit mir selbst und von einer heißen Angst um das Kommende? Ach, es ist eine Lehre für die großen Stunden des Menschen, wo er ruhig um sich schaut, aber die Lehre ist zu hoch für den armen Gequälten.«
Sie nahm die kleine Bibel von dem Schrank, welche ihr der gute Pfarrer auf dem Stein beim Abschied geschenkt hatte, und zog sie aus ihrer Kapsel. »Ich habe lange versäumt, in dir zu lesen, liebes Buch, denn wenn ich deine Blätter aufschlage, so fühle ich mich wie ein doppeltes Wesen, die alte Ilse wird lebendig, die einst deinen Worten ohne Grübeln vertraute, und dazwischen sehe ich wieder mit den Augen meines Mannes prüfend auf manche Blätter und ich frage, ob auch noch jeder Ausspruch, den ich hier finde, mein Gedanke sein darf. Das kindliche Vertrauen habe ich verloren, und was ich dafür erhalten, ich fühle, daß es vor Unsicherheit nicht schützt. Auch wenn ich die Hände zusammenlege und bitte, wie ich als Kind gelernt, so weiß ich, daß ich um nichts bitten darf als um die Kraft, selbst zu überwinden, was mir den Mut beschwert.«
Der Gärtner trat in das Zimmer, heut wie jeden Morgen, und bot einen Korb Blumen, welchen der Herr des Schlosses ihr sandte. Ilse fuhr auf und wies nach dem Tisch. »Setzen Sie hin,« sagte sie kalt, ohne den Korb zu berühren. Sonst hatte sie dem Mann oft ihre Freude gezeigt an dem schönen Blütenschmuck, den er gezogen, und der Gärtner, dem immer weh tat, daß die vornehmen Herrschaften über das Seltenste wegsahen, hatte sich an den warmen Anteil der fremden Frau so gewöhnt, daß er jeden Morgen selbst die Blumen brachte und ihr die neuen Lieblinge des Glashauses nannte. Das Beste, was er hatte, schnitt er für sie ab. »Die andern merken es doch nicht,« sagte er, »und sie behält auch die lateinischen Namen.«
Heut setzte er gekränkt den Blumenkorb hin. »Es sind neue Pantoffelblumen dabei,« begann er vorwurfsvoll, »es ist mein Sortiment, Sie sehen diese Arten nicht wieder.« Ilse fühlte das Leid des Gärtners, sie trat mit Überwindung an den Tisch und sagte: »Wohl sind sie sehr schön. Aber die Blumen, lieber Herr, verlangen auch ein leichtes Herz, und das fehlt mir jetzt. Ich verdiene heut Ihre Freundlichkeit schlecht, seien Sie mir darum nicht böse.«
»Wenn Sie nur auf die graugefleckten achten wollen,« rief der Gärtner in Künstlerbegeisterung, »diese sind mein Stolz und sonst nirgend in der Welt zu haben.«
Ilse rühmte die grauen. »Manches Jahr habe ich mich gemüht,« fuhr der Gärtner fort, »ich habe alles getan, um guten Samen zu erhalten, immer kam Gewöhnliches. Als ich fast den Mut verloren harte, blühten in einem Jahre alle die neuen Arten. Nicht meine Kunst tat es,« fügte er ehrlich hinzu, »es ist ein Geheimnis der Natur, sie hat mir das Glück gegeben und die Sorge benommen ganz auf einmal.«
»Sie hatten sich doch darum bemüht und wacker das Ihre getan,« antwortete Ilse, »handelt man so, dann mag man auch dem guten Geiste des Lebens vertrauen.«
Der Gärtner ging beruhigt von dannen, Ilse sah auf die Blumen. »Auch er, der euch zu mir sandte, ist mir zur Angst geworden. Und doch war er der einzige hier, der mir gleichmäßige Freundlichkeit und eine gute Haltung gezeigt hat. Felix hat recht, es ist für uns kein Grund, seinetwegen unruhig zu sein. Wer weiß, ob er große Schuld hat an den häßlichen Reden, die um dieses Haus fliegen. Ich darf ihm nicht unrecht tun. Aber wenn ich seine Blumen betrachte, ist mir jetzt, als läge eine Natter darin, denn ich weiß nicht, ist seine Seele lauter oder unrein, ich verstehe seine Art nicht, und das macht unsicher und argwöhnisch.« Sie stieß den Korb weg und wandte sich ab.
Das Mädchen, welches ihr zur Bedienung übergeben war, kam betrübt in das Zimmer und bat, ihr bis morgen Urlaub zu geben, weil ihre Mutter auf einem Dorf in der Nähe schwer erkrankt sei. Ilse erkundigte sich gütig nach der Krankheit, gab ihr mit Wünschen und gutem Rat die erbetene Freiheit. Das Mädchen schlich verstört aus der Tür, Ilse sah ihr traurig nach. »Auch ihr ist das Herz schwer. Es trifft sich gut, daß Felix nicht zu Hause ist, da kann ich mir allein helfen. Es wird ein stiller Tag werden, nach dem Sturm von gestern ist mir das recht.«
Wieder klopfte es, der Kastellan vom Schlosse brachte die Briefe, welche ihm der Postbote auch für den Pavillon abgab. Es waren heut Briefe der Geschwister, die den regelmäßigen Verkehr zwischen dem Stein und seiner entfernten Tochter unterhielten. Über das ernste Gesicht von Frau Ilse flog ein Strahl der Freude.
»Das ist ein guter Morgengruß,« sagte sie, »ich will heut meiner Bande ausführlich antworten, wer weiß, ob in den nächsten Wochen Zeit dafür ist.« Sie eilte an den Schreibtisch, las, lachte und schrieb, die Angst war von ihr genommen, sie plauderte als frohes Kind in den Redensarten und Gedanken der Kinderstube. Darüber verrannen die Stunden, Gabriel trug das Mittagsmahl auf und ab. Als er sie am Nachmittag wieder über die Briefe geneigt fand, blieb er hinter ihr stehen und kämpfte mit sich, ob er sie anreden sollte, aber da Ilse so tief in ihre Arbeit versenkt war, nickte er vor sich hin und schloß die Tür.
Zuletzt schrieb Ilse an den Vater. Wieder wurde ihr das Haupt schwer, und aus der Tiefe stieg die Angst und legte sich brennend um ihre Brust. Sie sprang vom Schreibtisch auf und ging heftig durch das Zimmer. Da, als sie dem Fenster nahe kam, sah sie, daß der Herr des Schlosses langsam auf dem Kieswege dem Pavillon zuschritt.
Ilse trat schnell zurück. Nicht ungewohnt waren ihr die kurzen Besuche des Fürsten, heut aber blickte sie scheu auf die Wände, das Blut schoß ihr zu dem Herzen, sie preßte die Hände auf die Brust und rang nach Fassung.
Die Tür flog auf. »Ich komme zu hören,« begann der Fürst, »wie Sie die Einsamkeit dieser Stunden ertragen. Auch mein Haus ist geräumt, die Kinder sind von mir gezogen, es ist leer unter dem Schiefer des großen Baues.«
»Ich habe die Muße benutzt, mit entfernten Freunden zu verkehren,« antwortete Ilse. Sie wollte heut die Namen der Kinder vor dem Fürsten nicht nennen.
»Gehört zu diesen Freunden auch das kleine Volk, welches in der Ferne auf dem Steine umherspringt?« fragte der Fürst lächelnd, »haben die Kinder vom Gute wieder ihre Wünsche ans Herz gelegt?« Er ergriff einen Stuhl und lud Ilse zum Sitzen ein.
Seine Haltung gab auch ihr größere Ruhe, er sah in diesem Augenblick aus wie ein kluger und wohlwollender Mann.
»Ja, Hoheit,« versetzte Ilse. »Diesmal aber war meine jüngere Schwester Luise die eifrigste Briefstellerin.«
»Verspricht sie Ihnen ähnlich zu werden?« fragte der Fürst leutselig.
»Sie ist jetzt zwölf Jahr,« erwiderte Ilse gehalten, »sie hat Gefühle für alles, und ihre Phantasie fliegt um jeden Strohhalm. Es sieht fast aus, als ob sie die Dichterin der Kinderstube sein wollte. Ich weiß nicht, wie dieser phantastische Sinn in unsere Wirtschaft gekommen ist. Sie erzählt mir in ihrem Brief eine ganze lange Geschichte, die ihr selbst begegnet ist, und die doch nichts ist als ein kleines Märchen, das sie irgendwo gelesen hat. Denn seit ich in der Stadt bin, sind mehr Märchenbücher auf den Stein gekommen als in meiner Jugend.«
»Wahrscheinlich ist es nur kindliche Eitelkeit,« sagte der Fürst freundlich, »welche sie antreibt, eine Erfindung für Wahrheit auszugeben.«
»So ist es auch,« antwortete Ilse lebhafter. »Sie will sich im Walde verirrt haben, und als sie einsam unter den Pilzen saß, kamen die kleinen Tiere unseres Hofes, die sie sonst füttert, die weiße Maus im Käfig, das Kätzchen und der Schäferhund, setzten sich um sie und liefen vor ihr her, bis sie sich aus dem Walde fand. Die Katze neben der Maus, Hoheit, das war dumm! Diese Geschichte erzählt sie dreist als Wirklichkeit und fordert mich noch auf, sie rührend zu finden. Das wurde doch zu arg, ich habe ihr aber auch meine Meinung gesagt.«
Der Fürst lachte, er lachte von Herzen. Es war ein seltener Klang, der an den Wänden des dunkeln Zimmers dahinzog, und verwundert schaute der Liebesgott oben auf den lustigen Mann herab. »Darf ich fragen, welche Kritik dem poetischen Gemüt zuerteilt wurde?« fragte der Fürst. »In dem Märchen ist doch eine poetische Idee, daß Freundlichkeit, welche man andern erwiesen, zur rechten Stunde wieder vergolten wird. Das ist leider nur Dichtereinfall, die Wirklichkeit kennt solche Dankbarkeit selten.«
»Man soll auch im Leben nicht auf fremde Hilfe bauen,« versetzte Ilse fest. »Und man soll Freundlichkeit andern nicht erweisen, damit sie vergolten wird. Es ist ja besondere Freude, wenn ein Ton, den man in die Welt gerufen hat, als Echo herzlich zu uns zurückklingt, aber man soll nicht darauf vertrauen; ein verirrtes Kind soll tapfer seine fünf Sinne zusammennehmen, damit es den Weg zur Heimat selbst findet. Vor allem aber soll man nicht poetische Einfälle für ein erlebtes Ereignis ausgeben. Darüber gab's wieder Schelte, denn, Ew. Hoheit, Mädchen in diesen Jahren muß man immer zu richtiger Besinnung zwingen, sie verlieren sich leicht in Träumerei.«
Der Fürst lachte wieder. Wo weilen die klugen Tiere, Frau Ilse, welche dir freundlichen Rat geben in deiner Not?
»Sie waren zu streng,« sagte der Fürst. »Auch uns Erwachsenen täuscht die Hexe Phantasie ewig das Urteil; man ängstigt sich ohne Grund und man hofft und vertraut ohne Berechtigung. Wer immer vermöchte, das unbefangene Urteil über die eigene Lage zu bewahren, der wäre so frei, daß er das Leben schwerlich noch ertrüge.«
»Die Phantasie verwirrt uns,« antwortete Ilse umherblickend, »aber sie warnt uns auch.«
»Was ist alle Wärme der Empfindung, jede Hingabe an andere Menschen?« fuhr der Fürst traurig fort, »nichts als ein feiner Selbstbetrug. Wenn ich jetzt mir mit der frohen Empfindung schmeichle, daß es mir gelang, einen Anteil auch an Ihrem Herzen für mich zu gewinnen, zuletzt ist auch das nur eine Täuschung; aber es ist ein Traum, den ich mir sorgfältig erhalte, denn er tut mir wohl. Mit einem Genuß, den ich lange entbehrt, höre ich auf die ehrlichen Worte Ihrer Stimme, und mich peinigt der Gedanke, daß ich dies anmutige Behagen je wieder missen soll. Es hat für mich höheren Wert, als Sie wohl meinen.«
»Ew. Hoheit sprechen zu mir wie zu einem recht guten Freunde,« entgegnete Ilse sich hoch aufrichtend, »und wenn ich den Ausdruck, womit Sie mir dies Gütige sagen, zu Herzen nehme, so muß ich glauben, daß Ihnen ganz so zumute ist, wie Sie reden. Mir aber stört jetzt dieselbe Phantasie, welche Sie tadeln und loben, auch das Vertrauen, welches ich gern zu Ew. Hoheit haben möchte. Und ich will darüber nicht schweigen, denn mir tut weh, nach solchem lieben Wort etwas gegen Sie auf dem Herzen zu behalten.« Sie stand schnell auf. »Mir stört meinen Frieden, daß ich in einem Hause wohne, welches der Fuß anderer Frauen meidet.«
Der Fürst blickte überrascht auf die Frau, welche mit fester Haltung die innere Unruhe beherrschte. »Die Wahrsagerin,« murmelte er.
»Ew. Hoheit wissen so gut, welche Dienste die Phantasie tut,« fuhr Ilse schmerzlich fort. »Mich hat sie gequält, und mir wird schwer, in diesem Raum an die Achtung zu glauben, deren Ew. Hoheit mich versichern.«
»Was hat man Ihnen zugetragen?« fragte der Fürst mit scharfem Ton.
»Was Ew. Hoheit aus meinem Munde zu hören nicht verlangen dürfen,« versetzte Ilse stolz. »Es ist möglich, daß ein Herr vom Hofe über dergleichen gleichgültiger denkt. Das sage ich mir selbst. Mir aber hat Unglück gebracht, daß ich hier bin. Es ist ein Fleck auf einem saubern Gewande, mein Auge haftet starr darauf, ich wasche ihn weg mit meiner Hand, und doch liegt er immer wieder vor mir, denn es ist ein Schatten, der von außen darüber fällt.«
Der Fürst sah finster vor sich hin. »Ich benutze die Ausreden nicht, welche Sie selbst dem Herrn eines Hofes in den Mund legen, denn ich fühle in diesem Augenblicke tief und leidenschaftlich wie Sie, daß man Ihnen ein Unrecht getan. Ich habe nur eine Entschuldigung,« fuhr er in gehobener Stimme fort, »Sie kamen her, mir fremd, und wenig ahnte ich, welchen Schatz man in meiner Nähe barg. Seitdem haben Sie bei kurzem Gruß und Kommen für mich eine Bedeutung gewonnen, der ich mich widerstandslos hingebe. Selten erlaubt mir das Schicksal unverhüllt zu sagen, was ich empfinde. Ich scheue mich, die hochtrabenden Worte eines Jünglings zu gebrauchen, denn ich will Sie nicht beunruhigen. Glauben Sie aber nicht, daß ich gegen Sie weniger stark fühle, weil ich meine Bewegung zu verbergen weiß.«
Ilse stand in der Mitte des Zimmers, ein flammendes Rot fuhr ihr über die Wangen. »Ich bitte Ew. Hoheit, kein Wort weiter zu sprechen, denn mir ziemt nicht, das zu hören.«
Der Fürst lächelte bitter. »Schon habe ich Sie verletzt, und Sie machen mir schnell deutlich, daß eine Täuschung war, wenn ich auf Ihre Neigung hoffte. Und doch bin ich Ihnen gegenüber so arm, daß ich Sie bitte, Ihr Mitgefühl einer Leidenschaft nicht zu versagen, die so heiß in mir glüht, daß sie mir in dieser Stunde die Herrschaft über mich selbst genommen hat.«
Ilse flüsterte vor sich hin: »Hinweg von hier!«
»Entsagen Sie diesem Gedanken,« rief der Fürst in höchster Aufregung. »Ich kann Ihren Anblick, den Klang Ihrer Stimme nicht entbehren. Wie spärlich er mich erfreut, er ist das Glück meiner Tage, in meinem Leben ohne Freude und Liebe das einzige große Gefühl. Daß ich Sie mir nahe weiß, hält mich aufrecht im Kampfe gegen Gedanken, die mich in düsteren Stunden betäuben. Wie der andächtige Wanderer auf das Glöcklein des Eremiten lauscht, so horche ich auf den leisen Ton, der aus Ihrem Leben in das meine klingt. Lassen Sie sich die Hingabe des einsamen Mannes gefallen,« setzte er ruhiger bittend hinzu. »Ich gelobe, Ihr Zartgefühl nicht mehr zu kränken, ich gelobe, mich mit dem Anrecht an Ihr Leben zu begnügen, das Sie mir in freier Wahl geben.«
»Mich aber reut jedes Wort, das ich zu Ew. Hoheit gesprochen, und mich reut jede Stunde, in der ich ehrfürchtig Ihrer gedacht,« rief Ilse in aufloderndem Zorn. »Ich war ein armes gläubiges Kind,« fuhr sie außer sich fort, »und ich habe für meinen Fürsten die Hände gefaltet, ehe mein Auge ihn gesehen, jetzt, da ich ihn kenne, graut mir vor ihm und ich raffe mein Kleid zusammen und spreche: Hebe dich weg von mir.«
Der Fürst fiel in einen Stuhl. »Es ist ein alter Fluch, der aus diesen Wänden in mein Ohr braust, es ist nicht Ihre Seele, die mich von sich stößt. Von Ihren Lippen soll nur das Wort der Liebe und des Erbarmens kommen. Nicht der Versucher bin ich, selbst ein Wanderer in der Wüste, nichts um mich als öder Sand und starrer Fels. Und ich höre verschmachtend ein Kinderlachen, ich sehe die blondgelockte Schar bei mir vorübergehen, ich sehe zwei Augen mit warmem Gruß auf mich geheftet und eine Hand, die dem Müden mit der gefüllten Schale zuwinkt, und wie ein Nebelbild ist alles verschwunden, ich bleibe allein, und ich verderbe.« Er schlug die Hände vor die Augen. Ilse erwiderte kein Wort, sie stand abgewandt und blickte durch das Fenster nach den Wolken, welche flüchtig am Himmel zogen.
Es war still im Zimmer. Keines regte sich und keines sprach. Langsam erhob sich der Fürst, er trat vor Ilse, wie verglast waren seine, Augen und seine Bewegungen mühsam und gezwungen. »Hat Sie verletzt, was ich in überströmendem Eifer sprach, so vergessen Sie es. Ich habe Ihnen gezeigt, daß auch ich noch nicht frei von der Schwäche lebe, vergeblich auf einen verwandten Herzschlag zu hoffen. Denken Sie nur daran, daß ich ein Irrender bin, der bei Ihnen Trost gesucht hat, es war eine demütige Frage, können Sie keine Antwort geben, so zürnen Sie doch dem armen Bittenden nicht.« Ein langer Blick fiel aus sie, heiße Leidenschaft, tödlich verletzter Stolz und etwas anderes, das der Frau Entsetzen erregte, lag in seinem Auge, fest und starr sah auch sie ihm in das Antlitz, er hob warnend den Finger und schritt zur Tür hinaus.
Sie lauschte auf die Tritte des Schreitenden, sie merkte jede Treppenstufe, die er hinabstieg, als sich die Haustür hinter ihm schloß, riß sie an der Klingel.
Gabriel, der im Vorzimmer gestanden, trat schnell herein. »Ich will fort von hier,« rief Ilse.
»Wohin, Frau Professorin?« fragte der erschrockene Diener.
Wohin? brauste es in Ilses Ohr.
»Zu meinem Mann,« rief sie, aber als sie die eigenen Worte hörte, fuhr sie zusammen; auch er war in einem Hause des Fürsten, er war bei der Tochter des argen Mannes, er selbst nicht sicher dort, sein Weib nicht sicher bei ihm. Wohin? wirbelte ihr im Hirn. Beim Vater auf dem Stein war der Sohn des argen Mannes; sie dürfe nicht hinkommen, hatte die Nachbarin gesagt. Sie senkte betäubt das Haupt, das Gefühl der Hilflosigkeit legte sich zentnerschwer auf sie. Aber sie erhob sich wieder und trat nahe zu Gabriel. »Ich will dies Haus verlassen,« sagte sie, »ich will diese Stadt verlassen, noch heut, auf der Stelle.« Der Diener rang die Hände. »Ich wußte, daß es so kommen würde,« rief er.
»Sie wußten es?« fragte Ilse finster, »und ich nicht und mein Gatte nicht? Lag denn auf der Straße für jedermann sichtbar, was ihm und mir Geheimnis war?«
»Ich merkte, daß es hier sehr unheimlich ist,« antwortete Gabriel, »und daß niemand dem vornehmen Herrn traut, welcher dort hinausging. Wie durfte ich Ihnen sagen, was nur mein einfältiger Gedanke war?«
»Es ist nicht gut, wenn man sich zu wenig um die Reden der Leute kümmert,« versetzte Ilse. »Ich will an einen Ort, wo ich eine Frau finde, Gabriel. Schaffen Sie mir sogleich einen Wagen und begleiten Sie mich zur Frau Oberamtmann. Wir lassen alles hier, Sie kehren in das Haus zurück, damit Sie zur Stelle sind, wenn mein Mann eintrifft.«
»Woher soll ich den Wagen nehmen?« fragte Gabriel zögernd.
»Aus der Stadt und nicht aus dem Marstall.«
Gabriel stand und überlegte, endlich sagte er kurz: »Ich gehe, Frau Professorin, haben Sie die Güte zu verhindern, daß der Lakai nicht zusieht, wenn Sie sich zur Reise bereiten.«
»Niemand darf es wissen,« rief Ilse heftig. Gabriel eilte hinaus, Ilse verriegelte die Tür und flog in das Nebenzimmer. Dort suchte sie das Unentbehrliche für die Reise zusammen, Hut und Hülle. Sie schloß alle Behälter und packte die Schlüssel in ein Bund. »Wenn Felix kommt, soll er nicht sagen, daß ich kopflos entlaufen sei.« Sie ging auch an seinen Arbeitstisch und versiegelte die Briefe in einem Paket. »Damit kein neugieriges Auge auf euch blickt,« sagte sie. Als sie die Briefe der Kinder und ihre eigenen Antworten zusammenschloß, überfiel sie ein Schauer und sie barg das Bündel schnell unter den übrigen Schriften. Sie war fertig, Gabriel kehrte noch nicht zurück, er säumte lange. Mit festem Schritt ging sie durch die Zimmer. »Fremder seid ihr mir geworden, je länger ich hier weilte. Die Pracht des ersten Abends, wo ist sie geblieben? Es war ein kalter Glanz, feindselig meinem Leben, könnte ich jede Erinnerung an euch aus der Seele reißen, es wäre mir lieb.« Sie setzte sich auf die Stelle, wo sie in der Nacht über den schlafenden Gatten geblickt. »Das war der letzte traurige Blick auf sein liebes Haupt, wann sehe ich es wieder? Ich gehe von dir, mein Felix. Wer uns das gesagt hätte, als wir nebeneinander vor dem Altare standen! Ich lasse dich zurück unter argdenkenden Menschen, dich, auch dich in Gefahr, und ich gehe allein in die Fremde, Rettung für mich zu suchen, weit weg von dir. Wer uns das gesagt hätte noch vor wenigen Tagen, ich hätte ihn einen Lügner gescholten in sein Angesicht. Ich gehe, mein Felix, um mich zu retten für dich, denke daran,« bat sie vor dem Lager, »und zürne mir nicht. Um Kleineres ginge ich nicht.« Sie sank an den Kissen nieder und rang die Hände in tränenlosem Schmerz. Lange lag sie so, endlich pochte es an der äußern Tür, sie sprang auf und öffnete, aber sie fuhr zurück, als sie in das bleiche Antlitz des treuen Dieners sah.
»Ich habe keinen Wagen bestellt,« sagte Gabriel, »denn es würde nichts nützen.«
»Was heißt das?« fragte Ilse finster.
»Der Wagen, welcher hier vorfährt, würde die Frau Professorin nicht dahin bringen, wo Sie wollen, nur dahin, wo andere wollen.«
»So gehen wir selbst und nehmen in der Stadt ein Fuhrwerk, wie es auch sei.«
»Wohin wir gehen,« erwiderte Gabriel, »werden wir beobachtet, wenn ich einen Wagen rufe, wird er wieder abbestellt.«
»Sie sind selbst erschrocken, Gabriel, und Sie sehen Gefahren, wo keine sind,« erwiderte Ilse unwillig.
»Wenn auch ein ehrlicher Mann Sie zu der Frau Oberamtmann fährt,« fuhr Gabriel fort, »so ist doch zweifelhaft, ob Sie auf dem Gute ankommen. Sehen Sie den Mann dort unten am Schlosse? Er geht langsam wie ein Spaziergänger, aber er verwendet kein Auge von diesem Hause. Das ist einer von unsern Wächtern, und er ist nicht der einzige.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Ilse.
»Ich habe einen guten Freund hier, der zum Schlosse gehört,« antwortete Gabriel zögernd, »zürnen Sie nicht, Frau Professorin, daß ich bei ihm anfragte, denn er kennt alle Schliche. Es ist ja möglich, sagte mir dieser, daß es glückt. Denn man kann die Leute in der Stadt doch nicht zu Räubern oder Betrügern machen, aber es ist unsicher und gefährlich.«
Ilse ergriff ihren Hut und Mantel.
»Ich gehe, Gabriel,« sagte sie ruhig. »Wollen Sie mich auf meinem Gange begleiten?«
»Liebe Frau Professorin, wohin Sie wollen,« rief Gabriel. »Hören Sie aber erst auf meinen Vorschlag. Der Bekannte meint, das sicherste ist, wenn der Herr Oberamtmann Sie selbst abholen kommt, und zwar am Abend. Die Abende sind finster, und Sie können dann vielleicht aus dem Hause gehen, ohne daß der Lakai oder ein anderer es bemerkt.«
»Eine Gefangene!« rief Ilse. – »Wer ist Ihr Bekannter?« fragte sie, Gabriel scharf ansehend.
»Er ist sicher wie Gold,« beteuerte Gabriel, »und ich werde es der Frau Professorin später gern erzählen, nur heut bitte ich mich nicht zu fragen, denn er hat wegen seiner eigenen Sicherheit gefordert, daß kein Mensch von ihm erfahre.«
»Ihrer Treue vertraue ich,« versetzte Ilse kalt, »aber Sie selbst können getäuscht werden. Fremdem Rat folge ich nicht.«
»Er hat mir ein Pferd angeboten,« rief Gabriel, »es steht bereits vor der Stadt. Wenn Sie mir eine Zeile an den Herrn Oberamtmann mitgeben, ich reite selbst und bringe den Wagen bei guter Zeit.«
Ilse sah finster auf den Diener. »Darüber vergehen viele Stunden, ich will nicht allein hier bleiben. Ich gehe zu Fuß auf der Landstraße zu meinen Freunden.«
»Sehen die Frau Professorin nach dem Himmel, ein Wetter zieht herauf.«
»Es ist mir recht,« rief Ilse, »ich gehe nicht zum erstenmal durch den Regen. Wollen Sie mich nicht begleiten, so erwarten Sie hier meinen Mann und sagen ihm, ich wäre hinausgegangen auf meine Heimat zu, wenn ich bei guten Leuten bin, werde ich ihm schreiben.«
Gabriel rang die Hände, Ilse knüpfte Hut und Mantel um.
Da erhob sich unten im Hausflur ein lauter Wortwechsel, Gabriel riß die Tür auf, eine fremde Baßstimme zürnte heftig gegen den Lakaien: »Ich aber sage Ihnen, Levkoi, oder was für eine Pflanze Sie sonst sind, ich bin nicht der Mann, der sich die Tür vor der Nase zuschlagen läßt; sie ist zu Hause.«
Ilse warf Hut und Mantel von sich, sprang an die Treppe und rief hinunter: »Herr Hummel!«
»Gehorsamster Diener, Frau Professorin,« rief Hummel herauf. »Ich komme sogleich, ich will nur erst diesem Majordomus meine Hochachtung aussprechen. Sie sind ein Intrigant, Herr, und ein Subjekt, dem ich diejenige Behandlung wünsche, welche es verdient: dreijährige Hasel und stramm angezogen. Ich komme, Frau Professorin.« Er stieg schwerfällig die Treppe heraus, Ilse flog ihm entgegen, führte ihn an der Hand in ihr Zimmer, und so übermächtig wurde ihr jetzt die Erschütterung, daß sie ihr Haupt auf seine Schulter legte und weinte.
Herr Hummel hielt still und sah teilnehmend auf Frau Ilse.
»Also das ist Hofbrauch?« fragte er leise, »und in diesem Tone wird hier Konversation gemacht?«
»Mein Gatte ist verreist, ich will hinweg, Herr Hummel, helfen Sie mir ins Freie.«
»Das ist ganz mein Fall,« versicherte Hummel, »ich bin ohnedies mitten in einem Entführungsgeschäft; ich komme in diese Stadt, um Ihnen wegen meiner Tochter Laura eine Bitte vorzutragen und bei schwarzen Herren hierselbst einiges in Ordnung zu bringen. Wohin wollen Sie reisen?«
»Zu guten Freunden, welche mich in das Haus meines Vaters bringen.«
»Dies ist der rechte Weg,« ermutigte Hummel. »In verzweifeltem Fall, wenn alles in der Welt wankt, soll das Kind zum Vater zurück. Diese Treue bleibt, sie ist zwanzig Jahr alt, bevor die des Mannes anfängt. Da Ihr Herr Vater nicht vorhanden ist, so erlauben Sie, daß ein anderer, der auch weiß, was Sorge um ein Kind heißt, bei Ihnen die Stelle des Vaters vertritt.«
Ilse hielt sich an ihm fest, Hummel drückte ihr in seiner Weise zart die Hand, es war doch ein kräftiger Druck.
»Jetzt Ruhe und kaltes Blut. Es kann keine geringe Sache sein, welche Sie so stark bewegt. Ich verlasse Sie nicht eher, bis ich Sie gut aufgehoben weiß.« Er sah auf Gabriel, der ihm ein Zeichen machte. »Sie also, Frau Professorin, kümmern sich um gar nichts. Setzen Sie sich ruhig hin und erlauben Sie, daß ich mich mit Gabriel bespreche. Ich sorge Ihnen für alles, und ich stehe für alles.«
Ilse blickte ihn dankbar an und setzte sich gehorsam nieder. Hummel winkte Gabriel in das Nebenzimmer. »Was ist hier vorgefallen?« fragte er.
»Der Herr ist auf einige Tage verreist, unterdes ist man unartig gegen die Frau Professorin geworden, hier gehen große Schlechtigkeiten vor, man will sie nicht abreisen lassen.«
»Meine Mieter nicht abreisen lassen?« rief Herr Hummel, »lächerlich! Ich habe einen Reisepaß bis Paris in der Tasche, wir springen über dieses Land hinweg wie Heupferde. Ich hole sogleich eine Fuhre.« Gabriel schüttelte den Kopf. Die Vertrauten handelten eine Weile miteinander. Herr Hummel kam zurück und sagte mit größerem Ernst zu Ilse: »Jetzt bitte ich, setzen Sie sich an den Schreibtisch und verfassen Sie einige Zeilen an den Herrn Oberamtmann; an den Mann und nicht an die Frau, sonst gibt's Verwirrung; er soll sogleich nach Empfang dieses Schreibens mit einem geschlossenen Wagen hierherkommen, er soll in der Vorstadt beim Schwarzen Bär mit dem Wagen halten, er soll seinen Wagen nicht verlassen, es wäre ein großer Freundesdienst. Weiter nichts. Diesen Brief schafft Gabriel an die Adresse. Wie er ihn besorgt, ist ganz seine Sache und kümmert uns nicht, will er fliegen, wie dieser zweideutige Genius an der Decke, welcher seinen Paletot vergessen hat, so wird das um so besser sein. Also der Brief ist fertig, verzeihen Sie, wenn ich ihn lese. Alles richtig und genau. Schnell fort, Gabriel. Sobald Sie beim Schlosse vorüber sind, dann Karriere, bis dahin benehmen Sie sich als ruhiger Menschenfreund, ich erlaube Ihnen, meinen Dessauer zu pfeifen, wenn Sie das imstande sind. Sollte man Sie fragen, so besorgen Sie für mich Geschäfte.«
Gabriel eilte zur Tür hinaus. Hummel rückte sich einen Stuhl vor Frau Ilse und sah auf seine Uhr. »Sie werden fünf Stunden auf den Wagen warten, wenn alles gut geht. Unterdes müssen Sie mich bei sich ertragen, ich verlasse dieses Hans nicht ohne Sie. Lassen Sie sich den Aufschub nicht leid sein, mir ist er lieb, denn ich habe mit Ihnen als mit einer braven Frau, vor welcher ich mit wahrem Respekt den Hut abnehme, auch über meine Angelegenheiten zu sprechen, welche mir sehr auf dem Herzen liegen. Wir haben Zeit genug dafür. Ich habe auch dem Herrn Professor einige Papiere mitgebracht, es kommt wenig darauf an, sie werden aber hier auf den Tisch gelegt, damit wir als Geschäftsleute einander gegenübersitzen. Dann aber werde ich mich freuen, wenn Sie dem Judas im Bedientenzimmer meinetwegen einen Auftrag geben. Haben Sie jedoch die Güte, vorher alles wegzuräumen, was daran erinnert, daß Sie von mir entführt sein wollen.«
Ilse sah ihn unsicher an. »Was darf ich dem Mann sagen, Herr Hummel?«
»Sie sind eine so gute Hausfrau,« versetzte Hummel verbindlich, »daß ich Ihnen durchaus überlassen kann, was Sie mir vorsetzen wollen. Ich bin den ganzen Tag gereist.« Er machte eine kleine Handbewegung nach seiner Weste.
Ilse sprang auf, sie mußte trotz ihrer Angst lächeln über das allzu sorgliche Wesen des Hauswirts. »Verzeihen Sie mir, Herr Hummel.«
»Das ist die rechte Stimmung,« bestätigte Hummel, »es gibt kein besseres Mittel gegen das Tragische, als einen gedeckten Tisch. Ich bitte deshalb nicht um einen Teller, sondern um zwei, es würde mir nicht munden, wenn Sie zusehen wollten. Glauben Sie mir, Frau Professorin, die edelsten Gefühle sind unzuverlässig, wenn nicht ein ehrliches Butterbrot gleichsam als Stempel daraufgedrückt worden ist. Das macht ruhig und fest. Und Sie werden heut diese Tugenden noch nötig haben.«
Ilse schellte. »Erscheint das Besteck,« fuhr Hummel fort, »so nennen Sie ihm meinen Namen und Firma. Ich reise überhaupt nicht inkognito, und ich wünsche hier gar nicht mysteriös betrachtet zu werden.«
Der Lakai erschien, Ilse gab ihm Auftrag, im Gasthof das Nötige zu holen, und fragte, wie er dazu gekommen sei, ihre Anwesenheit vor ihrem lieben Hauswirt zu verleugnen.
Der Mann stotterte eine Entschuldigung und entfernte sich eilig.
»Als ich in dies Haus kam, wußte ich bereits, daß hier nicht alles in Ordnung war. Ich fragte im Schlosse nach Ihnen und erhielt keine genügende Auskunft, ich fragte hinter dem Schlosse einen Mann, welcher umherstrich, nach Ihrer Behausung. Er sah mich an wie ein Kreuzschnabel. Sie wären verreist, behauptete er und versuchte meine Geheimnisse auszupumpen. Darüber gab es eine kurze Unterhaltung, wobei Kreuzschnabel seine Bosheit kundgab, weil ich ihn wegen Unbekanntschaft mit seinem gewöhnlichen Titel einen Spion nannte. Der Wachtposten trat dazu und ich sah, die Herren Konfratres hatten Lust, mich festzuhalten. Da kam ein junger Herr des Weges, fragte die andern nach dem Grund des Lärms und sagte, er wüßte, daß Sie zu Hause wären. Er begleitete mich bis vor dieses Haus, fragte höflich nach meinem Namen, nannte mir auch den seinen, Leutnant Baumläufer, und riet, ich sollte mich ja nicht abschrecken lassen, das Dienervolk sei unverschämt, Sie aber würden sich freuen, einen alten Freund zu sehen. Er muß auch Ihnen bekannt sein.«
Der Lakai deckte den Tisch. Sooft er Herrn Hummel die Teller bot, sah ihn dieser mit vernichtendem Blick an und beeiferte sich nicht, ihm sein Amt leicht zu machen. Dagegen bot er Frau Ilse ritterlich die Speisen und ermahnte sie durch ein bedeutungsvolles Räuspern, sich vorzusehen. Während der Diener abräumte, begann Hummel, sich zurechtrückend: »Jetzt erlaube ich mir, von unsern Geschäften zu sprechen, es wird ein langer Vortrag, haben Sie Geduld.«
Es war Abend geworden, Finsternis lag über dem unheimlichen Hause, das Wetter zog herauf, die Fenster klirrten im Winde und der Regen rauschte. Ilse saß wie im Traum. Zwischen dem heftigen Sturm des versinkenden Tages und der bangen Erwartung einer wilden Nacht lagerte sich vor ihr die behagliche Prosa der Parkstraße, furchtlos, sicher, mit sich und der Welt zufrieden, soweit diese Welt nicht gerade ärgerlich wurde. Aber sie fühlte, wie wohltuend dieser Gegensatz war, sie vergaß sogar ihre eigene Lage und hörte mit inniger Teilnahme auf den Bericht des Vaters. »Ich spreche mit einer Tochter,« sagte Herr Hummel, »die zu ihrem Vater zurückgeht, ich sage ihr, was ich niemandem sonst erzähle, mir ist's hart, zu ertragen, daß mein Kind mich verlassen will.« Er sprach über das Kind, welches sie beide liebten, und jeder von ihnen hatte Freude an dem andern. So verrannen einige Stunden.
Der Lakai kam wieder und fragte respektvoll die Frau Professorin, ob sie Gabriel weggeschickt.
»Er ist in meinem Auftrage ausgegangen,« brummte Herr Hummel gegen den Fragenden, »er besorgt für mich Geschäfte von Geldeswert, mit denen ich Ihre Ehrlichkeit nicht belästigen wollte. Wenn sich noch jemand aus der Stadt nach mir erkundigt, so bitte ich Sie zu befehlen, Frau Professorin, daß dieser Mann nicht auch mich verleugnet.«
Er sah wieder nach seiner Uhr. »Vier Stunden,« sagte er. »War das Pferd gut und hat Gabriel sich nicht in der Finsternis verirrt, so können wir ihn jeden Augenblick erwarten. Ist's ihm nicht geglückt, so seien Sie immer ohne Sorgen, ich führe Sie doch aus dem Hause.« Unten schellte es, die Haustür wurde geöffnet, Gabriel trat ein. Die Freude lachte aus seinem Gesicht. »Punkt zehn Uhr hält der Wagen vor der Herberge,« sagte er vorsichtig, »ich bin schnell vorausgeritten.«
Ilse sprang auf, wieder flog der Schreck des Tages, die Sorge um die Zukunft durch ihr Haupt. »Bleiben Sie sitzen,« mahnte Hummel wieder, »starkes Umhergehen ist verdächtig, ich halte unterdes mit Gabriel hier daneben noch einmal Rat.« Diese Beratung währte lange Zeit, endlich kam Herr Hummel zurück und sagte ernsthaft: »Jetzt, Frau Professorin, machen Sie sich bereit; wir haben eine Viertelstunde zu gehen, lassen Sie sich unser Tun ruhig gefallen, es ist alles sorgfältig bedacht.«
Herr Hummel schellte, Gabriel, der zu dem Späher im Unterstock zurückgekehrt war, trat ein wie gewöhnlich, er zog Schlüssel und einen Schraubenzieher aus der Tasche. »Ich habe die kleine Hintertreppe schon in den ersten Wochen verschlossen und die Tür mit einer großen Schraube gesperrt, die Leute wissen nicht, daß ich die Schlüssel habe.« Er ging in einen Nebenraum der Hinterstube und öffnete den Zugang einer verborgenen Treppe. Herr Hummel schlich ihm nach. »Ich will wissen, wo ich wieder eingelassen werden soll,« sagte er zurückkehrend zu Frau Ilse. »Wenn ich Sie hinausgeführt habe, muß hier jemand als Ihr Geist umherpoltern, sonst dürfte die ganze Mühe vergeblich sein. Gabriel führt Sie die Hintertreppe hinab, während ich zur Vordertür hinausgehe und den Lakaien unterhalte. Ich treffe Sie eine kurze Strecke von diesem Hause im Gebüsch, Gabriel führt Sie zu mir; ich werde mich zurechtfinden.« Ilse faßte ängstlich seine Hand. »Ich hoffe, alles soll gut gehen,« sagte Herr Hummel bedächtig. »Sorgen Sie für einen Mantel, der Sie so unkenntlich macht als möglich.«
Ilse flog an den Schreibtisch und schrieb mit fliegender Eile die Worte: »Lebe wohl, Geliebter, ich gehe zum Vater.« Noch einmal überkam sie der Schmerz, sie rang die Hände und weinte. Hummel stand achtungsvoll zur Seite, endlich legte er die Hand auf ihre Schulter: »Die Zeit verrinnt.« Ilse sprang auf, schloß den Zettel in ein Kuvert, reichte ihn Gabriel und verhüllte schnell ihr Haupt. »Jetzt vorwärts,« mahnte Herr Hummel mit leisem Gebrumm, »zu beiden Türen hinaus. Ich gehe zuerst. Ich empfehle mich Ihnen, Frau Professorin,« rief er laut durch die offene Tür zurück, »wünsche wohl zu ruhen.« Wuchtig schritt er die Treppe hinab, der Lakai stand auf den letzten Stufen. »Kommen Sie einmal her, Jüngling,« rief Hummel, »ich wünsche Sie nach Ihrem Tode ausgestopft und vor dem Rathause ausgestellt als ein Musterbild von Wahrheitsliebe für spätere Zeiten. Wenn ich wiederkomme, und verlassen Sie sich darauf, ich werde mir das Vergnügen machen, Ihnen meine Hochachtung auszusprechen, dann will ich dem Herrn Professor die ganze Erbärmlichkeit Ihres Daseins enthüllen. Ich habe große Lust, Ihre Nichtsnutzigkeit im hiesigen Tageblatte bekanntzumachen, damit Sie zur Vogelscheuche werden für jedermann.«
Der Diener hörte mit gesenkten Augen zu und verneigte sich spöttisch. »Gute Nacht, Höfling,« rief Herr Hummel hinausgehend und schlug die Tür hinter sich zu.
Herr Hummel wandelte im Geschäftsschritt vom Hause abwärts zur linken Seite, wo ein Pfad in das Dickicht führte; dort verbarg er seine Gestalt dem trüben Licht der Laternen. Der Regen strömte und der Wind rauschte in den Gipfeln. Herr Hummel sah sich vorsichtig um, als er in die dichte Finsternis des Platzes trat, an welchem einst Gabriel und der Prinz von den Gespenstern des Schlosses zueinander gesprochen. Ein leises Rascheln im Gebüsch, eine hohe Gestalt trat zu ihm und faßte seinen Arm. »Gut,« sagte Herr Hummel leise, »vorläufig gerettet. Schnell zurück, Gabriel, und erwarten Sie mich zur Zeit. Wir aber suchen dunkle Wege und meiden die Laternen, im Hellen verbergen Sie Ihr Gesicht unter dem Schleier.« Ilse schritt am Arm ihres Hauswirts hinein in die Nacht, gedeckt durch den großen Schirm, welchen Herr Hummel über sie hielt.
Im Rücken der Flüchtigen schlugen die Turmglocken die zehnte Abendstunde, als sich die Umrisse der letzten Herberge vor dem Tor von dem düstern Himmel abhoben. »Nicht früher, nicht später,« sagte Herr Hummel und hemmte den Schritt der eilenden Begleiterin. In demselben Augenblick kam ihnen ein Wagen langsam aus der Finsternis entgegen. Ilses Arm zuckte. »Ruhig,« bat Herr Hummel, »sehen Sie nach, ob das Ihre Freunde sind.«
»Ich erkenne die Blässe,« flüsterte Ilse atemlos. Herr Hummel trat an den verdeckten Kutschersitz, auf welchem zwei Männer saßen, und fragte mit schnell erfundener Losung: »Kröten?«
»Dorf,« antwortete eine feste Stimme. Der Oberamtmann sprang zu Ilse herab, in dem Wagen rührte sich's, ein Zipfel der Lederdecke wurde geöffnet, eine kleine Hand fuhr heraus. Hummel ergriff und schüttelte sie. »Als Zugabe angenehm,« sagte er. Ohne ein Wort zu sprechen, knöpfte der Oberamtmann die Lederdecke auf. »Meine liebe Freundin,« rief von innen eine zitternde Frauenstimme. Ilse wandte sich zu Herrn Hummel. »Keine Worte,« sagte dieser, »gute Fahrt.« Ilse wurde hineingeschoben, die Frau Oberamtmann faßte Ilses Arm und hielt ihn kräftig fest. Während Oberamtmann Rollmaus das Leder wieder zuknöpfte, begrüßte ihn Herr Hummel. »Ich freue mich,« sagte er. »Für Austausch der Namen ist die Gelegenheit nicht günstig. Auch ist unsere Klasse in der Naturgeschichte nicht dieselbe, aber die Pünktlichkeit zu rechter Stunde war gegenseitig und der gute Wille.« Der Oberamtmann schwang sich wieder auf den Kutschersitz und ergriff die Zügel. Er wendete den Wagen, Herr Hummel klopfte noch einmal an das nasse Leder, gemächlich trabten die Pferde ins Freie, dann hörte Herr Hummel einen kurzen Zuruf, mit gestrecktem Lauf ging es in die Finsternis hinein.
Hummel sah dem Wagen nach, bis dieser durch den dichten Regenschleier verdeckt war, warf noch einen prüfenden Blick auf die leere Straße und eilte wieder der Stadtgegend zu, in welcher das Schloß lag. Durch die entlegenen Teile der Anlagen suchte er den Pavillon; an derselben Stelle, wo Gabriel die Herrin ihm übergeben hatte, tauchte er in den tiefen Schatten der Bäume und tappte vorsichtig durch das nasse Gebüsch bis an die Hinterseite des Hauses. Er fühlte sich an der Wand entlang. »Setzen Sie sich auf die Schwelle,« flüsterte Gabriel, »ich ziehe Ihre Stiefel aus.«
»Kann diese Hoftoilette mir nicht erspart werden?« summte Hummel, »Strumpfhosen sind gegen meine Natur.«
»Alles ist umsonst, wenn man Sie auf der Treppe hört.«
Hummel schlich hinter Gabriel die Treppe hinauf in finstere Stuben. »Hier sind die Zimmer der Frau Professorin. Sie müssen im Dunkeln auf und ab gehen und zuweilen mit den Stühlen rücken, bis ich Sie rufe. Es ist jetzt noch ein anderer Aufpasser gekommen, sie sprechen unten miteinander, ich fürchte, sie haben einen Argwohn, daß wir etwas im Schilde führen, sie sehen mich sehr von der Seite an. Der Lakai trägt jeden Tag die Lampen aus den Wohnzimmern, daran darf nichts geändert werden, er schöpft Verdacht, wenn er nicht hört, daß jemand in den Nebenstuben umhergeht. Ist alles zur Ruhe, dann verläßt der Lakai das Haus, dann können wir miteinander sprechen.«
»Es ist gegen mein Gewissen, Gabriel,« brummte Hummel, »in einem fremden Hause ohne Erlaubnis des Eigentümers oder des Mieters zu verweilen.«
»Still,« mahnte Gabriel ängstlich, »ich höre den Mann auf der Treppe, schließen Sie hinter mir die Tür.«
Herr Hummel stand allein im Finstern, er setzte seine Stiefel neben den Lehnstuhl, umkreiste beide und gab ihnen zuweilen einen Ruck. »Immer zart,« dachte er, »denn es ist der Tritt einer Professorsfrau. Die Anforderungen, die in diesen Zeiten an einen Hausbesitzer gemacht werden, übersteigen alle Gedanken. Entführung aus fremden Häusern und Damenrollen in nächtlicher Finsternis.« Draußen hörte man die Schritte der Männer, er stieß an seine Stiefel. »Dunkelheit in fremdem Hause ist mitnichten wünschenswert,« fuhr er bei sich fort, »ich habe immer einen Haß gegen finstere Räume gehabt, seit ich einmal in ein Kellerloch fiel, dieser Nebel ist nur gut für Katzen und Spitzbuben. Das jämmerlichste aber für einen Bürger ist, wenn man ihm seine Stiefel vorenthält.« Er hörte einen leisen Tritt im Nebenzimmer, und wieder rückte er an dem Stuhl.
Endlich wurde es still im Hause, Herr Hummel setzte sich in dem Lehnstuhl zurecht und sah sich müde in dem fremden Zimmer um. Von draußen fiel durch einen Ritz der Vorhänge ein matter Lichtschein an die Wand, die Quaste eines Vorhanges, der vergoldete Knauf eines Sessels schimmerten in der Dunkelheit. Jetzt zog Herr Hummel unwiderruflich die Stiefel an und ergab sich noch eine Weile mißfälliger Beurteilung der Welt. Indes, seine Bürgerstunde war gekommen, und heut hatte ihn die Reise ermüdet. Er versank allmählich in träumerisches Sinnen, sein letzter deutlicher Gedanke war: »nur in dieser fürstlichen Finsternis nicht schnarchen.« Mit diesem Vorsatz schloß er die Augen und sagte den Sorgen der Welt Lebewohl.
Im Schlafe war ihm, als höre er ein leises Geräusch, er öffnete die Augen und blickte in dem Zimmer umher. Undeutlich nahm er wahr, daß eine Wand anders aussah als sonst. Der große Spiegel, welcher in die Wandfläche gefügt war, schien verschwunden, ihm kam vor, als ob eine verhüllte Gestalt in der Wand stehe und sich bewege. Er war ein beherzter Mann, aber der Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Er verschanzte sich hinter dem Stuhl. »Ist dies nur ein Schattenspiel,« begann er mit stockender Stimme, »so bitte ich, sich nicht stören zu lassen; ich bewundere die Kunst, aber ich trage meine Geldbörse nicht bei mir. Behaupten Sie aber ein Mensch zu sein, so fordere ich größere Deutlichkeit, ich fordere die landesüblichen Rundungen hinten und vorn. Ich selbst habe die Ehre, mich Ihnen bei dieser mangelhaften Beleuchtung vorzustellen. Hutfabrikant Heinrich Hummel, meine Legitimation ist in Ordnung, Reisepaß nach Paris.« Er fuhr mit der Hand nach der Brusttasche. »Da ein anständiger Bürger verpflichtet ist, sich in diesen gefährlichen Zeiten zu schützen, so steht in meinem Paß polizeilich bemerkt: avec un pistolet. Bitte dies freundlich zu berücksichtigen.« Er zog ein Taschenpistol heraus und hielt es vor sich. Wieder sah er nach der Stelle, nichts war zu sehen. Der Spiegel stand wie vorher. Er rieb sich die Augen. »Dummes Zeug,« sagte er, »es war am Ende nur eine verschlafene Einbildung.«
Draußen wurde die Haustür geschlossen. Noch eine Weile stand er, argwöhnisch umherblickend, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Endlich hörte er das Klopfen Gabriels an der Tür. Er öffnete, nahm ihm schnell das Licht aus der Hand, trat zu dem Spiegel und beleuchtete Rahmen und Wand. »Er steht eisenfest,« sagte er vor sich hin, »es war nur eine Täuschung.« Aber er ergriff doch eilig seinen Hut und zog den Diener aus dem Zimmer. »Für heut ist's genug,« brummte er, »ich wünsche, schnell aus diesem Hause geschafft zu werden. Mir ist nicht recht, daß Sie allein hier bleiben, Gabriel. Morgen früh suche ich Sie auf, ich habe den Tag über in der Stadt zu tun. Versuchen Sie zu schlafen, wir werden beide in unserm Bette an diesen Streich denken, und an sie, welche noch ein sicheres Dach sucht zum Schutz gegen Nachtwind und Gespenster.«
Ilse fuhr durch die Nacht. Um sie rauschte der Regen, der Sturm tobte durch die Bäume, hoch spritzte das Wasser aus den Gleisen um Pferde und Wagen. Nur zwischen den Gestalten der Männer auf dem Vordersitz sah sie ein Stück des Nachthimmels, der schwer und schwarz über der Flüchtigen hing. Zuweilen blickte ein Lichtfunke aus dem Fenster eines Hauses, dann wieder nichts als Regen, Sturm und schwarze Nacht. Die Nachbarin hielt immer noch ihre Hand, auch sie schwieg ängstlich während der unheimlichen Fahrt. Ilse fuhr hinein in die Welt, in eine lichtarme, sturmgepeitschte, tränenreiche Welt. Unsicherheit und bange Sorge überall, wenn sie an den Geliebten dachte, den sie in den Händen des Verfolgers zurückließ, wenn sie das bekümmerte Antlitz des Vaters vor sich sah und die Fluren des Gutes, wo der Jüngling weilte, dessen Nähe ihr jetzt mit neuem Schmerz drohte. Aber sie saß hochaufgerichtet. »Wenn er zurückkehrt zu der Tür, über welcher die schwarzen Engel schweben, dann wird er vergebens nach seinem Weibe fragen. Ich aber habe getan, was ich mußte, der Herr meines Lebens walte über mir.«
Hinter dem Wagen klang Hufschlag, er kam näher; wo sich der Feldweg zum Gute schied von der großen Landstraße, fuhr auf schäumendem Pferde ein Reiter heran, er rief denen auf dem Kutschersitz zu, Wagen und Reiter stürmten einige Augenblicke nebeneinander vorwärts, dann hielt der Reiter sein Roß zurück. Der Oberamtmann warf einen Baumzweig in den Wagen. »Den hat der Reiter für Frau Ilse hergebracht, er sei von dem Baum unter ihrem Fenster und die Rechnung sei bezahlt.«